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45 Eine unverrückbare Grundlage


„Eine unverrückbare Grundlage“, Kapitel 45 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 1, Das Banner der Wahrheit, 1815–1846, 2018

Kapitel 45: „Eine unverrückbare Grundlage“

Kapitel 45

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Eine unverrückbare Grundlage

Noch bevor am 28. Juni die Sonne aufging, pochte jemand wild gegen die Tür. Als Emma öffnete, stand völlig verdreckt ihr Neffe Lorenzo Wasson vor ihr. Was er ihr erzählte, bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen.1

Bald schon war die ganze Stadt wach, als Porter Rockwell durch die Straßen ritt und lauthals verkündete, dass Joseph tot war.2 Um das Haus der Smiths scharte sich schnell eine Menschenmenge, aber Emma blieb mit den Kindern und nur ein paar wenigen Freunden und Pensionsgästen im Haus. Ihre Schwiegermutter, Lucy Smith, lief in ihrem Schlafzimmer auf und ab und schaute gedankenverloren aus dem Fenster. In einem anderen Zimmer kauerten sich die Kinder zusammen.3

Emma war alleine und trauerte schweigend. Nach einer Weile vergrub sie das Gesicht in den Händen. „Warum nur bin ich Witwe und sind meine Kinder vaterlos?“, sagte sie weinend.

John Greene, der Marshal von Nauvoo, hörte sie schluchzen und betrat das Zimmer. Um sie zu trösten, sagte er ihr, dieser Kummer werde ihr ein Kranz des Lebens sein.

„Mein Mann war mein Kranz!“, erwiderte sie bitter. „Warum, o Gott, muss ich allein zurückbleiben?“4


Noch am gleichen Tag brachten Willard Richards und Samuel Smith die beiden Toten auf Wagen nach Nauvoo. Man hatte die Leichname in Holzkisten gelegt und Gestrüpp über ihnen ausgebreitet, um sie vor der heißen Sommersonne zu schützen.5

Willard und Samuel waren nach dem Angriff vom Vortag noch völlig aufgewühlt. Samuel hatte seine Brüder im Gefängnis besuchen wollen, aber bevor er Carthage erreichte, schoss der Pöbel auf ihn und verfolgte ihn über zwei Stunden lang auf dem Pferd.6 Willard hingegen hatte den Angriff mit nur einer kleinen Wunde am Ohrläppchen überlebt, womit sich eine Prophezeiung erfüllte, die Joseph ihm ein Jahr zuvor gemacht hatte. Kugeln würden ihm um die Ohren pfeifen, hatte er gesagt, und seine Freunde zur Rechten und zur Linken treffen, doch bei ihm nicht einmal ein Loch im Gewand hinterlassen.7

John Taylor hingegen schwebte zwischen Leben und Tod. Er lag in einer Pension in Carthage und war zu schwer verletzt, um die Stadt verlassen zu können.8 Am Abend zuvor hatten er und Willard einen kurzen Brief an die Heiligen verfasst und sie angefleht, für den Mord an Joseph und Hyrum keine Vergeltung zu üben. Als Willard den Brief beendete, hatte der Blutverlust John derart geschwächt, dass er kaum seine Unterschrift daruntersetzen konnte.9

Als sich Willard und Samuel mit den Wagen dem Tempel näherten, begegneten sie einer Gruppe Heiliger, die ihnen in die Stadt folgte. Fast jeder Einwohner Nauvoos schloss sich dem Trauerzug an, als die Wagen sich langsam vom Tempelgelände den Hügel hinab auf das Mansion House zubewegten. Auf dem Weg durch die Stadt ließen die Heiligen ihren Tränen freien Lauf.10

Als der Trauerzug schließlich das Haus der Smiths erreichte, stieg Willard auf das Podest, von dem aus Joseph zuletzt zur Nauvoo-Legion gesprochen hatte. William blickte über die Zehntausend, die vor ihm standen, und konnte sehen, dass viele auf den Gouverneur und den Pöbel wütend waren.11

„Vertraut darauf, dass uns das Gesetz Recht verschafft“, flehte er sie an. „Überlasst die Rache dem Herrn.“12


Abends nahm Lucy Smith alle Kraft zusammen, als sie mit Emma, Mary und ihren Enkeln vor dem Esszimmer im Mansion House wartete. Zuvor hatten ein paar Männer die Leichname von Joseph und Hyrum hereingebracht, um sie zu waschen und anzukleiden. Seitdem wartete Lucy mit der Familie darauf, einen Blick auf die Toten zu werfen. Lucy rang um Fassung und betete um die Kraft, ihre ermordeten Söhne überhaupt anschauen zu können.

