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36 Bewege sie dazu, sich zu sammeln


„Bewege sie dazu, sich zu sammeln“, Kapitel 36 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 1, Das Banner der Wahrheit, 1815–1846, 2018

Kapitel 36: „Bewege sie dazu, sich zu sammeln“

Kapitel 36

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Jerusalem

Bewege sie dazu, sich zu sammeln

Im Frühjahr 1841 warf Mary Ann Davis einen letzten Blick auf das Gesicht ihres Mannes, bevor der Deckel seines Sarges geschlossen wurde und seine Freunde seine sterblichen Überreste zu einer ruhigen Ecke des Kirchfriedhofs in Tirley in England trugen. Als er starb, war John Davis mit gerade einmal fünfundzwanzig Jahren in der Blüte seines Lebens gewesen. Während Mary in ihrem schwarzen Trauerkleid zusah, wie die Männer seinen Sarg davontrugen, fühlte sie sich plötzlich allein. In ihrem Dorf war sie jetzt die einzige Heilige der Letzten Tage.

John war wegen seiner Glaubensansichten gestorben. Er und Mary hatten sich ein Jahr zuvor bei einer Versammlung von Heiligen kennengelernt, nicht lange nachdem Wilford Woodruff im benachbarten Herefordshire hunderte der United Brethren getauft hatte. Weder sie noch John hatten an den Gottesdiensten der United Brethren teilgenommen, aber das wiederhergestellte Evangelium hatte sich in dem Gebiet rasch verbreitet und die Aufmerksamkeit vieler Menschen erregt.1

Mary und John hatten die Missionare willkommen geheißen und sie ihr Haus für ihre Arbeit nutzen lassen, denn sie hofften, in der Gegend eine Gemeinde gründen zu können. Die Britische Mission war immer größer geworden, und nach nur vier Jahren gab es in England und Schottland bereits über sechstausend Heilige.2 Sogar in London, wo Straßenprediger vieler Kirchen erbittert um Seelen warben, hatten die Missionare einen Zweig mit etwa vierzig Heiligen gegründet, der von einem jungen amerikanischen Ältesten namens Lorenzo Snow geleitet wurde.3

Der Widerstand blieb dennoch im ganzen Land stark. In den meisten Städten waren die Straßen von billigen Broschüren übersät, in denen alle möglichen religiösen Ansichten verkündet wurden.4 Einige davon waren Nachdrucke von Schriften aus den Vereinigten Staaten, die gegen die Mormonen gerichtet waren und in denen der Leser vor den Heiligen der Letzten Tage gewarnt wurde.5

In der Hoffnung, falsche Berichte richtigzustellen, hatte Parley Pratt angefangen, seine eigenen Broschüren zu verfassen und das Monatsblatt Latter-day Saints’ Millennial Star herauszugeben, in dem Nachrichten über die Heiligen in Nauvoo und ganz Großbritannien abgedruckt wurden. Auch hatte Brigham Young dafür gesorgt, dass für die britischen Heiligen ein Gesangbuch und das Buch Mormon gedruckt wurden.6

In Tirley waren Mary und John mit Feindseligkeit konfrontiert gewesen, sobald Missionare angefangen hatten, in ihrem Haus zu predigen. Rabiate Männer lösten immer wieder Versammlungen auf und verscheuchten die Missionare. Alles spitzte sich zu, bis die Männer dann eines Tages John zu Boden schlugen und erbarmungslos auf ihn eintraten. Davon erholte er sich nicht mehr. Kurze Zeit später stürzte er schwer und fing an, Blut zu husten. Die Missionare wollten das Paar besuchen, aber feindselige Nachbarn hielten sie davon ab. John musste das Bett hüten und wurde immer schwächer, bis er schließlich starb.

Nach der Beerdigung beschloss Mary, sich den Heiligen anzuschließen, die sich in Nauvoo gesammelt hatten. Mehrere Apostel, darunter Brigham Young und Heber Kimball, hatten kurz zuvor bekanntgegeben, dass sie im Frühjahr heimkehren und eine große Gruppe britischer Heiliger mitnehmen würden. Mary hatte vor, kurz danach mit einer kleineren Gruppe Heiliger nach Nordamerika aufzubrechen.

Weil sie in ihrer Familie das einzige Mitglied der Kirche war, besuchte sie ihre Eltern und Geschwister, um sich zu verabschieden. Sie ging davon aus, dass ihr Vater Einwände vorbringen würde, doch er fragte sie nur, wann sie abreisen werde und mit welchem Schiff.

