„Ausrottungsbefehl“, Themen im Zusammenhang mit der Geschichte der Kirche
„Ausrottungsbefehl“
Ausrottungsbefehl
Ausrottungsbefehl (extermination order) ist die geläufige Bezeichnung für einen Erlass, der am 27. Oktober 1838 von Lilburn W. Boggs, dem Gouverneur von Missouri, während des Krieges mit den Mormonen in Missouri von 1838 unterzeichnet wurde.1 Mit dem Erlass sollte der Konflikt schnell beendet werden, indem die Mormonen „nötigenfalls ausgerottet oder aus dem Staat vertrieben“ wurden.2
Im Laufe des Jahres 1838 hatten Bürgermilizen, die den Mormonen feindlich gesinnt waren, die in Missouri angesiedelten Mitglieder der Kirche immer wieder bedroht und angegriffen. Im Oktober war die Staatsmacht im Nordwesten Missouris zusammengebrochen, und Gegner der Kirche zwangen die Mitglieder, ihre Häuser zu verlassen. Die Bitten der Heiligen, sie vor Angriffen des Pöbels zu schützen, stießen bei den örtlichen Milizen größtenteils auf taube Ohren. Die Mitglieder der Kirche ergriffen Maßnahmen zur Selbstverteidigung, und manche griffen mutmaßliche Hochburgen des Pöbels an. Sie brannten Häuser nieder und beschlagnahmten Warenvorräte. Als eine Abteilung der staatlichen Miliz am Crooked River auf einen Rettungstrupp von Mitgliedern der Kirche stieß, fielen Schüsse, und drei Mormonen und ein Nicht-Mormone kamen ums Leben.3
Durch den Zwischenfall sah sich die ohnehin aufgebrachte Lokalpresse veranlasst, übertriebene Berichte über Gewalt vonseiten der Mormonen zu verbreiten. Darüber hinaus fanden die Konflikte über 160 Kilometer von der Landeshauptstadt entfernt statt, was die Kommunikation erschwerte. Im gesamten Bundesstaat glaubten viele Menschen, dass die Mormonen offen Krieg führten. Gouverneur Boggs kam zu dem Schluss, dass die Mormonen „unverhohlen und erklärtermaßen die Gesetze“ missachteten und „gegen die Einwohner dieses Staates“ Krieg führten. Daher erließ er die Verordnung, mit der er die staatliche Miliz bevollmächtigte, dem angeblichen Aufstand Einhalt zu gebieten.4
General Samuel D. Lucas, der mit der staatlichen Miliz am Rande des Hauptsitzes der Kirche in Far West lagerte, erhielt den Befehl am 30. Oktober und rückte in die Stadt ein. Er verlangte von allen Mitgliedern der Kirche, ihren Besitz als Ausgleich für die Verluste unter den Nicht-Mormonen aufzugeben und den Bundesstaat unverzüglich zu verlassen. Nachdem er Joseph Smith festgenommen hatte, führte er ihn eilends einem Kriegsgericht vor und forderte seine Hinrichtung. Alexander Doniphan, der Offizier, der das Urteil vollstrecken sollte, hielt die Entscheidung für rechtswidrig und weigerte sich, sie in die Tat umzusetzen. Größtenteils machten die Mitglieder der Staatsmiliz jedoch von der in dem Befehl sanktionierten Gewaltandrohung Gebrauch, und die Heiligen zogen in Scharen fort nach Illinois.5
Es ist unklar, was Boggs mit seinem Befehl beabsichtigte. Vielfach wird angenommen, dass die Verordnung als Ausrottungsbefehl gemeint war und in direktem Zusammenhang mit dem Massaker von Hawn’s Mill steht, das drei Tage nach dem Erlass stattfand und bei dem siebzehn Mitglieder der Kirche umgebracht wurden. Doch das Massaker wurde nicht von der Staatsmiliz, sondern von einer den Mormonen feindlich gesinnten Meute verübt, und nichts deutet darauf hin, dass die Täter von dem Befehl des Gouverneurs wussten.
So, wie man den Begriff extermination zur damaligen Zeit verstand, war auch eine Zwangsevakuierung möglich. Bei der Zwangsübersiedlung der Indianer beispielsweise benutzten die Beamten der Vereinigten Staaten die Formulierung exterminating war (Vernichtungskrieg), um die Gewaltanwendung zum Zweck der „vollständigen Vertreibung“ oder „vollständigen Vernichtung“ der Indianer zu beschreiben.6 Die Führer des Militärs gingen davon aus, dass ein Vertreibungsbefehl auf gewaltsamen Widerstand stoßen werde. Daher war es durchaus möglich, dass es letztendlich zur „Vernichtung“ oder „Ausrottung“ kommen würde, obwohl eine Evakuierung wahrscheinlicher war.7
Obwohl die Öffentlichkeit geteilter Meinung war, stieß der Vertreibungsbefehl auf erhebliche Kritik. Einen Monat nachdem der Erlass unterzeichnet worden war, verfasste ein Abgeordneter, der nicht der Kirche angehörte, einen Leitartikel, in dem er den Einsatz der staatlichen Miliz gegen die Mormonen als Verletzung religiöser und bürgerlicher Rechte anprangerte. Nicht einmal zwei Monate später bezeichnete ein Mitglied des Parlaments von Missouri den Erlass als verfassungswidrig und schwor, dagegen vorzugehen, „selbst wenn er der einzige unter Zehntausend sein sollte“.8 Viele Gemeinschaften in Illinois gewährten den geflohenen Mitgliedern der Kirche Zuflucht und übten Kritik an der Verfolgung in Missouri. Die Gewalt gegenüber den Heiligen fand Ende 1839 nationale Beachtung, als sich eine von Joseph Smith geführte Delegation in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten um Rechtshilfe bemühte.9
In den hundert Jahren nach der Vertreibung des größten Teils der Heiligen lebten einige wenige Mitglieder der Kirche offenbar unbehelligt in Missouri. Mit der Zeit richtete die Kirche im ganzen Bundesstaat Zweige und Pfähle ein. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkannten immer mehr Menschen, dass staatliche Gewalt gegen Minderheiten unmoralisch ist. 1976 setzte Christopher S. Bond, der damalige Gouverneur von Missouri, den Erlass von Boggs offiziell außer Kraft, weil er „eindeutig das Recht auf Leben, Freiheit, Eigentum und Religionsfreiheit verletzt“, das in der Verfassung der Vereinigten Staaten und des Staates Missouri garantiert ist. Im Namen der Bürger Missouris brachte Bond sein „tiefes Bedauern für das Unrecht und das unverdiente Leid“ zum Ausdruck, das den Mitgliedern der Kirche aufgrund des Erlasses widerfahren war.10
Verwandte Themen: Krieg mit den Mormonen in Missouri 1838; Massaker in Hawn’s Mill; Selbstjustiz; Gefängnis zu Liberty; Gewalt im Kreis Jackson