Geschichte der Kirche
30 Eine stetig fortschreitende Bewegung


„Eine stetig fortschreitende Bewegung“, Kapitel 30 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020

Kapitel 30: „Eine stetig fortschreitende Bewegung“

Kapitel 30

Eine stetig fortschreitende Bewegung

Bild
Ein Mädchen und ein Junge gehen auf ein Gemeindehaus zu

Als Wilford Woodruff drei Tage nach Brigham Youngs Tod in Salt Lake City eintraf, schritten tausende Trauernde in langen Reihen andächtig durch das Tabernakel, wo Brighams Leichnam aufgebahrt war. Der Sarg des Propheten war schlicht. Durch eine Glasscheibe im Sargdeckel konnten die Heiligen sein Gesicht ein letztes Mal betrachten.

Die Heiligen in Utah waren davon überzeugt, dass Brighams Führung zur Erfüllung einer Prophezeiung Jesajas beigetragen hatte, wonach die Wüste erblühen werde. Unter seiner Leitung hatten die Heiligen in den Tälern inmitten der Berge Farmen, Gärten, Obstgärten und Weiden bewässert und so die Versorgung mehrerer hundert Siedlungen von Heiligen der Letzten Tage sichergestellt. Die meisten dieser Siedlungen hatten sich halten können und boten Gemeinschaften von Heiligen, die nach den Grundsätzen Einigkeit und Zusammenarbeit lebten, gute Bedingungen. Einige wenige Siedlungen, wie etwa Salt Lake City, hatten sich schnell zu Ballungsgebieten für Produktion und Handel entwickelt.

Brighams Erfolg als Planer und Pionier übertraf jedoch nicht sein Wirken als Prophet Gottes. Viele der Menschen, die ihm an diesem Morgen die Ehre erwiesen, hatten ihn sprechen hören oder waren ihm bei seinen Besuchen bei den Heiligen im ganzen Territorium begegnet. Einige hatten ihn als Missionar in den Oststaaten oder in England kennengelernt. Andere hielten in Erinnerung, wie er die Kirche nach Joseph Smiths Tod sicher durch eine Zeit der Ungewissheit geführt hatte. Wieder andere hatten an seiner Seite die Prärie und die Rocky Mountains überquert. Viele Menschen, die sich in Utah gesammelt hatten, darunter zehntausende Heilige aus Europa und anderen Teilen der Welt, hätten ohne ihn nie von der Kirche erfahren.

Als sich Wilford über den Sarg beugte, fand er, dass sein alter Freund ganz natürlich aussah. Der Löwe des Herrn hatte sich zur Ruhe gelegt.1

Am 2. September 1877, dem Tag nach der Aufbahrung, war das Tabernakel zur Trauerfeier für Brigham bis auf den letzten Platz gefüllt. Weitere tausende Heilige standen draußen. Geschwungene Girlanden hingen von der gewölbten Decke des Tabernakels herab, und die Orgel war von schwarzem Stoff umhüllt. Die Heiligen trugen hingegen kein Schwarz, wie es bei einem Trauergottesdienst üblich gewesen wäre. Brigham hatte sie darum gebeten.2

Die Kirche hatte nach Brighams Tod noch keine neue Erste Präsidentschaft gebildet, und so übernahm John Taylor als Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel den Vorsitz.3 Mehrere Apostel zollten dem verstorbenen Propheten ihre Anerkennung. Wilford sprach von Brighams großem Wunsch, Tempel zu bauen und die Verstorbenen zu erlösen. „Er spürte die Bürde dieser Evangeliumszeit auf sich ruhen“, sagte Wilford. „Ich freue mich, dass er lange genug gelebt hat, um einen Tempel zu betreten und einem Weihungsgottesdienst beizuwohnen und darüber hinaus den Bau weiterer Tempel in die Wege zu leiten.“4

John bezeugte, dass Gott die Kirche auch weiterhin durch die Wirren der Letzten Tage führen werde. Die Salt Lake Tribune hatte bereits vorausgesagt, Brighams Tod werde zu Streitereien zwischen den Führern der Kirche und Unzufriedenheit unter den Heiligen führen.5 Andere Kritiker hofften, die Kirche werde von den Gerichten in den Ruin getrieben. George Reynolds, der erneut wegen Bigamie vor Gericht gestellt und verurteilt worden war, legte nun Berufung vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten ein. Sollte das Gericht das Urteil bestätigen, waren die Heiligen praktisch machtlos und konnten ihre Lebensweise nicht mehr aufrechterhalten.6