An dem Tag, als Mary zur Hafenstadt Bristol aufbrach, war sie krank vor Kummer. Als sie an der Kirche vorbeiging, wo sie und John einige Monate zuvor geheiratet hatten, dachte sie über alles nach, was ihr seither widerfahren war.

Nun war sie eine vierundzwanzigjährige Witwe und ging allein in ein fremdes Land, wo sie ihr Schicksal mit dem Volk Gottes teilen wollte.7


In Nauvoo nahm derweil Thomas Sharp, Herausgeber einer Zeitung, neben Joseph Smith auf einem Podium Platz und blickte auf die mehreren tausend Heiligen, die zusammengekommen waren. Es war der 6. April 1841, der elfte Jahrestag der Kirche und der erste Tag einer Generalkonferenz. Eine Blaskapelle übertönte das Geplauder der Versammelten. In wenigen Augenblicken wollten die Heiligen anlässlich dieses bedeutenden Jahrestages die Ecksteine eines neuen Tempels legen.

Thomas gehörte nicht ihrer Kirche an, aber der Bürgermeister von Nauvoo, John Bennett, hatte ihn eingeladen, den Tag mit den Heiligen zu verbringen.8 Der Grund dafür war nicht schwer zu erraten. Als Herausgeber einer Zeitung konnte Thomas jemandem mit nur einer Handvoll Wörtern ein gutes oder schlechtes Ansehen verschaffen, und er war als möglicher Verbündeter nach Nauvoo geholt worden.

Genau wie die Heiligen war Thomas neu in dem Landstrich. Er war noch keine dreiundzwanzig Jahre alt und im Jahr zuvor in den Westen gekommen, um als Anwalt tätig zu sein. Jetzt lebte er in Warsaw, einer Stadt südlich von Nauvoo, etwa eine Tagesreise entfernt. Wenige Monate nach seiner Ankunft war er der Herausgeber der einzigen nicht von Mitgliedern der Kirche publizierten Zeitung im Landkreis geworden und hatte sich mit seinem ausdrucksstarken Schreibstil einen Namen gemacht.9

Die Lehren der Heiligen waren ihm gleichgültig, und er war nur schwach beeindruckt davon, wie aufopferungsvoll sie ihren Glauben lebten.10 Doch musste er zugeben, dass die Ereignisse dieses Tages eindrucksvoll waren.

Der Tag hatte mit ohrenbetäubenden Kanonensalven begonnen. Danach hatte es einen Festzug der Miliz der Stadt gegeben. Man nannte sie die Nauvoo-Legion, und sie war 650 Mann stark. In schneidigen blauen Mänteln mit goldenen Schulterklappen hatten Joseph Smith und John Bennett die Miliz angeführt und waren durch die Stadt und dann den Hügel hinauf zum frisch ausgehobenen Fundament des Tempels marschiert. Aus Respekt hatten die Heiligen Thomas unweit der Spitze des Festzugs platziert, nicht weit von Joseph und seinen Milizberatern entfernt.11

Sidney Rigdon hielt am Anfang der Ecksteinlegung eine mitreißende einstündige Rede über die jüngsten Drangsale der Heiligen und ihre Anstrengungen, Tempel zu bauen. Nach der Rede erhob sich Joseph und wies die Arbeiter an, in der südöstlichen Ecke des Fundaments den gewaltigen Stein hinunterzulassen.

„Dieser erste Eckstein, der die Erste Präsidentschaft symbolisiert, wurde nunmehr ordnungsgemäß zu Ehren des großen Gottes niedergelegt“, gab er bekannt, „damit die Heiligen einen Ort haben mögen, wo sie Gott verehren können, und des Menschen Sohn einen Ort haben möge, wo er sein Haupt niederlegen kann.“12

Nach den heiligen Feierlichkeiten lud Joseph Thomas und andere Ehrengäste zu einem Truthahnessen in seinem Haus ein. Sie sollten wissen, dass sie in Nauvoo willkommen waren. Auch wenn sie seinen Glauben nicht teilten, so hoffte er doch, dass sie zumindest seine Gastfreundschaft annehmen würden.13