Als die Leichname bereit waren, ging Emma zuerst hinein, sank jedoch gleich darauf zu Boden und musste hinausgetragen werden. Mary war ihr zitternd gefolgt. Ihre beiden jüngsten Kinder klammerten sich an sie, als sie sich neben Hyrum kniete, seinen Kopf mit den Armen umschloss und zu schluchzen begann. „Haben sie dich erschossen, mein geliebter Hyrum?“, sagte sie und streichelte ihm übers Haar. Die Trauer übermannte sie.

Unterstützt von Freunden kehrte auch Emma bald zurück und setzte sich neben Hyrum zu Mary. Sie legte ihrem Schwager die Hand auf die erkaltete Stirn und sprach sanft zu ihm. Dann wandte sie sich an ihre Freunde. „Ich kann ihn mir jetzt ansehen“, sagte sie. „Ich fühle mich jetzt stark genug.“

Emma stand auf. Ohne Stütze ging sie zu Josephs Leichnam. Sie kniete sich neben ihn und legte ihm die Hand auf die Wange. „O Joseph, Joseph“, sagte sie. „Nun haben sie dich mir schließlich genommen.“13 Auch der junge Joseph kniete bei seinem Vater und küsste ihn.

Lucy war von der allgegenwärtigen Trauer so ergriffen, dass sie kein Wort herausbrachte. „Mein Gott“, betete sie für sich. „Warum hast du diese Familie verlassen?“ In ihr wurden viele Erinnerungen an die Prüfungen wach, die ihre Familie hatte durchstehen müssen, aber als sie die leblosen Gesichter ihrer Söhne betrachtete, wirkten sie friedlich. Sie wusste, dass Joseph und Hyrum nun außer Reichweite ihrer Feinde waren.

„Ich habe sie zu mir geholt“, hörte sie eine Stimme sagen, „damit sie sich ausruhen können.“14

Am nächsten Tag reihten sich vor dem Mansion House Tausende auf, um den Brüdern die letzte Ehre zu erweisen. Es war ein heißer Tag mit wolkenlosem Himmel. Stunde um Stunde betraten Heilige das Haus, schritten an den Särgen vorbei und gingen dann durch eine andere Tür wieder hinaus. Man hatte die Brüder in edle Särge gebettet, die mit weißem Leinen und weichem, schwarzem Samt gefüttert waren. Eine Glasplatte im Sargdeckel ermöglichte den Trauergästen einen letzten Blick auf ihr Gesicht.15

Nach der Aufbahrung hielt William Phelps vor tausenden Heiligen die Trauerrede für den Propheten. „Was soll ich über Joseph den Seher sagen?“, fragte er. „Er kam nicht im wirbelnden Strom der öffentlichen Meinung, sondern schlicht im Namen Jesu Christi.

Er kam, die Gebote und das Gesetz des Herrn zu bringen, Tempel zu bauen und dem Menschen aufzuzeigen, wie man an Liebe und Gnade zunimmt“, fuhr William fort. „Er kam, unsere Kirche auf Erden aufzurichten, und zwar auf den reinen, ewigen Grundsätzen Offenbarung, Propheten und Apostel.“16


Nach der Bestattung schrieb Mary Ann Young Brigham, der mit einigen Mitgliedern der Zwölf Apostel hunderte Kilometer weiter östlich für Josephs Kandidatur kämpfte, von der Tragödie. „Großes Elend hat diesen Ort ereilt, seitdem du fortgegangen bist“, berichtete sie. „Unsere lieben Brüder Joseph und Hyrum Smith sind einer wild gewordenen Meute zum Opfer gefallen.“ Mary Ann versicherte Brigham, die Familie sei bei guter Gesundheit, aber sie wisse nicht, wie sicher sie seien. Seit drei Wochen traf in Nauvoo nahezu keine Post mehr ein, und die Bedrohung durch neue Angriffe war allgegenwärtig.