Trotzdem hatte John keine Angst vor der Zukunft. „Wir sind hier nicht mit dem Werk von Menschen befasst. Es stammt nicht von Joseph Smith und auch nicht von Brigham Young“, erklärte er. „Dieses Werk ist göttlichen Ursprungs. Gott ist sein Urheber. …

Es liegt jetzt an uns, den Heiligen der Letzten Tage, unsere Berufung groß zu machen“, sagte er, „damit wir, wenn die zu erwartenden unruhigen Zeiten über alle Nationen hereinbrechen und eine Revolution auf die andere folgt, eine vom Herrn geleitete, stetig fortschreitende Bewegung erleben.“7


Nach dem Tod ihres Vaters rang Susie Young Dunford mit sich, was sie wegen ihrer gescheiterten Ehe unternehmen sollte. Als ihr Mann Alma auf Mission berufen worden war, hatte sie gehofft, diese Erfahrung würde ihn läutern. Aber in seinen Briefen an sie äußerte er sich weiterhin ungehalten und abwehrend.8

Susie wollte nicht überstürzt handeln und machte sich Gedanken, welche Möglichkeiten ihr offenstanden. Immerzu betete sie darüber. Kurz vor seinem Tod hatte ihr Vater noch einmal betont, dass ihre Aufgaben als Frau und Mutter entscheidend für ein gelungenes Leben waren. Susie wollte diese Aufgaben gut und rechtschaffen erfüllen. Aber bedeutete das auch, dass sie in einer Ehe bleiben musste, in der sie misshandelt wurde?9

Eines Nachts träumte Susie, sie würde mit Alma ihren Vater im Lion House besuchen. Brigham hatte eine Aufgabe für die beiden, doch anstatt Alma damit zu beauftragen, wie er es normalerweise getan hätte, übertrug er sie Susie. Als sie fortging, um den Auftrag auszuführen, begegnete ihr Eliza Snow auf dem Flur. Warum habe ihr Vater ihr den Auftrag gegeben, fragte Susie, wo er in der Vergangenheit doch immer Alma beauftragt habe?

„Er wusste es damals nicht besser“, erwiderte Eliza in dem Traum. „Jetzt hingegen schon.“

Elizas Worte gingen Susie nicht aus dem Sinn, als sie wieder erwachte. Sie fand es tröstlich zu wissen, dass ihr Vater in der Geisterwelt manches wohl anders sah als zu Lebzeiten.

Bald darauf reichte Susie die Scheidung ein, und Alma kehrte aus England zurück und ließ sich von Anwälten beraten. Oftmals versuchten die Führer der Kirche, scheidungswillige Paare wieder zu versöhnen. Sie waren jedoch auch der Ansicht, dass jede Frau, die unglücklich verheiratet war und sich scheiden lassen wollte, diese Möglichkeit haben sollte.10 Dies galt ebenso für Frauen, die sich damit schwertaten, mit den Herausforderungen einer Mehrehe zurechtzukommen. Da das örtliche Gerichtswesen solche Ehen nicht anerkannte, kümmerten sich die jeweiligen Führer der Kirche um Scheidungsfälle, die eine Mehrehe betrafen.11

Susie jedoch war Almas einzige Frau, daher war ihre Lage anders. Sie konnte zwar als Frau, die Missbrauch in der Ehe erlebt hatte, auf eine Scheidung hoffen, doch mussten sie und Alma vor ein Zivilgericht. Die Gerichte in den Vereinigten Staaten und auch in Europa entschieden damals bei Scheidungsfällen meist zugunsten des Mannes. Obwohl die Führer der Kirche die Ehemänner dazu anhielten, großzügig für ihre geschiedene Frau und die Kinder zu sorgen, beanspruchte Alma das Sorgerecht für die Kinder und fast den gesamten Besitz der Familie für sich.