Joseph war sehr erfreut, als er am nächsten Tag erfuhr, dass Thomas in seiner Zeitung einen wohlwollenden Bericht über die Ecksteinlegung veröffentlicht hatte. Zum ersten Mal seit Gründung der Kirche schien es so, als würde den Heiligen von ihren Nachbarn Sympathie entgegengebracht und als hätten sie Unterstützung seitens der Regierung sowie Freunde an wichtigen Stellen.14

So sehr Joseph diese Zeit des Wohlwollens und Friedens in Nauvoo auch begrüßte, wusste er doch, dass der Herr von ihm erwartete, alle seine Gebote zu befolgen, auch wenn dadurch der Glaube der Heiligen geprüft wurde. Und kein Gebot war eine größere Prüfung als die Mehrehe.15

Joseph verstand dank Offenbarung, dass Ehe und Familie ein wesentlicher Teil von Gottes Plan waren. Der Herr hatte den Propheten Elija in den Kirtland-Tempel gesandt, um Priestertumsschlüssel wiederherzustellen, die Generationen aneinander siegelten wie Glieder einer Kette. Auf Weisung des Herrn hatte Joseph angefangen, mehr Heiligen kundzutun, dass Mann und Frau für Zeit und Ewigkeit aneinander gesiegelt werden konnten und dadurch Erben der Segnungen Abrahams werden und Gottes ewigen Plan für seine Kinder verwirklichen konnten.16

Der Prophet Jakob aus dem Buch Mormon hatte erklärt, dass kein Mann „mehr als nur eine Frau“ haben solle, außer wenn Gott etwas anderes gebiete.17 Wie die Geschichte von Abraham und Sara aufzeigte, hatte Gott manchmal Menschen, die ihm treu nachfolgten, geboten, die Mehrehe zu praktizieren – als eine Möglichkeit, diese Segnungen mehr Menschen zugänglich zu machen und dem Herrn ein Bundesvolk zu erwecken. Trotz der Prüfungen, die damit einhergegangen waren, hatte Abrahams Ehe mit seiner weiteren Frau Hagar ein großes Volk hervorgebracht. Zwar würde die Mehrehe für die Heiligen, die sie ausübten, ebenfalls mit Schwierigkeiten verbunden sein, doch verhieß der Herr, sie für ihren Gehorsam und ihre Opfer zu segnen und sie zu erhöhen.18

Die Jahre, nachdem Joseph Kirtland verlassen hatte, waren voller Unruhe gewesen, und er hatte die Heiligen noch nicht an die Mehrehe herangeführt. Aber die Gegebenheiten in Nauvoo waren andere. Hier hatten die Heiligen endlich ein gewisses Maß an Sicherheit und Beständigkeit gefunden.

Auch hatte Joseph Vertrauen in die Verfassung der Vereinigten Staaten, die die freie Religionsausübung schützte. Im selben Jahr hatte der Stadtrat von Nauvoo dieses Recht bestätigt, als er eine Verordnung erließ, in der erklärt wurde, dass in Nauvoo alle religiösen Gruppierungen ungehindert ihren Glauben ausüben durften. Das Gesetz galt gleichermaßen für Christen und Andersgläubige. Zwar lebte niemand in Nauvoo nach dem Islam, aber dennoch schützte die Verordnung sogar ausdrücklich auch die Muslime, und diese übten in einigen Fällen die Mehrehe aus.19 Obwohl ihn die Politiker in der Hauptstadt des Landes enttäuscht hatten, glaubte Joseph an die Grundprinzipien der amerikanischen Republik und vertraute darauf, dass sie sein Recht schützten, gemäß Gottes Willen zu leben.20

Dennoch wusste er, dass die Ausübung der Mehrehe die Menschen empören würde, und so zögerte er immer noch, sie öffentlich als Lehre zu verkünden. Zwar übten andere religiöse und utopische Gruppierungen in vielen Fällen abweichende Formen der Ehe aus, doch die Heiligen hatten immer die Monogamie gelehrt. Die meisten Heiligen – und auch die meisten Amerikaner – verbanden mit der Mehrehe Gesellschaften, die weniger zivilisiert waren als ihre eigene.

Joseph selbst hinterließ keinen Bericht über seine eigenen Ansichten über die Mehrehe oder sein Ringen damit, das Gebot zu befolgen. Auch Emma schrieb nichts darüber auf, wie früh sie von der Ausübung erfahren hatte oder welche Auswirkung sie auf ihre Ehe gehabt hatte. Aus den Schriftstücken anderer, die ihnen nahestanden, geht jedoch klar hervor, dass die Ausübung für beide eine Ursache für Kummer und Leid war.

