Geschichte der Kirche
Wahrheit und Rechtschaffenheit


„Wahrheit und Rechtschaffenheit“, Kapitel 10 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019

Kapitel 10: „Wahrheit und Rechtschaffenheit“

Kapitel 10

Wahrheit und Rechtschaffenheit

Bild
Tropisches Tal mit üppiger Vegetation

George Q. Cannon umklammerte seine Reisetasche, als er in einen Fluss trat, der sich durch das grüne Tal ʻLao auf der Insel Maui wand. Es war der 8. März 1851 und die Regenzeit in Hawaii ging dem Ende zu. Vier Tage zuvor hatte er seine Unterkunft in Lahaina verlassen und war die Küste entlang Richtung Norden gegangen. „Ich muss unter die Einheimischen gehen und anfangen, ihnen zu predigen“, hatte er den anderen Missionaren gesagt. Er wollte unbedingt sein Hawaiianisch verbessern und Zeugnis geben. Der Herr hatte ihm offenbart, dass es auf Maui Menschen gab, die bereit waren, die Wahrheit zu empfangen. George wusste nicht, wer sie waren, aber er ging davon aus, dass er sie erkennen würde, sobald er sie gefunden hatte.

Er hatte inzwischen schon über sechzig Kilometer zurückgelegt, jedoch ohne Erfolg. Angesichts finsterer Gewitterwolken und sintflutartiger Regenfälle fragte er sich, ob er vielleicht die falsche Jahreszeit für diese Reise gewählt hatte.

Als George weiter in den Fluss hineinwatete, rutschte er aus und fiel ins Wasser. Er rappelte sich wieder auf, kroch aus dem Wasser und stieg einen nahegelegenen Hügel nach Wailuku hinauf, einem kleinen Ort mit ein paar Häusern, einer Schule für Frauen und einer hohen Kirche aus Lavagestein.1

Mehrere protestantische Missionare lebten in dem Ort, und George wollte ihnen Zeugnis geben. Aber er war müde und wegen seiner nassen, schmutzigen Kleider verlegen. Vielleicht wäre es besser, nach Lahaina zurückzukehren, sagte er sich, als bei so schlechtem Wetter zu versuchen, das Evangelium zu verkünden.

George fand die Straße, die aus dem Ort hinausführte, und machte sich auf den Heimweg. Er hatte Wailuku gerade hinter sich gelassen und Rast gemacht, um sein Hemd zu wechseln und sich zu rasieren, da überkam ihn plötzlich das Gefühl, er solle in den Ort zurückkehren. Schnell ging er denselben Weg zurück, und als er am Friedhof vorbeikam, traten zwei Frauen aus einem Haus. „E ka haole!“, riefen sie ins Haus. Oh, der weiße Mann!2

Drei Männer erschienen hinter ihnen an der Tür und gingen auf das Tor zu, als George gerade daran vorbeikam. Einer der Männer fragte ihn, wohin er gehe. George erklärte, dass er wegen des Wetters überlegt habe, nach Lahaina zurückzukehren. Der Mann meinte, es sei besser, ein paar Tage zu warten, und lud George als Gast in sein Haus ein.

Der Mann hieß Jonathan Napela. Er war ein angesehener Richter in der Gegend und einer der Aliʻi, also der Adligen der Insel. Er und die beiden anderen Männer, William Uaua und H. K. Kaleohano, waren an der besten Schule der Insel ausgebildet worden. Als George mit ihnen sprach, wusste er sofort, dass er die Menschen gefunden hatte, die Gott vorbereitet hatte.3

Am nächsten Tag erzählte George Napela vom Buch Mormon und vom Propheten Joseph Smith. „Das Buch Mormon soll die Bibel nicht ersetzen“, erläuterte er. „Wir beweisen das eine Buch anhand des anderen.“ Napela war an Georges Botschaft interessiert, erklärte aber, er wolle selbst wissen, ob sie wahr sei.4

George musste bald nach Lahaina zurück. Er versprach jedoch, nach Wailuku zurückzukehren und Napela und seinen Freunden noch mehr vom Evangelium zu erzählen. Er bezeugte, dass er ihnen die Wahrheit verkündet hatte, und forderte sie auf, sich weiter mit dem wiederhergestellten Evangelium zu befassen.