Susies und Almas Scheidungsverhandlung dauerte zwei Tage. Am Ende erhielt Alma das Sorgerecht für die gemeinsame vierjährige Tochter Leah. Da Susies Sohn Bailey erst zwei Jahre alt war, stellte ihn das Gericht unter ihre Obhut, bestimmte aber Alma zu seinem Vormund.12

Ihre Kinder zu verlieren zerriss Susie das Herz, und sie verließ den Gerichtssaal angesichts dieser richterlichen Entscheidung zutiefst unglücklich. Doch da die Scheidung den Verlust ihres Besitzes und jeglicher finanziellen Unterstützung bedeutete, blieb ihr kaum Zeit, sich zu bemitleiden. Sie brauchte unbedingt einen Plan, was jetzt zu tun war.13

Kurz nach der Scheidung sprach Susie mit Präsident John Taylor über ihre Zukunft. Im Alter von vierzehn Jahren hatte sie die Schule verlassen, doch jetzt wollte sie weiterlernen. Präsident Taylor wollte sie gern unterstützen und bot an, sie in der örtlichen Sekundarschule unterzubringen. Als Susie sein Büro verließ, begegnete sie jedoch dem Apostel Erastus Snow.

„Wenn du dich weiterbilden willst, habe ich das Richtige für dich“, meinte er. „Ein Ort, wo das helle Licht der Inspiration dir die Seele füllt und du das geballte Wissen aus alter und neuer Zeit in deinen Verstand aufnehmen kannst. Ich spreche von der Brigham-Young-Akademie in Provo.“

Am nächsten Tag stieg Susie in den Zug nach Süden, um sich die Akademie anzusehen. Zwar hatte ihr Vater die Schule gegründet, aber sie wusste nur wenig über die Akademie und deren Zweck. Dort angekommen, traf sie sich mit dem Schulleiter, ihrem früheren Lehrer Karl Mäser. Er begrüßte sie herzlich und schrieb sie in der Akademie ein.14


Unterdessen ging es Jonathan Napela, der auf der zur Insel Molokai gehörenden Halbinsel Kalaupapa wohnte, gesundheitlich immer schlechter. Als Napela sich unter den Leprakranken auf der Halbinsel niedergelassen hatte, war er zunächst von der Krankheit verschont geblieben, die so viele Hawaiianer, wie auch seine Frau Kitty, befallen hatte. Doch jetzt, fast fünf Jahre später, hatte ihn das gleiche Schicksal ereilt. Sein Gesicht war fast bis zur Unkenntlichkeit angeschwollen, und er hatte etliche Zähne verloren. Seine Hände, mit denen er mehr als zwanzig Jahre lang unzähligen Menschen Segen gespendet hatte, waren mit Geschwüren übersät.15

Am 26. Januar 1878 empfingen Napela und Kitty bei sich zuhause zwei Missionare – Henry Richards und Keau Kalawaia – sowie Nehemia Kahuelaau, den präsidierenden Priestertumsführer der Kirche auf Molokai. Die beiden Hawaiianer, Keau und Nehemia, waren langjährige Mitglieder und hatten beide bereits mehrere Missionen erfüllt. Henry war der jüngste Bruder des Apostels Franklin Richards und hatte seine erste Mission auf den Inseln in den 50er Jahren angetreten, ein paar Jahre nach Napelas Taufe. Henry hatte Napela zuletzt 1869 in Salt Lake City gesehen und war jetzt, knapp zehn Jahre später, bestürzt, wie sehr sich sein Aussehen verändert hatte.16

Der nächste Tag war ein Sonntag, und Napela wollte mit seinen Gästen die Zweige der Kirche auf der Halbinsel besuchen. Trotz seiner Krankheit führte Napela weiterhin die Kirche in Kalaupapa und kümmerte sich um achtundsiebzig Mitglieder in zwei Zweigen. Bevor jedoch Henry die Siedlungen bereisen konnte, musste er Pater Damian, dem katholischen Priester, der Aufseher über die Kolonie war, eine Besuchserlaubnis vorlegen. Die hawaiianische Gesundheitsbehörde riet Besuchern davon ab, die Nacht bei Leprakranken zu verbringen, weshalb Henry bei Pater Damian übernachten sollte.