Dennoch fühlte sich Joseph gedrängt, den Heiligen diese Lehre zu verkünden – trotz der Risiken und seiner eigenen Vorbehalte. Wenn er den Grundsatz zunächst einem kleinen Kreis glaubenstreuer Männer und Frauen nahebrachte, konnte er für einen festen Rückhalt in dieser Sache sorgen und die nötige Vorarbeit für die Zeit leisten, wenn der Grundsatz öffentlich verkündet werden konnte. Um die Mehrehe annehmen zu können, mussten die Menschen ihre Vorurteile überwinden, gesellschaftliche Gepflogenheiten überdenken und großen Glauben ausüben, damit sie Gott gehorchen konnten, wenn er etwas gebot, was ihren Gebräuchen derart zuwiderlief.21

Etwa im Herbst 1840 fing Joseph an, mit der fünfundzwanzigjährigen Louisa Beaman über die Mehrehe zu sprechen. Louisas Familie war unter den Ersten gewesen, die an das Buch Mormon geglaubt und das wiederhergestellte Evangelium angenommen hatten. Nachdem ihre Eltern gestorben waren, war sie bei ihrer älteren Schwester Mary und deren Mann Bates Noble eingezogen, einem Veteranen des Lagers Israel.22

Bates war bei Josephs Gesprächen mit Louisa über die Mehrehe anwesend.23 „Dadurch, dass ich dir dies enthüllt habe, habe ich mein Leben in deine Hände gegeben“, sagte Joseph zu ihm. „Verrate mich nicht in einer dunklen Stunde an meine Feinde.“24

Irgendwann danach machte Joseph Louisa einen Heiratsantrag. Sie hinterließ keine Aufzeichnungen darüber, wie sie auf den Antrag reagiert hatte oder wann oder warum sie ihn angenommen hatte. Aber am Abend des 5. Aprils 1841, dem Tag vor der Generalkonferenz, traf sich Joseph mit Louisa und Bates zu der Zeremonie. Bevollmächtigt von Joseph siegelte Bates die beiden aneinander. Er wiederholte dabei die Worte der Verordnung, wie Joseph sie ihm sagte.25


Im Sommer freuten sich die Heiligen darüber, dass John Bennett ein wichtiges Amt am Gericht des Landkreises übertragen wurde. Doch andere im Kreis waren empört, denn die zunehmende politische Macht der Heiligen machte ihnen Angst. Sie betrachteten Johns Ernennung als einen Versuch oppositioneller Politiker, die Heiligen als Wähler zu gewinnen.26

Thomas Sharp, der Mitglied einer Oppositionspartei war, zog öffentlich in Zweifel, dass John sich für das Amt eignete, ein gutes Ansehen genoss und für seine kurz zuvor erfolgte Taufe aufrichtige Beweggründe hatte. In einem Leitartikel in seiner Zeitung forderte er die Bürger auf, sich gegen die Ernennung zu stellen.27

Auch bauschte Thomas Berichte über Unzufriedenheit unter den hunderten von britischen Heiligen auf, die sich in dem Gebiet sammelten. „Es heißt, viele hätten sich entschlossen, abzureisen“, berichtete er, „und dass Briefe nach England geschickt wurden, worin sie ihre Freunde, die vorhatten auszuwandern, vor den traurigen Zuständen in der Stadt der Kirche warnten.“ Die Hauptursache für ihre Unzufriedenheit, so behauptete er, bestünde darin, dass sie nicht an die Mission des Propheten glaubten.28

Nachdem Joseph den Leitartikel gelesen hatte, war er wütend. Er diktierte einen Brief, in dem er sein Abonnement kündigte, und schickte ihn Thomas:

Mein Herr, ich kündige mein Abonnement auf Ihre Zeitung; ihr Inhalt ist darauf angelegt, mich zu besudeln, und Stammkunde des schmutzigen Blattes zu sein – dieses Fetzens Papier voller Lügen, dieses Sündenpfuhls –, ist für jeden tugendhaften Menschen beschämend.