„Prüft alles“, sagte er, um die Bibel zu zitieren, „und behaltet das Gute.“5


Während George nach Lahaina zurückkehrte, bereitete sich Brigham Young auf einige Veränderungen im Salzseetal vor. Die Heiligen hatten den Kongress darum ersucht, eine Territorialregierung bilden zu dürfen. Nun riet Thomas Kane, der schon seit längerer Zeit mit den Heiligen befreundet war und ihnen geholfen hatte, das Mormonenbataillon aufzustellen, Brigham in einem Brief, eine neue Petition einzureichen, dass das Territorium ein Bundesstaat werden solle. Anders als bei einem Territorium, dessen oberste Regierungsbeamte zum Teil vom Präsidenten der Vereinigte Staaten ernannt wurden, konnten die Wähler in einem Bundesstaat ihre Regierung selbst wählen, was dem Volk mehr Einfluss verschaffte.6

Die gesetzgebende Versammlung formulierte rasch eine entsprechende Petition. Um sicherzustellen, dass diese den Kongress rechtzeitig erreichte, verfasste man auch einen Bericht über eine verfassungsgebende Versammlung, die gar nicht stattgefunden hatte, und sandte diesen mit den anderen Dokumenten an die Abgeordneten in Washington, D. C.7 Die Erste Präsidentschaft hatte gehofft, Oliver Cowdery nach Washington entsenden zu können, damit er sich für die Eigenstaatlichkeit einsetzte, aber Oliver war bei einem Aufenthalt bei der Familie seiner Frau in Missouri krank geworden und im März 1850 gestorben. Phineas Young war an seiner Seite gewesen, als er starb.

„Sein letztes Zeugnis wird unvergessen bleiben“, hatte Phineas kurz darauf Brigham geschrieben. „Er sagte seinem Freund, Erlösung gebe es nur im Salzseetal und durch das Priestertum dort.“8

Als das Gesuch um Eigenstaatlichkeit in Washington eintraf, führte der Kongress gerade eine langwierige und kontroverse Debatte über die Sklaverei und deren Ausdehnung in die westlichen Gebiete, die man nach dem Krieg mit Mexiko hinzugewonnen hatte. Die Debatte überlagerte das Gesuch um Eigenstaatlichkeit, und schließlich richtete der Kongress im Großen Becken ein Territorium ein. Dieser Beschluss war Teil eines umfassenden Kompromisses, mit dem die gegnerischen Fraktionen in der Regierung beschwichtigt werden sollten.

Der Kongress lehnte den Namen Deseret ab und benannte das neue Territorium Utah, nach den Ute-Indianern. Utah war deutlich kleiner als das Gebiet, das die Heiligen vorgeschlagen hatten. Es hatte auch keinen Seehafen, umfasste aber dennoch weite Gebiete. Zur Zufriedenheit der Heiligen setzte der Präsident in über die Hälfte der obersten Regierungsämter Mitglieder der Kirche ein, unter anderem Brigham Young als Gouverneur. Die übrigen Posten gingen an Beamte außerhalb des Territoriums, die nicht der Kirche angehörten.9 Da zwei der drei Mitglieder des neu ins Leben gerufenen obersten Gerichtshofs des Territoriums zu diesen Beamten zählten, war die Befugnis der Heiligen, ihre eigenen Gesetze durchzusetzen, allerdings begrenzt.

Brigham und die Heiligen begrüßten die nach Utah entsandten Beamten im Sommer 1851 eher zurückhaltend. Es waren ehrgeizige Männer aus dem Osten, die nur widerstrebend in das abgelegene Territorium zogen. Die ersten Begegnungen zwischen den Heiligen und diesen Männern waren angespannt und schwierig. Wegen der Verfolgung, die die Heiligen schon erlitten hatten, waren sie Außenstehenden gegenüber argwöhnisch. Die Beamten wiederum fühlten sich bei ihrer Ankunft ignoriert und missachtet. Außerdem wussten sie nur wenig über die Heiligen und ihre Glaubensansichten, abgesehen von Gerüchten über Mehrehe in der Kirche.10

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Heiligen ihren Glauben an die Mehrehe noch nicht öffentlich verkündet. Als Joseph Smith vom Herrn geboten worden war, diesen Grundsatz zu befolgen, hatte ein Engel ihn angewiesen, dies für sich zu behalten und den Grundsatz nur den Heiligen bekanntzumachen, deren Treue unerschütterlich war. Schließlich war für die Mitglieder der Kirche damals die Monogamie die einzig legitime Form der Ehe, und jegliche andere Form wurde als schockierend empfunden. Der Herr hatte den Heiligen, die nach dem Grundsatz lebten, jedoch verheißen, sie ihres Gehorsams und ihrer Opfer wegen zu erhöhen.