Pater Damian war jedoch ebenfalls bereits an Lepra erkrankt, allerdings erst im Frühstadium, und niemand wusste von seinem Zustand. Wie Napela hatte auch er sein Leben der Aufgabe gewidmet, sich um das geistige und körperliche Wohl der Verbannten auf Kalaupapa zu kümmern. Auch wenn er und Napela in manchen Glaubensfragen unterschiedlicher Ansicht waren, waren sie gute Freunde geworden.17

Am Morgen besuchten Napela und Henry die Sonntagsversammlung im Quartier von Lepo, dem Zweigpräsidenten der Heiligen, die am Ostufer der Halbinsel lebten. Zwischen vierzig und fünfzig Besucher, von denen viele nicht der Kirche angehörten, waren anwesend. Einige von ihnen sahen gesund aus. Andere waren von Kopf bis Fuß mit Geschwüren übersät. Ihr Leid rührte Henry zu Tränen. Er und Keau sprachen jeweils fünfundvierzig Minuten. Nachdem sie geendet hatten, richteten Nehemia und Napela ein paar Worte an die Versammelten.

Nach der morgendlichen Versammlung machte sich Napela mit Henry und Keau auf, den anderen Zweig auf der Halbinsel zu besuchen. Den Rest des Abends und den folgenden Morgen verbrachte Henry dann damit, zusammen mit Pater Damian die am schlimmsten von der Krankheit Betroffenen in der Siedlung zu besuchen.

Als Henry zurückkehrte, warteten Napela, Nehemia und Keau bereits auf ihn. Napela bat seine Gäste noch um einen Segen, bevor sie aufbrachen. Schon bald würde die Krankheit ihn und Kitty ans Bett fesseln, und sie würden Henry wahrscheinlich nie mehr wiedersehen.

Henry legte Napela die Hände auf und sprach einen Segen aus. Schweren Herzens nahmen die alten Freunde voneinander Abschied, und Henry, Keau und Nehemia machten sich über den steilen Bergpfad wieder auf den Rückweg.18


Im ländlichen Farmington in Utah saßen im Spätsommer Aurelia Rogers und zwei bekannte Leiterinnen der Frauenhilfsvereinigung aus Salt Lake City, Eliza Snow und Emmeline Wells, beim Abendessen. Die Frauen waren anlässlich einer Konferenz der Frauenhilfsvereinigung nach Farmington gekommen, und Aurelia, Sekretärin der örtlichen Frauenhilfsvereinigung, hatte eine Idee, die sie unbedingt mit den beiden besprechen wollte.19

Aurelia wusste sehr genau, was Kinder brauchen. Sie war zwölf, als ihre Mutter starb, sodass sie und ihre ältere Schwester für die vier jüngeren Geschwister sorgen mussten, während ihr Vater auf Mission war. Nun war sie über vierzig. Das jüngste ihrer sieben noch lebenden Kinder war ein erst drei Jahre alter Junge. In letzter Zeit hatte sie sich viele Gedanken um die kleinen Jungen in der Nachbarschaft gemacht. Sie waren laut und ungestüm und blieben oft bis spätabends draußen.

„Wie sollen unsere Mädchen bloß einen guten Ehemann bekommen?“, fragte Aurelia beim Abendessen. „Könnte man nicht eine Organisation für kleine Jungen ins Leben rufen und sie so erziehen, dass aus ihnen einmal gute Männer werden?“

Eliza gefiel der Gedanke sofort. Auch sie war der Meinung, dass die kleinen Jungen mehr geistige und moralische Führung benötigten, als sie in der Sonntagsschule oder der regulären Schule erhielten.

Eliza sprach mit John Taylor darüber, der den Plan guthieß. Auch den Bischof Aurelias, John Hess, bat sie um Unterstützung. Eliza schrieb ihm, was für eine Organisation ins Leben gerufen werden sollte, und Bischof Hess berief bald darauf Aurelia als Leiterin der neuen Primarvereinigung der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung seiner Gemeinde.

Als Aurelia dann überlegte, wie sie auf die Jungen in ihrer Gemeinde zugehen konnte, wurde ihr klar, dass bei den Treffen auch die Mädchen dabei sein mussten. Also schrieb sie Eliza und fragte, ob sie nicht auch die Mädchen zur Primarvereinigung einladen solle.