In völliger Verachtung, Ihr

Joseph Smith

P. S.: Bitte veröffentlichen Sie Obiges in Ihrer verachtenswerten Zeitung.29

Verärgert von dem Brief, druckte Thomas ihn in der darauffolgenden Ausgabe ab – nebst einem sarkastischen Kommentar über Josephs Berufung als Prophet. Manche hatten Thomas vorgeworfen, seine Zeitung dazu verwendet zu haben, den Heiligen zu schmeicheln.30 Er wollte nun, dass seine Leser wussten, dass er die Heiligen als wachsende politische Bedrohung für die Rechte anderer Bürger im Kreis ansah.

Zum Beweis druckte Thomas erneut eine Proklamation ab, die Joseph kurz zuvor veröffentlicht hatte und in der die Heiligen überall aufgerufen wurden, sich zu sammeln und Nauvoo zu erbauen. „Wenn sein Wille zu ihrem Gesetz wird“, warnte Thomas seine Leser, „was könnte – nein, was wird – dann wohl aus euren teuersten Rechten und kostbarsten Vorzügen werden?“31

Während Thomas immer kritischer wurde, machte Joseph sich Sorgen, dass er andere im Kreis gegen die Heiligen aufbringen würde.32 Die Ecksteine des Tempels waren an ihrem Platz und ganze Schiffe voller britischer Einwanderer kamen an. Daher stand ungemein viel auf dem Spiel. Die Heiligen durften jetzt nicht Nauvoo verlieren, wie sie zuvor Independence und Far West verloren hatten.


Große und kleine Segelschiffe drängten sich an den betriebsamen Anlagen des Hafens von Bristol im Südwesten Englands.33 Mary Ann Davis ging an Bord des Schiffes, das sie nach Nordamerika bringen sollte. Ihr Bett fand sie sauber vor; es schien frei von Flöhen zu sein. Sie und die anderen Passagiere durften neben ihrem Bett nur einen einzigen Koffer aufbewahren. Der Rest ihrer Habseligkeiten wurde im Frachtraum des Schiffes verstaut.

Mary blieb eine Woche lang in Bristol, während das Schiff beladen wurde. Zur Wahrung der Privatsphäre hängten sie und die anderen Passagiere Vorhänge zwischen ihre Betten, wodurch der große Raum in winzige Abteile unterteilt wurde. Auch erkundeten sie die engen Straßen Bristols und ließen die Sehenswürdigkeiten und Gerüche der Stadt auf sich wirken.

Mary erwartete jeden Tag, dass ihre Eltern eintreffen und sich von ihr verabschieden würden. Warum sonst hätte ihr Vater den Namen des Schiffes und den Abfahrtsort erfahren wollen?

Aber ihre Eltern trafen nie ein. Stattdessen inspizierten bald täglich Anwälte – die von ihrem Vater engagiert worden waren, um sie zum Bleiben zu zwingen – das Schiff und fragten nach einer jungen Witwe mit dunklen Augen und einem schwarzen Kleid. Enttäuscht, aber entschlossen, zum Sammlungsort Zion zu gelangen, verstaute Mary ihre Trauerkleidung und kleidete sich von da an wie die anderen jungen Frauen an Bord.

Bald darauf fuhr das Schiff nach Kanada los. Als es zwei Monate später angelegt hatte, reisten Mary und ihre Gruppe per Dampfschiff, Zug und Kanalboot nach Süden, bis sie schließlich an einem Hafen in der Nähe von Kirtland ankamen. Mary wollte unbedingt unter den Heiligen sein, und so begaben sie und ihre Freunde sich in die Stadt. Dort trafen sie William Phelps an. Er leitete einen kleinen Zweig der Kirche.34

Kirtland war nur noch ein Schatten dessen, was es einmal gewesen war. Sonntags hielt William im Tempel Versammlungen ab und saß auf dem Podium oft ganz allein. Mary saß unter den Versammelten und fand, dass der Tempel verlassen aussah.

Einige Wochen später kam eine weitere Gruppe britischer Heiliger in Kirtland an. Ein Mitglied der Gruppe, Peter Maughan, hatte vor, weiterzuziehen und ein Dampfschiff über die Großen Seen nach Chicago zu nehmen und dann auf dem Landweg nach Nauvoo zu reisen. Weil sie unbedingt ans Ziel ihrer Reise gelangen wollten, schlossen Mary und einige weitere Heilige sich ihm und seinen sechs kleinen Kindern an.35

Auf dem Weg nach Nauvoo lernten Mary und Peter sich näher kennen. Er war ein Witwer, der in den Bleibergwerken im Nordwesten von England gearbeitet hatte. Seine Frau Ruth war kurz vor der geplanten Auswanderung der Familie bei der Geburt eines Kindes gestorben. Peter hatte in Betracht gezogen, in England zu bleiben, aber Brigham Young hatte ihn davon überzeugt, nach Nauvoo zu kommen.36