„Glücklicherweise konnte ich inmitten des Sturms ruhig bleiben“, schrieb Mary Ann. „Sei auf der Heimreise vorsichtig und halte dich von jenen fern, die dein Leben gefährden könnten.“17

Am gleichen Tag schrieb Vilate Kimball an Heber. „Nie zuvor habe ich die Feder zur Hand genommen, um dir unter derart schwierigen Umständen, wie sie uns gerade auferlegt sind, zu schreiben“, berichtete sie. „Möge Gott mich davor bewahren, jemals wieder so etwas miterleben zu müssen.“

Vilate hatte gehört, dass sich William Law und seine Anhänger noch immer an den Führern der Kirche rächen wollten. Da sie um Hebers Sicherheit fürchtete, sah sie der Rückkehr ihres Mannes mit Unbehagen entgegen. „Ich bete nun immerzu darum, dass der Herr uns beschützt, damit wir uns alle wiedersehen können“, schrieb sie. „Zweifellos wird man dir nach dem Leben trachten, aber möge der Herr dir die Weisheit geben, den Feinden zu entrinnen.“18

Kurze Zeit später berichtete Phebe Woodruff ihren Eltern von dem Angriff in Carthage. „All dies wird das Werk genauso wenig aufhalten wie einst der Tod Christi“, bezeugte sie. „Es wird sich sogar noch schneller ausbreiten. Ich glaube, dass Joseph und Hyrum an einem Ort sind, wo sie für die Kirche viel mehr Gutes tun können, als wären sie noch bei uns.“

„Mein Glaube ist stärker als jemals zuvor“, bekräftigte sie. „Ich würde den wahren Glauben der Mormonen nicht aufgeben, selbst wenn ich innerhalb einer Stunde, nachdem ich dies geschrieben habe, mein Leben opfern müsste. Denn ich weiß mit Bestimmtheit, dass dies das Werk Gottes ist.“19


Während die Briefe von Mary Ann, Vilate und Phebe gen Osten unterwegs waren, hörten Brigham Young und Orson Pratt Gerüchte, dass Joseph und Hyrum umgebracht worden seien. Aber niemand konnte ihnen dies bestätigen. Dann jedoch, am 16. Juli, erhielt ein Mitglied der Kirche in einem Zweig in Neuengland, den sie besuchten, einen Brief aus Nauvoo, in dem die tragischen Neuigkeiten geschildert wurden. Als Brigham den Brief las, war ihm, als würde ihm der Kopf zerspringen. Nie zuvor hatte er solche Verzweiflung verspürt.

Sofort musste er an das Priestertum denken. Joseph hatte alle Schlüssel innegehabt, die notwendig waren, um an den Heiligen das Endowment zu vollziehen und sie für die Ewigkeit zu siegeln. Ohne diese Schlüssel konnte das Werk des Herrn nicht vorankommen. Einen Augenblick lang befürchtete Brigham, Joseph habe diese Schlüssel mit ins Grab genommen.

Doch dann kam die Erinnerung wie eine Erleuchtung: Joseph hatte den Zwölf Aposteln die Schlüssel ja bereits übertragen! Brigham schlug sich heftig mit der Hand aufs Knie. „Die Schlüssel des Reiches befinden sich hier unter uns in der Kirche!“, rief er aus.20

Brigham und Orson begaben sich nach Boston und trafen sich dort mit den anderen Aposteln, die in den Oststaaten unterwegs waren. Sie beschlossen, unverzüglich nach Hause zurückzukehren, und rieten allen Missionaren, deren Familien in Nauvoo waren, ebenfalls heimzukehren.21

„Seid guten Mutes!“, sagte Brigham den Heiligen in Neuengland. „Wenn Gott jemanden aussendet, ein Werk zu verrichten, können alle Teufel der Hölle ihn nicht umbringen, ehe er es vollendet hat.“ Er bezeugte, dass Joseph den Zwölf Aposteln vor seinem Tod alle Schlüssel des Priestertums übertragen hatte und dass die Heiligen somit alles besaßen, was sie brauchten, um das Werk fortzusetzen.22


In Nauvoo machte sich Emma, die noch immer um ihren Mann trauerte, Sorgen, wie sie allein ihre Kinder und ihre Schwiegermutter versorgen sollte. Zwar hatte Joseph große Anstrengungen unternommen, den Besitz der Familie rechtsgültig vom Eigentum der Kirche zu trennen, aber er hatte dennoch erhebliche Schulden und kein Testament hinterlassen. Falls die Kirche nicht rasch einen Treuhänder ernannte, der Josephs Aufgabe übernahm, das Eigentum der Kirche zu verwalten, befürchtete Emma, wäre ihre Familie bald mittellos.23