„Die Mädchen sollen auch mitmachen, wie die Jungen“, schrieb Eliza zurück. „Man muss sie gemeinsam unterrichten.“20

An einem Sonntag im August 1878 kamen Aurelia und Bischof Hess mit den Eltern der Kinder in Farmington zur Gründung der Primarvereinigung zusammen. Der Bischof war der erste Redner. „Ich hoffe, dass die Eltern erkennen, wie wichtig dieser Schritt ist“, sagte er. „Wenn etwas die volle Aufmerksamkeit der Eltern verdient, dann die Fürsorge für die Kinder.“ Bischof Hess setzte Aurelia und ihre Ratgeberinnen ein, dann sprach Aurelia begeistert über die Notwendigkeit, eine Organisation einzurichten, die die Eltern bei der Unterweisung der Kinder unterstützte.

„Ich bin überzeugt, dass dieser Schritt großen Nutzen bringen wird“, erklärte sie. Sie verglich die Kinder in Farmington mit einem Obstgarten voll junger Bäume. „Man muss ein Auge auf die Wurzeln der Bäume haben“, führte sie aus, „denn wenn die Wurzel gesund ist, gedeiht auch der Baum, und man wird wenig Ärger mit den Ästen haben.“21

Zwei Sonntage darauf kamen mehr als zweihundert Kinder zur ersten Versammlung der Primarvereinigung zusammen. Aurelia sorgte so gut es ging für Ordnung. Sie teilte die Kinder nach Alter in Klassen ein und beauftragte jeweils das älteste Kind der Klasse, auf die anderen achtzugeben. Beim nächsten Treffen bat sie die Kinder, die Hand zu heben, um sie und die anderen Führerinnen der Primarvereinigung im Amt zu bestätigen.

Aurelia lehrte die Kinder einfache und erprobte Grundsätze: Kein Kind ist besser als das andere. Meidet Streit mit anderen. Vergeltet Böses immer mit Gutem.22


Im September 1878, etwa einen Monat nach der Gründung der Primarvereinigung, sandte Präsident Taylor die Apostel Orson Pratt und Joseph F. Smith auf eine Sondermission. Sie sollten mehr Informationen über die Geschichte der Kirche in der Anfangszeit zusammentragen. Orson war der Geschichtsschreiber der Kirche, und Joseph war lange im Büro des Geschichtsschreibers tätig gewesen.

Auf ihrer Reise nach Osten machten Orson und Joseph in Missouri Halt, um David Whitmer zu besuchen, einen der drei Zeugen des Buches Mormon. Die Apostel wollten ihn zu den damaligen Ereignissen befragen und ihn bitten, ihnen das Manuskript zu verkaufen, das die Druckerei beim Setzen der Erstausgabe des Buches Mormon verwendet hatte. Martin Harris war 1875 in Utah gestorben, und David war der einzige noch verbliebene der drei Zeugen.

David erklärte sich mit einem Gespräch im Hotelzimmer der Apostel einverstanden. Er war 1838 aus der Kirche ausgeschlossen worden und seither nicht wieder zurückgekehrt. Vor kurzem hatte er jedoch mitgeholfen, eine Kirche zu gründen, die das Buch Mormon als heilige Schrift anerkannte. Inzwischen war David schon über siebzig, und er war sehr überrascht, als Orson sich ihm vorstellte. 1835 hatte David mitgewirkt, als Orson von Joseph Smith, Oliver Cowdery und Martin Harris zu einem der ersten Apostel dieser Evangeliumszeit berufen wurde. Zu jener Zeit war Orson ein schüchterner, schlanker junger Mann gewesen. Jetzt war er ziemlich beleibt und hatte Geheimratsecken und einen langen weißen Bart.23

Orson befragte David schon bald nach seinen Erinnerungen daran, wie ihm die Goldplatten gezeigt worden waren, von denen Joseph Smith das Buch Mormon übersetzt hatte.

„Das war im Juni 1829“, erzählte David. „So wie wir jetzt hier, saßen Joseph, Oliver und ich auf einem Baumstamm, als ein Licht erstrahlte.“ David erzählte, ein Engel sei dann mit den alten Berichten, den Urim und Tummim und anderen Gegenständen aus nephitischer Zeit erschienen.

