2008
Entwickeln wir Eigenschaften, wie Christus sie hat
Oktober 2008


Botschaft von der Ersten Präsidentschaft

Entwickeln wir Eigenschaften, wie Christus sie hat

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President Dieter F. Uchtdorf

In meiner Berufslaufbahn als Pilot haben mich manchmal Passagiere im Cockpit meines Flugzeugs besucht. Sie erkundigten sich nach den vielen Schaltern und Instrumenten, nach den Systemen und Verfahren und wollten wissen, wie all diese Technik helfen würde, dass sich dieses große und schöne Flugzeug in die Lüfte erhebt.

Ich erklärte dann, dass die aerodynamische Form, viele Hilfsprogramme und -systeme und starke Motoren nötig sind, damit die Flugmaschine ihren Passagieren auf dem Flug Sicherheit und Bequemlichkeit bieten kann.

Um die Erklärung einfach zu halten, konzentrierte ich mich dann auf das Wesentliche und fügte hinzu: Eigentlich braucht man nur einen starken Vortrieb, einen kräftigen Auftrieb und die richtige Fluglage, und dann tragen die Naturgesetze die Maschine samt ihren Passagieren sicher über Kontinente und Meere, über hohe Berge und durch gefährliche Gewitter bis zu ihrem Bestimmungsort.

Als ich über diese Gespräche mit den Cockpitbesuchern nachgedacht habe, ist mir der Gedanke gekommen, dass uns die Mitgliedschaft in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage vor ähnliche Fragen stellt. Was sind die wesentlichen, die fundamentalen Grundsätze unserer Mitgliedschaft im Reich Gottes auf Erden? Was trägt uns letztlich in Zeiten größter Not bis zu unserem ewigen Ziel?

Das unveränderliche Wesen des Evangeliums

Die Kirche mit all ihren Programmen und ihrer Organisation bietet den Mitgliedern vielerlei wichtige Aktivitäten, die darauf ausgerichtet sind, dass der Einzelne und die Familie Gott und den Mitmenschen dienen. Es hat jedoch mitunter den Anschein, als lägen uns die Programme und Aktivitäten mehr am Herzen als die wesentlichen Lehren und Grundsätze des Evangeliums. Programme, Verfahrensweisen, Richtlinien und Organisationsstrukturen helfen uns bei unserem geistigen Fortschritt hier auf der Erde, aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie sich ändern können.

Es ist gut zu wissen, dass sich das Wesen des Evangeliums – die Lehre und die Grundsätze – niemals ändert. Jedes Mitglied, das sich an die wesentlichen Evangeliumsgrundsätze hält, gewinnt dadurch Macht, Kraft und geistige Selbständigkeit.

Im Glauben steckt große Macht. Wir brauchen diese Kraftquelle in unserem Leben. Gott wirkt durch Macht, aber diese Macht wirkt meist als Folge unseres Glaubens. „Der Glaube [ist] ohne Werke nutzlos.“ (Jakobus 2:20.) Gott wirkt entsprechend dem Glauben seiner Kinder.

Der Prophet Joseph Smith erklärte: „Ich lehre sie richtige Grundsätze und sie regieren sich selbst.“1 Das ist doch eine wunderbar klare Aussage. Wenn wir uns bemühen, die wahren Evangeliumsgrundsätze zu verstehen, zu verinnerlichen und entsprechend zu leben, gewinnen wir an geistiger Selbständigkeit. Die geistige Selbständigkeit hat ihren Ursprung in einer grundlegenden Lehre der Kirche, nämlich dass Gott uns Entscheidungsfreiheit gewährt hat. Meiner Meinung nach ist die sittliche Entscheidungsfreiheit – neben dem Leben an sich – eine der größten Gaben, die Gott seinen Kindern gewährt.

Wenn ich mich mit der sittlichen Entscheidungsfreiheit und ihren ewigen Folgen befasse, wird mir bewusst, dass wir wahrhaftig Geistkinder Gottes sind und uns dementsprechend verhalten sollen. Diese Einsicht macht mir auch bewusst, dass wir als Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage zu einer großen weltweiten Familie der Heiligen gehören.