Die Führer der Kirche in Nauvoo waren geteilter Meinung, wer die Vollmacht hatte, diese Nachfolge zu bestimmen. Einige waren der Ansicht, Samuel Smith, der älteste noch lebende Bruder des Propheten, solle diese Aufgabe übernehmen, aber nachdem der Pöbel ihn aus Carthage gejagt hatte, war er krank geworden und Ende Juli plötzlich gestorben.24 Andere waren überzeugt, dass die örtlichen Führer im Pfahl einen neuen Treuhänder bestimmen sollten. Willard Richards und William Phelps wollten die Entscheidung verschieben, bis die Zwölf Apostel von ihrer Mission in den Oststaaten zurückgekehrt waren und sich an der Wahl beteiligen konnten.

Emma drängte jedoch auf eine Entscheidung und wollte, dass die Führer der Kirche sofort einen Treuhänder ernannten. Ihre eigene Wahl fiel auf William Marks, den Pfahlpräsidenten von Nauvoo.25 Bischof Newel Whitney sprach sich jedoch heftig gegen diese Entscheidung aus, denn William lehnte die Mehrehe ab und zeigte wenig Interesse an den heiligen Handlungen des Tempels.

„Wird Marks ernannt, werden unsere geistigen Segnungen vernichtet, denn das wirklich Wichtige liegt ihm nicht am Herzen“, erklärte er in privaten Gesprächen. Newel wusste, dass die Kirche mehr war als lediglich ein Unternehmen mit finanziellen Beteiligungen und gesetzlichen Verpflichtungen. Er war überzeugt, dass der neue Treuhänder das, was Joseph vom Herrn offenbart worden war, von ganzem Herzen unterstützen sollte.26

Inzwischen erholte sich John Taylor von seinen Verletzungen so weit, dass er nach Nauvoo zurückkehren konnte. Auch Parley Pratt kehrte von seiner Mission zurück, und gemeinsam mit John, Willard Richards und William Phelps drängte er Emma und William Marks, auf die Rückkehr der übrigen Apostel zu warten. Sie waren überzeugt, dass es weitaus wichtiger war, mit der ordnungsgemäßen Vollmacht einen neuen Treuhänder zu wählen, als eine schnelle Entscheidung zu treffen.27

Am 3. August schließlich kehrte Sidney Rigdon nach Nauvoo zurück. In Josephs Wahlkampf war Sidney als Kandidat für die Vizepräsidentschaft in einen anderen Bundesstaat gezogen, um die gesetzlichen Auflagen für dieses Amt zu erfüllen. Als er jedoch vom Tod des Propheten erfuhr, eilte er zurück nach Illinois. Er war sich sicher, dass ihn sein Amt in der Ersten Präsidentschaft dazu berechtigte, die Kirche anzuführen.

Um seinen Anspruch zu bekräftigen, verkündete er, Gott habe ihm in einer Vision gezeigt, dass die Kirche einen Hüter brauche, der sich in Josephs Abwesenheit um die Kirche kümmere und ihm auch weiterhin als Sprecher diene.28

Sidneys Ankunft bereitete Parley und den übrigen Aposteln in Nauvoo Kopfzerbrechen. Der Streit um den neuen Treuhänder verdeutlichte, dass die Kirche einen präsidierenden Priestertumsführer brauchte, der wichtige Entscheidungen traf. Sie wussten aber auch, dass Sidney wie William Marks viele Lehren und Bräuche ablehnte, die Joseph vom Herrn offenbart worden waren. Vor allem aber war ihnen bewusst, dass sich Joseph in den letzten Jahren nicht mehr auf Sidney hatte verlassen können und ihm nicht alle Schlüssel des Priestertums übertragen hatte.29

Am Tag nach seiner Ankunft erklärte Sidney öffentlich, er sei bereit, die Kirche anzuführen. Ob er den Tempel fertigstellen oder die Heiligen mit geistiger Macht ausrüsten wolle, sagte er nicht. Vielmehr warnte er davor, dass ihnen gefährliche Zeiten bevorstünden, und versprach, ihnen in den Letzten Tagen ein mutiger Anführer zu sein.30

Später bestand Sidney bei einer Zusammenkunft der Führer der Kirche darauf, die Heiligen in zwei Tagen zusammenzurufen, damit sie einen neuen Anführer auswählten und einen Treuhänder bestimmten. Alarmiert baten Willard und die anderen Apostel um mehr Zeit, Sidneys Forderungen zu überprüfen und auf die Rückkehr des übrigen Kollegiums zu warten.