„Ich sah sie so klar vor mir wie dieses Bett“, sagte er und schlug mit der Hand auf das Bett neben ihm. „Ich hörte die Stimme des Herrn – so deutlich, wie ich niemals zuvor etwas gehört hatte – verkünden, dass der Bericht von den Platten des Buches Mormon mit der Gabe und Macht Gottes übersetzt worden war.“

Orson und Joseph stellten weitere Fragen über die Anfangszeit der Kirche, und David antwortete ihnen so ausführlich er konnte. Sie erkundigten sich nach dem Druckmanuskript des Buches Mormon, das Oliver Cowdery David ausgehändigt hatte. „Würdest du es uns verkaufen?“, fragte Orson.

„Nein. Oliver hat mir aufgetragen, es aufzubewahren“, entgegnete David. „Mir ist das alles heilig, und ich würde mich nie davon trennen, auch nicht für Geld.“24

Am nächsten Tag zeigte David den Aposteln das Manuskript. Dabei merkte er an, der Herr habe gewollt, dass seine Diener das Buch Mormon in alle Welt tragen.

„Ja“, bestätigte Joseph, „und wir haben es zu den Dänen, den Schweden, den Spaniern, den Italienern, den Franzosen, den Deutschen, den Walisern und den Bewohnern der Inseln des Meeres gesandt.“

„Wie du siehst, Vater Whitmer“, fuhr Joseph fort, „ist die Kirche nicht untätig gewesen.“25


Später im Herbst reiste die siebenundsechzigjährige Ane Sophie Dorius mit ihrem ältesten Sohn Carl zum Tempel in St. George. Fast dreißig Jahre waren vergangen, seit Ane Sophie sich von Carls Vater Nicolai hatte scheiden lassen, nachdem er sich den Heiligen der Letzten Tage angeschlossen hatte. Inzwischen hatte sie aber ihre Bitterkeit der Kirche gegenüber abgelegt, das immerwährende Evangelium angenommen und ihre dänische Heimat verlassen, um sich nach Zion zu begeben. Jetzt stand sie kurz davor, an heiligen Handlungen teilzunehmen, die ihrer zersplitterten Familie Heilung ermöglichen würden.26

Ane Sophie war 1874, zwei Jahre nachdem Nicolai gestorben war, nach Utah ausgewandert. Vor seinem Tod hatte Nicolai die Hoffnung geäußert, er und Ane Sophie würden eines Tages für die Ewigkeit gesiegelt.27

Als Ane Sophie in Utah ankam, ließ sie sich im Sanpete Valley nieder, wo auch die Familien ihrer drei noch lebenden gemeinsamen Kinder wohnten – Carl, Johan und Augusta. Ihre Söhne hatte Ane Sophie im Laufe der Jahre hin und wieder gesehen, da sie mehrere Missionen in Skandinavien erfüllten. Augusta war jedoch schon sechsunddreißig und siebenfache Mutter, als sie sich nach über zwanzig Jahren zum ersten Mal wiedersahen.28

Ane Sophie fand eine Bleibe in Ephraim und widmete sich voller Freude ihrem neuen Leben als Mutter und Großmutter. Als Brigham Young und andere Führer der Kirche 1877 die Gemeinden und Pfähle neu ordneten, teilten sie die Gemeinde Ephraim und beriefen Carl zum Bischof der Gemeinde Ephraim Süd. Von da an konnte Ane Sophie jede Theatervorstellung und jedes Konzert in der Stadt ohne Eintrittskarte besuchen. Sie brauchte nur mit einem Lächeln zu sagen: „Ich bin die Mutter von Bischof Dorius.“

In Dänemark war Ane Sophie eine gute Bäckerin gewesen, und nach ihrer Ankunft in Utah kam dieses Talent ihrer Familie zugute. Wenn es eine gesellige Runde gab, zog sie sich gern hübsch an und servierte dänisches Gebäck. An ihrem Geburtstag steckte sie sich immer eine rote Geranie ans Kleid, backte einen großen Kuchen und lud alle Angehörigen und Freunde ein, mit ihr zu feiern.29

Ane Sophie und Carl betraten am 5. November den Tempel in St. George. Ane Sophie ließ sich für ihre Mutter taufen und auch für ihre Schwester, die als kleines Mädchen gestorben war. Carl empfing die heilige Handlung stellvertretend für Ane Sophies Vater. Am nächsten Tag empfing Ane Sophie das Endowment für sich selbst und später für ihre Mutter und ihre Schwester, während Carl es stellvertretend für seinen Großvater empfing. Auch Ane Sophies Eltern wurden gesiegelt, wobei Ane Sophie und Carl als Stellvertreter dienten.