Zum Zeitpunkt seines Todes hatte Joseph mehrere Frauen für Zeit und Ewigkeit geheiratet. An andere war er nur für die Ewigkeit gesiegelt worden, was bedeutete, dass die eheliche Beziehung erst im nächsten Leben begann. Er hatte zudem seinen engsten Vertrauten die Lehre von der Mehrehe kundgetan, und diese hatten nach seinem Tod die Ausübung der Mehrehe weiterhin geheim gehalten. Für Joseph und die Heiligen in den Anfangstagen war die Mehrehe ein feierlicher religiöser Grundsatz; es ging nicht darum, Begierden zu befriedigen.11

Als die Beamten im Sommer 1851 im Territorium eintrafen, war die Mehrehe in der Kirche schon weiter verbreitet, sodass es für die Heiligen schwierig war, ihre Lebensweise vor Besuchern zu verbergen. Ja, bei Festen und sonstigen Veranstaltungen lernten die Beamten die Frauen von Brigham Young und Heber Kimball kennen, die keinerlei Anstalten machten, ihre Beziehung zu ihrem Ehemann zu verheimlichen.12

Am 24. Juli 1851 nahmen die Beamten mit den Heiligen an der Festveranstaltung anlässlich des vierten Jahrestags der Ankunft der Pioniere im Salzseetal teil. Die Feier begann mit Kanonenfeuer, patriotischer Musik und einer Parade. General Daniel Wells, ein bekanntes Mitglied der Kirche und Befehlshaber der Miliz des Territoriums, sprach im Anschluss über die Prüfungen, die die Heiligen in der Vergangenheit überstanden hatten, und prophezeite einen Tag, da die Vereinigten Staaten gegeißelt werden würden, weil sie nicht bereit gewesen waren, der Kirche beizustehen.13 Den Heiligen gefiel die Rede, aber die Beamten sahen darin eine Beleidigung.

Mehrere Wochen später traf ein weiterer Beamter, Richter Perry Brocchus, aus den Oststaaten ein. Brocchus hatte seine Bestellung nach Utah in der Hoffnung angenommen, dass die Heiligen ihn als Vertreter in den Kongress wählen würden. Als er im Territorium ankam, musste er allerdings zu seiner Enttäuschung erfahren, dass ein Mitglied der Kirche namens John Bernhisel bereits gewählt worden war. Und als ihm dann die anderen Beamten über Daniel Wells’ Rede vom 24. Juli berichteten, war er aufgebracht und empört.

Im September verlangte Brocchus, bei einer Sonderkonferenz der Kirche sprechen zu dürfen. Er behauptete, er wolle um Spenden für ein Denkmal für George Washington, den ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten, bitten. Brigham war skeptisch, erklärte sich aber damit einverstanden, den Richter sprechen zu lassen.14

Brocchus lobte zunächst die Großzügigkeit der Heiligen. Er zitierte aus dem Buch Mormon und sprach davon, dass er ihnen zu Diensten sein und sie unterstützen wolle. Er ließ sich jedoch Zeit damit, zu seinem Anliegen zu kommen. Als er die Heiligen schließlich aufforderte, für das Denkmal zu spenden, gab er zu verstehen, dass die Frauen, die in Mehrehe lebten, diese aufgeben sollten, ehe sie etwas zu dem Fonds beisteuerten.15 „Sie müssen tugendhaft werden und auch Ihre Töchter dazu anhalten“, forderte er.16

Gekränkt verlangten die Versammelten, Brocchus solle sich setzen. Doch der Richter sprach weiter. Er verurteilte Daniel Wells’ Rede vom 24. Juli und beschuldigte die Heiligen der Illoyalität. „Die Regierung der Vereinigten Staaten hat Ihnen keinen Schaden zugefügt“, sagte er. „Missouri ist der Ort, an den Sie sich um Wiedergutmachung wenden müssen, ebenso Illinois.“17

Seine Worte trafen bei den Heiligen einen wunden Punkt. Was wusste er schon darüber, was sie in der Vergangenheit erlitten hatten? Ärgerliches Zischen und Rufen ertönte von den Versammelten, als die Heiligen Brigham Young aufforderten, zu den Beleidigungen Stellung zu nehmen.

Nachdem Brocchus seine Rede beendet hatte, erhob sich Brigham und schritt auf dem Podium hin und her.18 „Richter Brocchus ist entweder ungemein unwissend oder korrupt und verdorben“, dröhnte er. „Wir haben für den Staat und die Verfassung sehr viel übrig, aber nicht für die verdammten Halunken, die den Staat verwalten.“19


Weit entfernt von dem Aufruhr im Territorium Utah gedieh die Kirche im Südpazifik. Nachdem Addison Pratt und sein Mitarbeiter James Brown wochenlang festgehalten worden waren, erhielten sie schließlich vom französischen Gouverneur Tahitis die Erlaubnis, auf den Inseln zu bleiben, solange sie sich an bestimmte Beschränkungen hielten, was die Verkündigung des Evangeliums und die Führung und Verwaltung der Kirche anbelangte.