William Marks willigte schließlich ein, die Versammlung vier Tage später einzuberufen, am 8. August.31


Am Abend des 6. Augusts verbreitete sich rasch die Nachricht, dass Brigham Young, Heber Kimball, Orson Pratt, Wilford Woodruff und Lyman Wight mit dem Dampfschiff in Nauvoo eingetroffen waren. Rasch liefen viele Heilige auf der Straße zusammen, um sie auf dem Nachhauseweg zu begrüßen.32

Am nächsten Nachmittag kamen die gerade eingetroffenen Apostel gemeinsam mit Willard Richards, John Taylor, Parley Pratt und George A. Smith zu einer Sitzung mit Sidney und den weiteren Räten der Kirche zusammen.33 Inzwischen hatte Sidney seine Meinung geändert und wollte am 8. August keinen neuen Anführer mehr wählen lassen. Stattdessen wollte er an dem Tag mit den Heiligen eine Gebetsversammlung abhalten und die Entscheidung verschieben, bis die Führer der Kirche gemeinsam „einander das Herz erwärmen würden“.34

Allerdings beharrte er nach wie vor auf seinem Recht, die Kirche zu leiten. „Mir wurde gezeigt, dass diese Kirche mit Blick auf Joseph aufgebaut werden muss“, erklärte er den Räten. „Alle Segnungen, die wir empfangen, müssen über ihn zu uns kommen.“ Er erklärte, die Vision, die er vor kurzem empfangen habe, sei eine Fortsetzung der großen Vision vom Himmel gewesen, die er mit Joseph über zehn Jahre zuvor gesehen hatte.

„Ich bin zum Sprecher Josephs ordiniert worden“, fuhr er fort und bezog sich auf eine Offenbarung, die Joseph 1833 empfangen hatte. „Daher musste ich nach Nauvoo kommen und dafür sorgen, dass die Kirche auf die richtige Weise geführt wird.“35

Wilford blieb von Sidneys Worten unbeeindruckt. „Das war eher eine Vision zweiter Klasse“, schrieb er in sein Tagebuch.36

Nach Sidneys Worten erhob sich Brigham und bezeugte, dass Joseph den Zwölf Aposteln alle Schlüssel und Vollmachten des Apostelamtes übertragen hatte. „Es ist mir gleich, wer die Kirche führt“, sagte er. „Aber eines muss ich wissen, und zwar, was Gott dazu sagt.“37

Am 8. August, dem Tag, an dem Sidneys Gebetsversammlung stattfinden sollte, erschien Brigham nicht zu einer Kollegiumsversammlung am frühen Morgen, was noch nie vorgekommen war.38 Als er das Haus verließ, sah er, dass sich tausende Heilige in dem Wäldchen in der Nähe des Tempels versammelt hatten. Es war ein stürmischer Morgen, und Sidney stand auf einem Wagen, den starken, stetigen Wind im Rücken. Sidney hielt nun doch keine Gebetsversammlung ab, sondern bot sich erneut als Hüter der Kirche an.

Er sprach über eine Stunde lang und bezeugte, Joseph und Hyrum hätten die Vollmacht des Priestertums bis in alle Ewigkeit inne und hätten die Räte der Kirche so aufgestellt, dass diese die Kirche nach ihrem Tod weiterführen könnten. „Jeder wird vor Jehova seinen eigenen Platz und seine eigene Berufung einnehmen“, verkündete Sidney. Erneut erklärte er, sein Platz und seine Berufung bestünden darin, Josephs Sprecher zu sein. Er wolle zwar nicht, dass die Anwesenden darüber abstimmten, jedoch sei ihm wichtig, dass die Heiligen seine Meinung kannten.39

Nach Sidneys Worten bat Brigham die Anwesenden, noch ein wenig zu bleiben. Er erklärte, er habe sich eigentlich etwas Zeit gewünscht, Josephs Tod zu betrauern, ehe er sich mit den geschäftlichen Angelegenheiten der Kirche befasse, aber er spüre, wie dringlich es den Heiligen sei, einen neuen Anführer zu wählen. Außerdem mache er sich Sorgen, dass manche unter ihnen gegen den Willen Gottes nach der Macht griffen.