An dem Tag, als sie das Endowment empfing, wurde Ane Sophie auch an Nicolai gesiegelt, mit Carl als Stellvertreter. Das Band, das im irdischen Leben zerbrochen war, war wiederhergestellt. Anschließend wurde Carl an seine Eltern gesiegelt; als Stellvertreter für seinen Vater amtierte der Apostel Erastus Snow, einer der ersten Missionare, die nach Dänemark entsandt worden waren.30


Anfang Januar 1879 brachen Emmeline Wells und Zina Presendia Williams, eine von Brigham Youngs Töchtern, aus Utah zu einer landesweiten Tagung von Frauenrechtlerinnen in Washington auf.31 Seit den Protestkundgebungen 1870 setzten sich die Frauen der Kirche nach wie vor in Utah und im Rest des Landes öffentlich für die Rechte der Frauen ein. Ihre Arbeit hatte sogar die Aufmerksamkeit einiger führender Frauenrechtsaktivistinnen auf sich gezogen, darunter Susan B. Anthony und Elizabeth Cady Stanton. Beide kamen im Sommer 1871 nach Salt Lake City und sprachen zu den Frauen der Kirche.32

Ihre Teilnahme an der Tagung in Washington wollten Emmeline und Zina Presendia nutzen, um sich beim Kongress für die Kirche und die Frauen in Utah einzusetzen. Einige Abgeordnete ließen nicht nach in ihren Anstrengungen, die Heiligen politisch zu schwächen, und hatten erst kürzlich vorgeschlagen, den Frauen in Utah das Wahlrecht zu entziehen. Emmeline und Zina Presendia wollten ihr Wahlrecht verteidigen und sich dagegen aussprechen, dass sich die Regierung in die Angelegenheiten der Kirche einmischte. Zudem suchten sie politische Unterstützung, da sich der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten ja gerade mit der Berufung gegen George Reynolds’ Verurteilung wegen Bigamie befasste.33

Es war nicht das erste Mal, dass Emmeline eine gewaltige Aufgabe für die Kirche in Angriff nahm. 1876, auf dem Höhepunkt der Grashüpferplage, war sie von Brigham Young, Eliza Snow und Anführerinnen der Mäßigungsbewegung als Leiterin für das Vorhaben, im Territorium Getreidevorräte anzulegen, bestellt worden. Bis Ende 1877 hatten die Frauenhilfsvereinigungen und Vereinigungen der Jungen Damen unter ihrer Führung mehr als zehntausend Scheffel Getreide gesammelt, und es waren zwei Getreidespeicher in Salt Lake City gebaut worden. Auf ihre Anweisung hin hatten viele Frauenhilfsvereinigungen im Territorium auch in den Gebäuden der Frauenhilfsvereinigung oder in den Gemeindehäusern Behälter mit Getreide gelagert.34

Emmeline, die mit Daniel Wells in Mehrehe lebte, war ebenfalls als unerschrockene Verteidigerin der Mehrehe und der Rechte der Frauen unter den Heiligen der Letzten Tage bekannt. Im Jahr 1877 wurde sie Herausgeberin der Frauenzeitung Woman’s Exponent und äußerte in den verschiedenen Rubriken ihre Meinung zu einer Vielzahl politischer und geistlicher Themen. Mit dieser neuen Verantwortung konnte sie sich zwar vor Arbeit kaum retten, aber sie war überzeugt, dass das Erscheinen dieser Zeitung von entscheidender Bedeutung für die Sache der Heiligen der Letzten Tage war.35

„Unsere Zeitung kommt der Gesellschaft zugute und macht sie besser“, schrieb Emmeline in ihr Tagebuch, kurz nachdem sie die Zeitung übernommen hatte. „Ich möchte all meine Kraft dafür einsetzen, die Lage unseres Volkes zu verbessern, vor allem die der Frauen.“36