Nach den neuen Beschränkungen durften die Missionare der Kirche nichts gegen die vorherrschende Religion des Landes sagen oder sich in politische oder zivilrechtliche Fragen einmischen. Die Beschränkungen regelten außerdem, wie die Missionare ihren Lebensunterhalt bestreiten durften, und betrafen den Umgang mit abtrünnigen Mitgliedern der Kirche, den Landerwerb für die Kirche und das Abhalten von Versammlungen. Wenn sich die Missionare nicht an diese Vorschriften hielten, konnten sie des Landes verwiesen werden.20

Addison trug James auf, sich um einen Zweig in der Nähe zu kümmern, während er nach Tubuai zurückkehrte, um dort seine Familie wiederzusehen und die Mission zu leiten. Die Bootsfahrt nach Tubuai dauerte sieben Tage. Als die Insel in Sicht kam, holte Addison ein Fernglas hervor und sah seine Töchter am Strand stehen, die ebenfalls mit einem Fernglas in der Hand erwartungsvoll in seine Richtung blickten. Bald darauf sah man auf der Insel Rauchfahnen aufsteigen. Die tubuaianischen Heiligen hatten damit begonnen, ein Fest für seine Ankunft vorzubereiten.

Als sich das Boot der Insel näherte, kam man Addison mit einem Kanu entgegen, um ihn von Bord zu holen. Addison, der es kaum erwarten konnte, seine Familie wiederzusehen, wollte schon ins Kanu springen, da hielt ihn der Schiffsseelsorger zurück. „Niemand soll das Schiff verlassen, bevor wir dem Herrn nicht gedankt haben“, sagte er.

Addison kniete sich mit den anderen Passagieren nieder, und der Seelsorger sprach ein Gebet. Sobald Addison das Wort „Amen“ hörte, sprang er in das Kanu und wurde bald darauf von seiner Familie und seinen Freunden in die Arme geschlossen. Wieder war Addison überrascht, wie sehr seine Töchter gewachsen waren. Alle schienen wohlauf und bereit, seine sichere Ankunft zu feiern. Louisa war erleichtert, ihn wieder bei sich zu haben.

„Ich war auf der Überfahrt von Kalifornien hierher furchtbar seekrank“, erzählte sie ihm frei heraus, „aber jetzt bin ich wieder gesund und frohgemut.“

Addison zog ins Haus seiner Familie, das einen kleinen umzäunten Garten hatte. Benjamin Grouard und die anderen Missionare bauten in einem Ort in der Nähe ein Schiff, die Ravaai, damit sie die weiter entfernten Inseln der Mission besuchen konnten. Addison machte sich bald daran, Segel für das Schiff anzufertigen.21

Louisa hielt derweil zusammen mit ihrer Schwester Caroline im Gemeindehaus der Heiligen, einem zugigen Raum mit sechs großen Fenstern an jeder Seite, Schulunterricht ab. Die Unterrichtsstunden begannen früh am Morgen. Louisa übte mit zappeligen Jungen und Mädchen Englisch und brachte ihnen die Zahlen, Wochentage und Monate bei. Dafür verbrachten die Heiligen aus Tubuai ihre Abende damit, Louisa und den anderen Missionaren Tahitianisch beizubringen.22

Louisa war von deren Glauben sehr beeindruckt. Sie hatten Freude daran, zu beten und in der Bibel zu lesen. Sie standen oft vor Sonnenaufgang auf und riefen ihre Familie zu einer Morgenandacht zusammen. An jedem Sabbat erklang morgens um sieben eine Glocke, und etwa einhundert Heilige versammelten sich mit einer Bibel unter dem Arm im Gemeindehaus. Für das Abendmahl verwendeten sie manchmal Früchte und Kokosnusswasser.23

Viele Heilige auf Tubuai hätten sich gern den Heiligen in den Vereinigten Staaten angeschlossen, aber keiner konnte sich die teure Reise leisten. Als eine Missionarsfamilie mit Namen Tompkins beschloss, nach acht Monaten auf der Insel nach Hause zurückzukehren, bat Addison sie, Gelder zu sammeln, damit die Heiligen von den Inseln sich in Südkalifornien sammeln konnten.24

Nachdem die Heiligen die Ravaai fertiggestellt hatten, verteilten sich die Missionare über die Inseln. Ellen begleitete Addison auf seiner Reise, während Louisa zurückblieb, um weiter zu unterrichten. Addison und Ellen kehrten sechs Wochen später wieder zurück. Louisa begleitete ihren Mann oft bei seinem geistlichen Wirken auf der Insel und hatte dadurch Gelegenheiten, die Sprache zu üben und über das Werk des Herrn nachzudenken.