Die Kirche ist so strukturiert, dass sie äußerst flexibel auf Größe, Wachstum, Zusammensetzung und Bedürfnisse der einzelnen Gemeinden eingehen kann. Es gibt ein Programm für kleine Einheiten, die ganz einfach aufgebaut sind und weniger Versammlungen haben. Es gibt aber auch große Gemeinden mit vielen organisatorischen Möglichkeiten, einander zu dienen. All das gehört zu den inspirierten Programmen der Kirche, die den Mitgliedern helfen, zu Christus zu kommen und in ihm vollkommen zu werden (siehe Moroni 10:32).

All diese Varianten haben vor Gott den gleichen Wert, denn in jeder Einheit ist die Lehre vom wiederhergestellten Evangelium Jesu Christi dieselbe. Als ordinierter Zeuge für den Herrn Jesus Christus gebe ich Zeugnis: Jesus lebt, das Evangelium ist wahr, und es bietet für die persönlichen und die gemeinsamen Herausforderungen, vor die Gottes Kinder heute gestellt sind, die Antworten.

Die Stärke der Gläubigen

Im Jahr 2005 haben meine Frau und ich uns mit Mitgliedern der Kirche in vielen Ländern Europas unterhalten. In manchen Teilen Europas besteht die Kirche schon lange, ja, zum Teil schon seit 1837. Europa besitzt ein reiches Erbe an glaubenstreuen Mitgliedern. Derzeit haben wir auf diesem Kontinent über 400 000 Mitglieder. Zählte man all die Generationen mit, die im 19. und 20. Jahrhundert von Europa in die Vereinigten Staaten ausgewandert sind, wäre die Gesamtzahl leicht um einige Male größer.

Weshalb haben in den Anfangstagen der Kirche so viele glaubensstarke Mitglieder ihre Heimat verlassen? Da kann man mehrere Gründe nennen: Sie wurden verfolgt, sie wollten die Kirche in Amerika mit aufbauen, sie wollten ihre wirtschaftliche Lage verbessern, sie wollten nah bei einem Tempel leben, und es gibt noch viele weitere Gründe.

Europa spürt noch immer die Folgen dieses Exodus. Doch das Heranwachsen von mehreren Generationen glaubensstarker Mitglieder verleiht der Kirche zunehmend Stärke. Es gibt immer mehr junge Männer, junge Frauen und ältere Ehepaare, die dem Herrn auf Mission dienen; es gibt mehr Mitglieder, die im Tempel heiraten, und die Mitglieder sprechen unerschrockener und mit mehr Selbstvertrauen mit anderen über das wiederhergestellte Evangelium. Was die wahren Lehren Christi betrifft, so herrscht in den Ländern Europas und in vielen anderen Teilen der Welt eine geistige Leere. Dieses Vakuum muss, kann und wird in dem Maße durch die Botschaft des wiederhergestellten Evangeliums gefüllt werden, wie unsere Mitglieder mit größerem Mut und Glauben dieses Evangelium verkünden.

Wenn man sich die Verbreitung der Kirche in Europa anschaut, so gibt es Länder, wo die Kirche gerade einmal seit fünfzehn Jahren besteht. Während unseres Besuchs im Jahr 2005 sprach ich mit einem Missionspräsidenten, der in seiner Heimat Russland dient und selbst erst seit sieben Jahren der Kirche angehört. Er sagte mir: „In dem Monat, in dem ich mich taufen ließ, wurde ich gleich als Zweigpräsident berufen.“ Hatte er manchmal das Gefühl, er sei der Sache nicht gewachsen? Ganz bestimmt! Versuchte er, das volle Programm der Kirche einzuführen? Zum Glück nicht! Wie ist er in solch einem kleinen Zweig und in so kurzer Zeit ein so starkes Mitglied geworden? Er sagte: „Ich wusste von ganzem Herzen, dass die Kirche wahr ist. Die Lehre des Evangeliums erfüllte mir Herz und Sinn. Als wir uns der Kirche anschlossen, spürten wir, dass wir Teil einer Familie geworden waren. Dort herrschten Wärme, Vertrauen und Liebe. Wir waren zwar nur wenige, doch wir bemühten uns alle, dem Erretter nachzufolgen.“

Die Mitglieder unterstützten einander, sie taten, was sie konnten, und sie wussten, dass die Kirche wahr ist. Nicht durch die Organisation hatte er sich angesprochen gefühlt, sondern durch das Licht des Evangeliums, und dieses Licht gab ihm und den Mitgliedern dort Kraft.