Um die Sache zu klären, bat Brigham die Heiligen, am Nachmittag erneut zusammenzukommen und einen neuen Führer der Kirche zu bestätigen. Sie sollten nach Kollegien abstimmen sowie als Kirche insgesamt. „Wir können das in fünf Minuten erledigen“, sagte er. „Keiner wird dem anderen entgegentreten, und jeder Mann und jede Frau werden Amen dazu sagen.“40


Am Nachmittag kehrte Emily Hoyt zur Versammlung in das Wäldchen zurück. Emily war eine Cousine des Propheten. Sie war Ende dreißig und ausgebildete Lehrerin. Sie und ihr Mann Samuel hatten Joseph und Hyrum in den vergangenen Jahren sehr nahegestanden, und der plötzliche Tod der Brüder hatte sie sehr bekümmert. Emily und Samuel wohnten zwar auf der anderen Seite des Flusses im Territorium Iowa, kamen an diesem Tag jedoch nach Nauvoo, um an Sidneys Gebetsversammlung teilzunehmen.41

Um etwa zwei Uhr nachmittags nahmen die Priestertumskollegien und die Räte auf dem Podium und rings darum herum Platz. Dann erhob sich Brigham Young, um zu den Heiligen zu sprechen.42 „Es ist viel darüber gesagt worden, dass Präsident Rigdon der Präsident der Kirche sei“, sagte er. „Aber ich sage euch, dass das Kollegium der Zwölf Apostel die Schlüssel des Gottesreiches in aller Welt besitzt.“43

Als Emily Brigham sprechen hörte, ertappte sie sich dabei, wie sie ihn immer wieder unverwandt anschaute, um sich zu vergewissern, dass es nicht Joseph war, der da zu ihnen sprach. Brigham glich Joseph in seiner Mimik und seinen Gedankengängen, ja, sogar seine Stimme klang wie die von Joseph.44

„Bruder Joseph, der Prophet, hat die Grundlage für ein großartiges Werk gelegt, und wir werden darauf aufbauen“, fuhr Brigham fort. „Eine unverrückbare Grundlage wurde gelegt, und darauf können wir ein Königreich bauen, wie man es in dieser Welt nie gesehen hat. Wir können es schneller bauen, als der Satan die Heiligen vernichten kann.“

Jedoch müssten die Heiligen an einem Strang ziehen, den Willen des Herrn befolgen und aus dem Glauben heraus leben, verkündete Brigham. „Wenn ihr wollt, dass euch Sidney Rigdon oder William Law oder sonst jemand anführt, könnt ihr sie haben“, sagte er. „Ich aber verkünde euch im Namen des Herrn, dass kein Mensch einen anderen zwischen die Zwölf Apostel und den Propheten Joseph stellen kann. Und warum? Weil er ihnen die Schlüssel des Reiches in dieser letzten Evangeliumszeit übergeben hat, und zwar für die ganze Welt.“45

Emily konnte spüren, dass der Geist und die Macht, die auf Joseph geruht hatten, nun auf Brigham ruhten. Sie beobachtete aufmerksam, wie der Apostel die Heiligen dazu anhielt, die Zwölf Apostel als Führer der Kirche zu bestätigen. „Für jeden Mann, für jede Frau und für jedes Kollegium ist die Ordnung nun wiederhergestellt“, erklärte er. „Alle Anwesenden, die dafür sind, zeigen es bitte durch das Heben der rechten Hand.“

Emily und auch alle übrigen Anwesenden hoben die Hand.46

„Es gibt viel zu tun“, sagte Brigham. „Der Prophet hat die Grundlage gelegt, und wir werden darauf aufbauen. Es kann keine andere Grundlage gelegt werden als die, die bereits gelegt wurde, und wir werden unser Endowment empfangen, so der Herr will.“47

Sieben Jahre später schrieb Emily auf, wie sie es erlebt hatte, als Brigham zu den Heiligen sprach. Sie bezeugte, wie sehr er auf dem Podium wie Joseph ausgesehen und geklungen hatte. In den folgenden Jahren legten viele Heilige wie Emily Zeugnis dafür ab und beschrieben, wie sie Zeuge davon wurden, dass der Mantel des Propheten, den Joseph getragen hatte, an jenem Tag auf Brigham überging.48