Manchmal fragte sie sich, ob sie irgendetwas erreichte. „Ich hoffe, dass viel Gutes daraus entstehen wird, dass ich hierhergekommen bin, auch wenn es jetzt vielleicht noch nicht zu sehen ist“, schrieb sie. „Ich habe mich bemüht, guten Samen zu säen; die Früchte können vielleicht erst nach vielen Tagen geerntet werden.“25


Im Osten der Vereinigten Staaten löste Brigham Youngs donnernde Zurechtweisung von Richter Brocchus einen Aufruhr aus. Die Zeitungen beschuldigten die Kirche, sich offen gegen die Nation aufzulehnen. Ein Herausgeber empfahl, das Militär nach Utah zu entsenden, um es zu besetzen und den Frieden aufrechtzuerhalten.26

Die Nachrichten stammten von Brocchus selbst. Brigham hatte zwar nach der Konferenz versucht, mit ihm Frieden zu schließen, doch Brocchus hatte sich geweigert, sich bei den Heiligen zu entschuldigen, und hatte einen vernichtenden Bericht über Brighams Reaktion auf seine Rede geschrieben. „Die Unruhe, die durch seine Bemerkungen ausgelöst wurde, war wahrlich furchterregend“, schrieb Brocchus. „Es schien, als wären die Leute (also ein Großteil von ihnen) bereit, sich wie Hyänen auf mich zu stürzen und mich zu vernichten.“27

Die Deseret News, die Zeitung der Kirche, tat die Anschuldigungen als haltlos ab. Da die Erste Präsidentschaft aber erkannte, welchen Schaden Brocchus’ Bericht der Kirche zufügen könnte, bat sie Thomas Kane um Hilfe – in der Hoffnung, er könne mit seiner Begabung als Lobbyist und Autor einen Skandal verhindern.28 Mittlerweile hatten Brocchus und zwei weitere Beamte Utah verlassen und sofort damit begonnen, ihre Geschichten zu verbreiten und die öffentliche Meinung gegen die Heiligen aufzubringen.29

Thomas Kane erklärte sich bereit zu helfen. In enger Zusammenarbeit mit John Bernhisel, dem Abgeordneten Utahs im Kongress, bemühte er sich, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und anderen Regierungsbeamten die Sache aus Sicht der Heiligen zu schildern. Brigham entsandte auch Jedediah Grant, den Bürgermeister von Salt Lake City, einen treuen Heiligen der Letzten Tage, der kein Blatt vor den Mund nahm, um Thomas in Washington, D. C., zu unterstützen.30

Jedediah traf ein, bereit, die Kirche zu verteidigen. Die Öffentlichkeit war entschieden gegen die Heiligen. Viele riefen den Präsidenten auf, Brigham seines Amtes als Gouverneur zu entheben. Brocchus und die anderen Beamten hatten überdies einen detaillierten Bericht über ihre Amtszeit in Utah an den Präsidenten geschrieben. In dem Bericht wurde behauptet, dass Brigham und die Kirche die Region dominierten, über alles bestimmten, was die Mitglieder der Kirche dachten und besaßen, und die Polygamie praktizierten.31

Nachdem der Bericht veröffentlicht war, ging Jedediah mit einer Ausfertigung zu Thomas, und sie gingen ihn gemeinsam durch. Thomas las die Behauptungen über Polygamie und tat sie sogleich ab. Er war der Meinung, dies seien nichts als absurde Gerüchte.

Jedediah war unbehaglich zumute. Die Gerüchte seien nicht alle falsch, erklärte er Thomas. Ja, die Heiligen hätten eigentlich schon so lange, wie Thomas sie kenne, die Mehrehe ausgeübt.32

Thomas war fassungslos. Seit fünf Jahren mochte und verteidigte er die Heiligen und setzte dabei oft seinen Ruf für sie aufs Spiel. Warum hatten sie ihm nie gesagt, dass sie die Mehrehe praktizierten? Er fühlte sich hintergangen und gedemütigt.33

Thomas quälte sich tagelang wegen dieser Erkenntnis und war sich nicht sicher, ob er den Heiligen weiter beistehen konnte. Er ging davon aus, dass die Polygamie Frauen benachteiligte und die Einigkeit in der Familie bedrohte. Er war besorgt, dass sein Name für immer mit der Mehrehe in Verbindung gebracht werden würde, wenn er die Heiligen verteidigte.34

Aber er bewunderte die Heiligen auch und schätzte ihre Freundschaft. Er wollte den Unterdrückten und Missverstandenen in schwierigen Zeiten beistehen und konnte die Heiligen jetzt nicht im Stich lassen.35

Am 29. Dezember schrieb Thomas an John Bernhisel und unterbreitete ihm einen Plan, wie man den Bericht der Beamten entkräften konnte. „Da ich mich immer noch voller Respekt und Freundschaft mit Ihnen verbunden fühle“, schrieb er, „bin ich bereit, Ihnen zu helfen, wenn Sie dies wünschen.“

Er bat die Heiligen jedoch inständig um zweierlei: Sie sollten aufhören, die Mehrehe zu verheimlichen, und sie der Öffentlichkeit erklären.36


Nach einem Jahr auf Tubuai fühlten sich Louisa Pratt und Caroline Crosby in der tahitianischen Sprache sicher genug, um mit den Frauen der Kirche regelmäßig Gebetsversammlungen abzuhalten. Bei diesen Versammlungen sangen die Frauen gemeinsam Kirchenlieder und sprachen über das Evangelium. Louisa und Caroline schlossen die Frauen ins Herz, insbesondere Königin Pitomai, die Frau des Königs Tamatoa von Tubuai.