In vielen Ländern ist die Kirche gerade erst dabei, Fuß zu fassen. Dabei sind dort die organisatorischen Möglichkeiten alles andere als vollkommen, doch die Mitglieder haben im Herzen ein vollkommenes Zeugnis von der Wahrheit. Wenn die Mitglieder in ihrem Land bleiben und die Kirche trotz aller wirtschaftlichen Sorgen und Schwierigkeiten aufbauen, werden künftige Generationen diesen mutigen Pionieren unserer Zeit dankbar sein. Sie folgen der liebevollen Einladung der Ersten Präsidentschaft aus dem Jahr 1999. Ich zitiere:

„In unserer Zeit hat der Herr es für weise erachtet, die Segnungen des Evangeliums, einschließlich der zunehmenden Anzahl von Tempeln, in viele Länder der Welt gelangen zu lassen. Wir möchten daher nochmals den schon lange bestehenden Rat an die Mitglieder der Kirche wiederholen, nämlich in ihrem Heimatland zu bleiben und nicht in die Vereinigten Staaten auszuwandern. …

Wenn die Mitglieder auf der ganzen Welt in ihrem Heimatland bleiben und mithelfen, die Kirche im eigenen Land aufzurichten, werden sie persönlich und die Kirche insgesamt große Segnungen empfangen.“2

Ich möchte für diejenigen unter uns, die in großen Gemeinden und großen Pfählen leben, ein Wort der Vorsicht hinzufügen. Vor einem müssen wir uns hüten: Gründen wir unsere Überzeugung nicht auf die nette Gemeinschaft mit vielen Mitgliedern oder auf hervorragende Aktivitäten, Programme und Organisationen in der Gemeinde und im Pfahl. All das ist wichtig und es ist schön, wenn man es hat. Aber es reicht nicht aus. Selbst Freundschaft ist nicht genug.

Sicherheit durch Gehorsam

Wir wissen, dass wir in einer Welt voller Katastrophen, Aufruhr und Kriege leben. Heutzutage herrscht großes Verlangen nach einem Zufluchtsort. Wir brauchen Schutz und eine „Zuflucht … vor dem Sturm und vor dem Grimm, wenn diese unvermischt über die ganze Erde ausgegossen werden“ (LuB 115:6). Wo finden wir solch einen Zufluchtsort? Präsident Gordon B. Hinckley (1910–2008) hat gesagt: „Unsere Sicherheit liegt in einem tugendhaften Leben. Unsere Stärke liegt in unserer Rechtschaffenheit.“3

Erinnern wir uns doch, wozu Jesus Christus seine Apostel zu Beginn seines irdischen Wirkens klar und deutlich aufgefordert hat: „Kommt her, folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen.“ (Matthäus 4:19.) Mit dieser Aufforderung begann auch das Wirken der Zwölf Apostel, und ich kann mir vorstellen, dass sie sich damals unzulänglich gefühlt haben. Ich möchte darauf hinweisen, dass Christus selbst uns hier etwas über seine wesentliche Lehre und die Prioritäten im Leben lehrt. Jeder Einzelne muss ihm zunächst wahrhaft nachfolgen, und wenn wir das tun, segnet uns der Erretter über unsere eigenen Fähigkeiten hinaus, sodass wir so werden können, wie er uns haben will.

Christus nachfolgen heißt, ihm ähnlicher zu werden; es heißt, von seinem Wesen zu lernen. Als Geistkinder des himmlischen Vaters haben wir das Potenzial, Eigenschaften, wie Christus sie hat, zu einem Teil unseres Lebens und unseres Wesens zu machen. Jesus Christus lädt uns ein, sein Evangelium kennenzulernen, indem wir seine Lehren in die Tat umsetzen. Ihm nachfolgen heißt, richtige Grundsätze anzuwenden und dann mit eigenen Augen den Segen, der daraus erwächst, zu erkennen. Das ist zugleich sehr kompliziert und ganz einfach. Die Propheten vor alters wie in unseren Tagen haben es mit drei Wörtern ausgedrückt: „Haltet die Gebote!“ Nicht mehr und nicht weniger.

Eigenschaften Christi in uns aufzunehmen ist nicht einfach, besonders wenn wir über das Allgemeine und Abstrakte hinausgehen und uns dem wirklichen Leben zuwenden. Wir müssen uns prüfen, ob wir nach dem leben, was wir verkündigen. Die Probe aufs Exempel findet dann statt, wenn wir Eigenschaften Christi an den Tag legen müssen: Als Ehemann oder Ehefrau, als Vater oder Mutter, als Sohn oder Tochter, in der Freundschaft, auf der Arbeit, im Geschäftsleben und in der Freizeit. Nicht nur wir selbst, sondern auch unsere Mitmenschen werden erkennen, wie wir immer besser lernen, in aller Heiligkeit vor dem Herrn zu handeln (siehe LuB 43:9).