Nachdem Mary in Nauvoo angekommen war, suchte sie die Stadt nach Freunden aus England ab. Während sie die Straßen durchstreifte, sah sie einen Mann auf einem Fass stehen und predigen. Sie blieb stehen, um zuzuhören. Der Prediger war ein fröhlicher Mann, und die einfachen und ehrlichen Worte seiner Predigt fesselten die kleine Menschenmenge. Hin und wieder lehnte er sich nach vorn und legte seine Hände auf die Schultern eines großgewachsenen Mannes vor ihm, so als stütze er sich auf ein Rednerpult.

Mary wusste sofort, dass es Joseph Smith war. Nach fünfmonatiger Reise befand sie sich endlich zusammen mit den Heiligen in der Gegenwart des Propheten Gottes.37


Unterdessen war Orson Hyde auf der anderen Seite der Welt ganz ergriffen, als er zum ersten Mal Jerusalem erblickte. Die alte Stadt befand sich auf der Spitze eines Hügels, umsäumt von Tälern und umgeben von einer dicken Mauer. Während er sich dem Westtor der Stadt näherte, erschöpft von der Reise, erhaschte Orson einen Blick auf ihre Mauern und die Türme, die dahinter emporragten.38

Orson hatte gehofft, gemeinsam mit John Page in Jerusalem anzukommen, aber John war vor der Abreise aus den Vereinigten Staaten wieder heimgekehrt. So war Orson allein abgefahren und dann durch England und quer durch Europa gereist. Sein Weg führte ihn dabei durch einige der bedeutenden Großstädte des Kontinents. Dann begab er sich Richtung Südosten nach Konstantinopel und nahm ein Dampfschiff zur Küstenstadt Jaffa. Dort konnte er sich einer Gruppe englischer Herren und ihrer schwer bewaffneten Diener anschließen und mit ihnen nach Jerusalem reisen.

Im Laufe der nächsten Tage ging Orson durch die staubigen, unebenen Straßen Jerusalems und traf sich mit führenden religiösen und politischen Persönlichkeiten der Stadt. Etwa zehntausend Menschen, von denen die meisten Arabisch sprachen, lebten in Jerusalem. Die Stadt war in einem heruntergekommenen Zustand. Manche Teile waren nach all den Jahrhunderten des Krieges und der Vernachlässigung nur noch Trümmer.

Als Orson Stätten besichtigte, über die er in der Bibel gelesen hatte, erfüllte ihn die Stadt und deren heilige Geschichte mit Ehrfurcht. Während er zusah, wie Menschen die alltäglichen Arbeiten verrichteten, die in den Gleichnissen des Erretters beschrieben wurden, versetzte er sich in seiner Vorstellung in die Zeit Jesu zurück. In Getsemani pflückte er einen Zweig von einem Olivenbaum und dachte über das Sühnopfer nach.39

Am 24. Oktober 1841 stand Orson noch vor Tagesanbruch auf und wanderte einen Hang hinab, der sich in der Nähe des Wegstücks befand, das Jesus in der Nacht vor seiner Kreuzigung entlanggegangen war. Orson erklomm den Ölberg, schaute über das Tal hinweg zurück auf Jerusalem und erblickte den atemberaubenden Felsendom. Dieser ragte in der Nähe der Stelle empor, wo zur Zeit des Erretters der Tempel gestanden hatte.40

Weil er wusste, dass der Herr verheißen hatte, dass einige von Abrahams Nachkommen vor dem Zweiten Kommen in Jerusalem gesammelt werden würden, setzte der Apostel sich hin und arbeitete ein Gebet aus. Darin bat er Gott, die zerstreuten Überreste in ihr verheißenes Land zu sammeln.41

„Bewege sie dazu, sich in diesem Land zu sammeln, wie du es verkündet hast“, betete Orson. „Lass sie wie Wolken kommen und wie Tauben zu ihren Fenstern.“

Nachdem er sein Gebet beendet hatte, legte Orson an der Stelle einige Steine übereinander und ging durch das Tal zurück, um als einfaches Denkmal für die Erfüllung seiner Mission auch auf dem Berg Zion einige Steine aufzuhäufen. Dann machte er sich auf die lange Heimreise.42