Da Ellen Pratt die Sprache schnell gelernt hatte, verließen sich ihre Mutter und ihre Tante oft darauf, dass sie in den Gebetsversammlungen für sie dolmetschte. Bei der Versammlung am 30. Oktober sang Caroline mit zwei Insulanerinnen das Anfangslied jedoch auf Tahitianisch, und Louisa hielt eine Predigt auf Tahitianisch.

Ihr Thema war das Buch Mormon. Sie hatte ihre Ansprache vor der Versammlung aufgeschrieben, und Benjamin Grouard hatte sie ins Tahitianische übersetzt. Die Frauen im Raum schienen sie zu verstehen, als Louisa die Ansprache vorlas. Anschließend baten sie sie, ihnen mehr über die Nephiten aus alter Zeit zu erzählen.

Je sicherer Louisa im Tahitianischen wurde, desto sehnlicher wünschte sie sich, das Evangelium zu verkünden. Eines Tages, kurz nach ihrem neunundvierzigsten Geburtstag, sprach sie zu einer Gruppe Frauen über die Taufe für die Verstorbenen und war selbst überrascht, wie gut sie sich ausdrücken konnte. „Wir wissen kaum, was in uns steckt, solange wir uns nicht gründlich anstrengen“, meinte sie nachdenklich. „Ich habe in meiner zweiten Lebenshälfte eine neue Sprache gelernt.“37

Mehrere Wochen später, am 29. November, lief die Ravaai auf ihrem Weg zu anderen Inseln Tubuai an. Einer der Missionare an Bord war James Brown, der wieder Gefangener der französischen Regierung Tahitis war. Er war auf dem Anaa-Atoll verhaftet worden, nachdem französische Priester gehört hatten, dass er die Heiligen dort aufgefordert hatte, sich in den Vereinigten Staaten zu sammeln. Da sie seine Aussagen für politisch hielten, verhafteten französische Beamte ihn wegen Aufwiegelung und verbannten ihn aus dem Land.

James dachte, er müsse bei Brot und Wasser auf der Ravaai bleiben, bis die Mannschaft ihn auf einer Insel außerhalb der französischen Gerichtsbarkeit absetzte. Doch Königin Pitomai kam an Bord des Schiffes und bat ihn an Land. „Das ist meine Insel“, meinte sie. „Ich übernehme die Verantwortung für alle Schwierigkeiten, die sich ergeben könnten.“

James blieb zehn Tage auf Tubuai, dann reiste er ab, um auf einer Insel zu predigen, die nicht der französischen Gerichtsbarkeit unterlag. Seine Verbannung war ein Beweis dafür, dass die französische Regierung strenger wurde und es ausländischen Missionaren verschiedener Glaubensgemeinschaften fast unmöglich machte, ihre Arbeit zu verrichten. Bald machten sich unter den Heiligen aus den Vereinigten Staaten Entmutigung und Enttäuschung breit, und das Heimweh tat ein Übriges. Sie sahen die Zeit gekommen, nach Hause zurückzukehren.38

Louisa kannte viele treue Heilige auf Tubuai, die sie in die Vereinigten Staaten begleiten wollten. Telii, die beste Freundin der Pratts, hatte vor, die Reise anzutreten, wurde aber durch familiäre Verpflichtungen auf der Insel davon abgehalten. Louisa hätte auch gern einige ihrer Schüler nach Salt Lake City gebracht, doch ihre Eltern wollten sie nicht gehen lassen. Andere, die gern gegangen wären, hatten nicht das Geld dafür.