„Falls irgendjemand an Brighams Anrecht zweifelt, sich um die Angelegenheiten der Heiligen zu kümmern“, schrieb Emily, „dann kann ich demjenigen nur sagen: Erlange den Geist Gottes und erkenne es selbst. Der Herr sorgt für die Seinen.“49


Am Tag nach der Konferenz spürte Wilford, dass in der ganzen Stadt noch immer eine düstere Stimmung herrschte. „Der Prophet und der Patriarch sind von uns gegangen“, schrieb er in sein Tagebuch. „Offenbar hat kaum jemand den Antrieb, irgendetwas in Angriff zu nehmen.“ Dennoch machten sich Wilford und die Zwölf sofort an die Arbeit. Am Nachmittag kamen sie zusammen, ernannten Newel Whitney und George Miller als Treuhänder der Kirche und beauftragten sie, Josephs finanzielle Angelegenheiten zu regeln.50

Drei Tage später beriefen sie Amasa Lyman ins Kollegium der Zwölf Apostel und teilten die Oststaaten und Kanada in Distrikte auf, über die Hohe Priester präsidieren sollten. Brigham, Heber und Willard sollten sich darum kümmern, diese zu berufen und die Kirche in Amerika zu leiten, Wilford hingegen sollte mit Phebe nach England reisen, über die Britische Mission präsidieren und die dortige Druckerei verwalten.51

Während sich Wilford auf seine Mission vorbereitete, bemühten sich die anderen Apostel darum, die Kirche in Nauvoo zu stärken. Zwar hatten die Heiligen bei der Versammlung am 8. August die Zwölf Apostel bestätigt, doch ein paar Männer versuchten bereits, die Kirche zu spalten und Mitglieder mit sich fortzuziehen. Einer von ihnen, James Strang, gehörte erst seit kurzem der Kirche an. Er behauptete, er hätte einen Brief, worin Joseph ihn zu seinem wahren Nachfolger ernannt hätte. James besaß ein Haus im Territorium Wisconsin und wollte, dass sich die Heiligen dort sammelten.52

Brigham warnte die Heiligen davor, sich irgendwelchen Abtrünnigen anzuschließen. „Zerstreut euch nicht“, drängte er sie. „Bleibt hier in Nauvoo, errichtet den Tempel und empfangt das Endowment.“53

Die Fertigstellung des Tempels stand weiterhin im Mittelpunkt. Am 27. August, am Abend vor der Abreise nach England, besuchten Wilford und Phebe mit Freunden den Tempel. Sie standen am Fuße der Mauern, die schon fast das obere Ende des zweiten Geschosses erreichten, und bestaunten die Pracht und Erhabenheit des Bauwerks im Mondlicht.

Auf einer Leiter stiegen sie bis oben auf die Mauern und knieten sich nieder, um zu beten. Wilford dankte dem Herrn, dass er den Heiligen die Kraft gegeben hatte, den Tempel zu bauen, und flehte darum, dass sie in der Lage sein mögen, ihn fertigzustellen, das Endowment zu empfangen und das Werk Gottes in aller Welt aufzurichten. Er bat den Herrn auch, über ihn und Phebe im Missionsgebiet zu wachen.

„Befähige uns, unsere Mission rechtschaffen zu erfüllen“, betete er, „damit wir in dieses Land zurückkehren und in Frieden im Haus des Herrn umherwandeln können.“54

Am nächsten Tag gab Brigham Phebe unmittelbar vor der Abreise einen Segen für die bevorstehenden Aufgaben. „Ebenso wie dein Mann sollst auch du auf Mission gesegnet sein“, verhieß er ihr. „Durch dich wird viel Gutes vollbracht werden. Wenn du in aller Demut hinausziehst, wirst du beschützt werden. Du wirst zurückkehren und mit den Heiligen im Tempel des Herrn zusammenkommen und darin große Freude erfahren.“

Später am Nachmittag brachen Wilford und Phebe auf. Zu den Missionaren, die sie nach England begleiteten, gehörten auch Dan Jones und seine Frau Jane, die nach Wales reisen wollten, um Josephs Prophezeiung zu erfüllen.55