In den heiligen Schriften werden einige Eigenschaften Christi genannt, die wir im Laufe unseres Lebens entwickeln müssen, darunter Erkenntnis und Demut, Nächstenliebe und Liebe, Gehorsam und Eifer, Glaube und Hoffnung (siehe LuB 4:5,6). Diese Charaktereigenschaften sind unabhängig von der Gemeindegröße, unserer finanziellen Situation, unserem Familienstand, unserer Kultur, Rasse oder Sprache. Eigenschaften, wie Christus sie hat, sind Gaben von Gott. Sie können nicht ohne seine Hilfe entwickelt werden.

Vertrauen wir auf seine Macht

Die eine Hilfe, die wir alle brauchen, empfangen wir ohne unser Zutun durch das Sühnopfer Jesu Christi. Glaube an Jesus Christus und sein Sühnopfer bedeutet, uns uneingeschränkt auf ihn zu verlassen, auf seine grenzenlose Macht, Intelligenz und Liebe zu vertrauen. Die Eigenschaften Christi kommen in unser Leben, wenn wir unsere Entscheidungsfreiheit rechtschaffen gebrauchen. Glaube an Jesus Christus führt zu Taten. Wenn wir Glauben an Christus haben, vertrauen wir dem Herrn so sehr, dass wir seine Gebote befolgen – auch wenn wir den Grund für diese Gebote nicht immer ganz verstehen. Wenn wir nach den Eigenschaften Christi trachten, müssen wir regelmäßig unsere Lebensführung überprüfen und uns auf dem Weg wahrer Umkehr ganz auf das Verdienst Jesu Christi und auf die Segnungen seines Sühnopfers verlassen.

Es kann ein schmerzlicher Prozess sein, die Eigenschaften Christi zu entwickeln. Wir müssen bereit sein, Weisung und Zurechtweisung vom Herrn und von seinen Dienern anzunehmen. Wir fühlen und empfangen zum Beispiel durch die regelmäßigen weltweiten Konferenzen der Kirche mit ihrer Musik und dem gesprochenen Wort geistige Macht, Weisung und Segnungen „aus der Höhe“ (siehe LuB 43:16). Es ist eine Zeit, in der die Stimme persönlicher Inspiration und Offenbarung unserer Seele Frieden bringt und uns lehrt, wie wir mehr wie Christus werden können. Diese Stimme ist angenehm wie die eines lieben Freundes und sie erfüllt uns die Seele, wenn das Herz hinreichend zerknirscht ist.

Indem wir mehr wie Christus werden, gelingt es uns immer besser, „reich [zu werden] an Hoffnung in der Kraft des Heiligen Geistes“ (Römer 15:13). Wir legen die Dinge dieser Welt ab und streben nach denen einer besseren Welt (siehe LuB 25:10).

Dies bringt mich zurück zu meiner Analogie von der Aerodynamik. Ich sprach von der Konzentration auf das Wesentliche. Das Wesentliche sind Eigenschaften, wie Christus sie hatte. Sie sind die fundamentalen Grundsätze, die den „Wind unter unseren Flügeln“ entfachen. Wenn wir Schritt für Schritt Eigenschaften Christi in unser Leben aufnehmen, dann tragen sie uns empor „wie auf Adlerflügeln“ (siehe LuB 124:18). Unser Glaube an Jesus Christus gibt uns Kraft und wird zum starken Vortrieb, unsere unwandelbare und aktive Hoffnung wird zum mächtigen Auftrieb. Glaube und Hoffnung tragen uns über Meere der Versuchung, über Berge der Anfechtung hinweg und bringen uns sicher zurück zu unserem ewigen Zuhause und zu unserer Bestimmung.

ANMERKUNGEN

  1. Zitiert von John Taylor in „The Organization of the Church“, Millenial Star, 15. November 1851, Seite 339

  2. Schreiben der Ersten Präsidentschaft, 1. Dezember 1999

  3. „Bis aufs Wiedersehn“, Liahona, Januar 2002, Seite 105