„Nach unserer Rückkehr werden wir uns dafür einsetzen, dass ihr zum Hauptsitz der Kirche kommen könnt“, sagte Louisa den Frauen bei ihrer Gebetsversammlung am 11. März. „In der Zwischenzeit müsst ihr für euch und für uns beten.“39

Drei Wochen später kamen die Insulanerinnen zu ihrer letzten Gebetsversammlung mit Louisa und Caroline zusammen. Dass dies ihre letzte Zusammenkunft war, ging Caroline sehr nahe. Sie konnte sehen, dass einige der Frauen über ihre Abreise traurig waren. Doch der Heilige Geist war zugegen, und die Frauen sprachen und beteten miteinander bis spät in den Abend. Louisa verabschiedete sich von ihren Schülern und überließ sie Teliis Obhut. Caroline überreichte Königin Pitomai einen Quilt, den sie angefertigt hatte, und die Königin schenkte ihr ein hübsches Kleid.40

Am 6. April 1852 gingen die Missionare von Tubuai an Bord der Ravaai. Die Heiligen der Insel kamen zum Strand, um ihnen Lebewohl zu sagen und Proviant für die Reise zu bringen. „Seid getrost“, sagte Louisa zum Abschied. „Ich werde dafür beten, dass ihr irgendwann in der Zukunft zur Kirche Christi in Amerika kommen könnt, ja, nach Zion ins Tal der Rocky Mountains.“ Alle weinten und reichten sich ein letztes Mal die Hand.

Gegen vier Uhr nachmittags setzte die Ravaai Segel. Die tubuaianischen Heiligen wateten neben dem Schiff so weit möglich ins Meer hinaus und begleiteten die Missionare mit ihren Segenswünschen. Als das Schiff leise über das ruhige Wasser dahinglitt und die Insel allmählich den Blicken entschwand, lauschten die Missionare den kaum noch vernehmlichen Lebewohlrufen der Heiligen am Strand.

„‚Ia ora na ’outou.“ Friede sei mit euch.41


Ein paar Monate später kam Brigham mit seinen engsten Beratern in Salt Lake City zusammen. Dank Thomas Kane, John Bernhisel und Jedediah Grant war die Kontroverse mit den Territorialbeamten einstweilen beigelegt. Brigham blieb Gouverneur, und neue Staatsbeamte wurden entsandt, die Brocchus und andere, die Utah verlassen hatten, ablösen sollten. Doch die Führer der Kirche hatten immer noch keine offizielle Aussage zur Mehrehe gemacht, wie Thomas ihnen nahegelegt hatte.

Brigham dachte darüber nach, wie man es am besten bekanntgeben könnte, dass sie in Mehrehe lebten. Die Kirche hatte in Utah einen sicheren Hauptsitz und war so stark wie nie zuvor. Außerdem nahm die Mehrehe im Leben vieler Heiliger mittlerweile eine zentrale Rolle ein und prägte maßgeblich das Verständnis ihrer Bündnisbeziehung zu Gott und zu ihrer Familie. Die Ausübung der Mehrehe noch länger geheim zu halten schien unmöglich und auch überflüssig. Es war an der Zeit, die Öffentlichkeit einzubeziehen, und so beschloss man, den Heiligen und einem größeren Publikum bei einer bevorstehenden zweitägigen Konferenz zur Missionsarbeit genauer zu erklären, was es mit der Mehrehe auf sich hatte.42

Die Konferenz begann am 28. August 1852. An diesem Tag berief die Erste Präsidentschaft 107 Männer als Missionare nach Indien, Siam, China, Südafrika, Australien, Jamaika, Barbados und andere Orte in aller Welt. „Die Missionen, zu denen wir die Brüder auf dieser Konferenz berufen, werden in der Regel nicht sehr lange dauern“, scherzte George A. Smith. „Wahrscheinlich wird keiner von ihnen mehr als drei bis sieben Jahre von seiner Familie getrennt sein.“43

Von den Missionaren wurde erwartet, dass sie den Völkern der Welt das Evangelium Jesu Christi brachten. „Wahrheit und Rechtschaffenheit sollen euer Leitspruch sein“, empfahl ihnen Heber Kimball. „Geht mit keiner anderen Absicht in die Welt, als das Evangelium zu predigen, das Reich Gottes aufzubauen und die Schafe in die Herde zu sammeln.“44

Am folgenden Tag erhob sich Orson Pratt und hielt vor den Heiligen seine Predigt über die Mehrehe. Seine Worte sollten in den Deseret News veröffentlicht werden. Andere Zeitungen überall auf der Welt würden den Bericht dann schnell nachdrucken. Orson gestaltete die Predigt so, dass sie sich an die Missionare richtete und ihnen die Grundlagen der Lehre von der Mehrehe erläuterte, damit sie sie auf ihrer Mission erklären und verteidigen konnten.45

„Die Heiligen der Letzten Tage haben die Lehre von der Ehe mit mehreren Frauen als Bestandteil ihres Glaubens angenommen“, erklärte Orson am Rednerpult. „Wir werden uns bemühen, vor dieser erleuchteten Versammlung einige der Gründe, das Warum und Wozu, darzulegen.“46