Emmeline und Zina Presendia wurden bei ihrer Ankunft in Washington von George Q. Cannon, Susan B. Anthony und Elizabeth Cady Stanton in Empfang genommen. Zwei Tage zuvor, so erfuhren sie, hatte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten das Urteil gegen George Reynolds bestätigt und entschieden, dass die Verfassung zwar religiöse Ansichten schütze, jedoch nicht notwendigerweise daraus resultierende Handlungen. Die Entscheidung des Gerichts, gegen die man keine Berufung einlegen konnte, bedeutete, dass es der Bundesregierung freistand, Gesetze gegen die Mehrehe zu erlassen und durchzusetzen.37

In den nächsten Tagen nahmen Emmeline und Zina Presendia an der Frauentagung teil und verteidigten die Mehrehe und ihr Wahlrecht. „Die Frauen aus Utah haben noch nie ein Gesetz dieses Territoriums gebrochen“, stellte Emmeline fest, „und es wäre ungerecht und politisch unklug, ihnen dieses Recht zu entziehen.“

„Die Frauen aus Utah beabsichtigen nicht, auf ihre Rechte zu verzichten“, pflichtete ihr Zina Presendia bei, „sondern wollen ihren Schwestern landesweit zur Seite stehen.“38

Am 13. Januar machten sich Emmeline, Zina Presendia und zwei weitere Tagungsteilnehmerinnen auf den Weg zum Weißen Haus, wo sie von Präsident Rutherford Hayes empfangen wurden. Der Präsident bat die Gruppe in seine Bibliothek und hörte höflich zu, als die Frauen die auf der Tagung gefassten Beschlüsse verlasen, darunter auch manche, in denen er dafür getadelt wurde, dass er sich nicht stärker für die Frauenrechte einsetze.

Emmeline und Zina Presendia empfahlen dem Präsidenten auch eindringlich, Morrills Gesetz gegen die Polygamie von 1862 nicht in Kraft zu setzen. „Viele tausend Frauen würden plötzlich zu Ausgestoßenen“, gaben sie zu bedenken, „und ihre Kinder würden vor aller Augen als unehelich gelten.“

Präsident Hayes brachte zwar sein Mitgefühl zum Ausdruck, sagte jedoch keinerlei Hilfe zu. Bald darauf betrat seine Frau Lucy den Raum, hörte Emmeline und Zina Presendia freundlich zu und führte die Besucherinnen durchs Weiße Haus.39

In den nächsten Wochen sagten Emmeline und Zina Presendia vor einem Kongressausschuss aus und setzten sich in Gesprächen mit führenden Politikern für die Sache der Heiligen ein. Sie überreichten dem Kongress zudem ein Gesuch, das Morill-Gesetz aufzuheben. In dem Gesuch forderten sie den Kongress auf, Gesetze zu verabschieden, die die Rechtsstellung der in Mehrehe lebenden Frauen und ihrer Kinder anerkannten.40 Einige waren durchaus beeindruckt, dass sie die Glaubensansichten der Heiligen so mutig verteidigten. Andere behandelten sie wie eine Jahrmarktsattraktion oder beklagten sich darüber, dass in Mehrehe lebende Frauen auf der Tagung der Frauenrechtlerinnen überhaupt sprechen durften.41

Vor ihrer Abreise aus Washington nahmen Emmeline und Zina Presendia an zwei von Lucy Hayes gegebenen Gesellschaften teil. Trotz aller Anstrengungen war es Emmeline und Zina Presendia nicht gelungen, die Einstellung des Präsidenten zu den Heiligen zu ändern. Er war weiterhin entschlossen, die „weltliche Macht“ der Kirche in Utah zu zerschlagen. Dennoch schätzte Emmeline Lucys Freundlichkeit und bewunderte sie für ihren schlichten Geschmack, ihr gewinnendes Wesen und ihre Weigerung, im Weißen Haus Alkohol ausschenken zu lassen.

Bei einem Empfang am 18. Januar überreichte Emmeline Lucy das Buch The Women of Mormondom und einen persönlichen Brief. In das Buch hatte sie eine kurze Widmung geschrieben:

„Es würde mich freuen, wenn Sie dieses Buch als Zeichen der Wertschätzung einer mormonischen Ehefrau annehmen.“42