Er sprach zwei Stunden lang und stützte sich dabei auf sein eigenes Verständnis der Mehrehe. In den heiligen Schriften waren nur wenige Aussagen über die Lehre von der Mehrehe zu finden. Die Bibel berichtete von rechtschaffenen Männern und Frauen wie Abraham und Sara, die den Grundsatz befolgten, ließ aber kaum erkennen, was ihre Beweggründe waren. Im Buch Mormon wurde jedoch erklärt, dass Gott den Menschen manchmal gebot, in Mehrehe zu leben, damit sie für ihn Kinder heranzogen.47

Orson erklärte den Versammelten, dass es bei der Mehrehe nicht um sexuelle Begierden gehe, wie viele Leute außerhalb der Kirche annahmen, sondern darum, das ewige Werk Gottes auf der Erde auszuführen. Von Zeit zu Zeit, so Orson, fordere der Herr sein Volk auf, die Mehrehe auszuüben, um sich zu mehren und die Erde zu füllen, gemeinsam die Verheißungen und Segnungen des Bundes mit Abraham zu erleben und mehr Geistkinder des himmlischen Vaters auf die Welt zu bringen. In solchen Familien konnten Kinder rechtschaffener Eltern das Evangelium lernen, heranwachsen und mithelfen, das Reich Gottes zu errichten.48

Orson merkte auch an, dass der Herr die Ausübung der Mehrehe mit strengen Gesetzen regelte. Nur der Prophet habe die Schlüssel für den Ehebund inne, und keiner könne ohne seine Zustimmung eine solche Trauung vollziehen. Außerdem werde von allen, die eine Mehrehe eingingen, erwartet, dass sie ihre Bündnisse hielten und ein rechtschaffenes Leben führten.49

„Wir können dieses umfassende Thema nicht annähernd erfassen“, erklärte Orson zum Schluss seiner Ausführungen. Die treuen Heiligen seien Erben all dessen, was Gott besitze, verkündete er. Indem sie ewige Ehebündnisse eingingen und hielten, könnten sie Familien heranziehen, so zahlreich wie der Sand am Meeresstrand.

„Ich möchte Gottes großem und heiligem Namen Halleluja zurufen“, bezeugte Orson, „denn er herrscht in den Himmeln, und er wird sein Volk erhöhen, damit es mit ihm auf Thronen der Macht sitzt und für immer und ewig herrscht.“50


Später am Tag sprach Brigham zu den Heiligen über Offenbarung. Er wies darauf hin, dass einige der Offenbarungen des Herrn zu dem Zeitpunkt, als sie gegeben wurden, nur schwer anzunehmen waren. Er erzählte, wie schwer es ihm selbst vor zwanzig Jahren gefallen war, Joseph Smiths Vision vom Leben nach dem Tod und von den drei Reichen der Herrlichkeit anzunehmen.51

„Als ich zum ersten Mal davon hörte, widersprach es einfach allem, was mir beigebracht worden war, allen traditionellen Vorstellungen“, gestand er ein. „Ich lehnte die Vision nicht ab, konnte sie aber auch nicht verstehen.“ Sein Glaube an die Offenbarung wuchs, als er sich an den Herrn wandte, um Klarheit zu erhalten. „Ich dachte nach und betete, las und sann nach, betete und machte mir Gedanken“, erzählte er den Heiligen, „bis ich es durch Visionen des Heiligen Geistes selbst erkannte und völlig verstand.“52

Anschließend gab Brigham Zeugnis für die Offenbarung des Herrn an Joseph Smith über die ewige Ehe und bezeugte, dass Gott der Kirche noch immer seine Worte offenbare. „Wenn es nötig wäre, sie niederzuschreiben, würden wir die ganze Zeit schreiben“, sagte er. „Wir möchten jedoch vielmehr, dass alle so leben, dass sie selbst Offenbarung empfangen und dann das Werk tun, zu dem wir berufen sind. Das genügt uns.“53

Im Anschluss verlas Brighams Sekretär, Thomas Bullock, vor der großen Versammlung die Offenbarung des Herrn zur Mehrehe. Die meisten Heiligen, auch diejenigen, die in Mehrehe lebten, hatten die Offenbarung nie zuvor gelesen. Einige freuten sich darüber, dass sie der Welt den Grundsatz endlich offen verkündigen konnten.54

Gleich nach der Konferenz kamen die neu berufenen Missionare zusammen, um ihre Instruktionen zu empfangen, bevor sie sich aufmachten, auf jedem bewohnten Kontinent das Evangelium zu predigen. Begeisterung erfüllte den Raum, als die Männer darüber nachdachten, dass das Werk des Herrn jetzt mit neuem Schwung dahinrollte. Da der Sommer schon fast vorüber war, durften sie keine Zeit verlieren.

„Ich möchte, dass ihr so schnell wie möglich aufbrecht“, sagte Brigham den Missionaren, „und die Prärie überquert, bevor Schnee fällt.“55