Geschichte der Kirche
22 Wie glühende Kohlen


„Wie glühende Kohlen“, Kapitel 22 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019

Kapitel 22: „Wie glühende Kohlen“

Kapitel 22

Wie glühende Kohlen

Bild
Neben einem gekenterten Boot ragen Hände aus dem Wasser

Als sich T. B. H. Stenhouse am 5. Juni 1863 mit Präsident Abraham Lincoln in Washington traf, dämmerte bereits der Abend. Der neununddreißigjährige Zeitungsverleger aus Schottland war ein in Europa wie in Amerika hoch angesehenes Mitglied der Kirche.

Als junger Mann hatte er Missionen in England, in Italien und in der Schweiz erfüllt. Später war er für die Missionare im Osten der Vereinigten Staaten zuständig und schrieb für die renommierte Zeitung New York Herald sowie für die Deseret News. Er und seine Frau Fanny waren bei den Heiligen in Salt Lake City sehr beliebt und wurden prominenten Besuchern des Salzseetals gern vorgestellt.1

Bei diesem Treffen mit Lincoln sollte er ausloten, inwieweit der Präsident geneigt wäre, den Heiligen in Utah Zugeständnisse in Richtung Selbstverwaltung zu machen. Allgemein wurde in Utah eher nicht erwartet, dass Lincoln das neue Gesetz gegen die Bigamie wirklich durchsetzen würde. Um ein Mitglied der Bigamie zu überführen, müssten die Kläger erst beweisen, dass eine derartige Eheschließung stattgefunden hatte. Dies war so gut wie unmöglich, da Eheschließungen in geschlossenem Rahmen im Endowment House stattfanden, auf dessen Aufzeichnungen die Staatsanwaltschaft keinen Zugriff hatte. Zudem schien es unwahrscheinlich, dass jemand in Utah wegen Ausübung der Bigamie verurteilt würde, solange sich unter den Geschworenen auch Mitglieder der Kirche befanden.2

Dennoch verübelten viele Heilige dem Präsidenten die Ernennung jener Spitzenbeamten, die in Utah nunmehr das Sagen hatten. Alfred Cumming, der seit 1858 nach Brigham Young den Gouverneursposten innegehabt hatte, war 1861 zurückgetreten. Er war den Mitgliedern stets wohlgesinnt gewesen. John Dawson, der neue, von Lincoln ernannte Nachfolger Cummings, machte sich bei den Heiligen sogleich unbeliebt, weil er 1862 deren Gesuch um Eigenstaatlichkeit eine Abfuhr erteilen wollte.3 Daraufhin wurde Stephen Harding ernannt. Er stammte aus Palmyra im Bundesstaat New York und kannte Joseph Smith aus seiner Jugendzeit. Dennoch stieß er die Heiligen prompt vor den Kopf, weil er, um das Gesetz gegen die Bigamie durchzubringen, mit verschiedenen Gesetzesvorlagen dafür sorgen wollte, dass Mitglieder der Kirche nicht Geschworene werden konnten.4

Der Präsident hörte Stenhouse zu. Dann sagte er scherzhaft, er könne sich an Gouverneur Hardings Namen schon gar nicht mehr erinnern, und brachte die Hoffnung zum Ausdruck, die Beamten, die er nach Utah entsandt habe, würden sich besser benehmen.

Doch zwei blutige Jahre Bürgerkrieg hatten Spuren hinterlassen. Lincoln sah müde aus und war von Kummer gezeichnet. Um das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden, hatte er vor kurzem in einer Bekanntmachung mitgeteilt, dass alle Sklaven aus den Südstaaten nunmehr frei seien und es Schwarzen gestattet sei, sich der Armee der Vereinigten Staaten anzuschließen. Doch die Armee der Südstaaten hatte der Union gerade in einer großen, verlustreichen Schlacht knapp hundert Kilometer südwestlich von Washington eine herbe Niederlage zugefügt, sodass Lincoln sich drängenderen Problemen gegenübersah als Streitigkeiten zwischen den Heiligen und den Regierungsbeamten.5

„Als ich jünger war“, erzählte Lincoln Stenhouse, „pflügte ich einmal ein frisch gerodetes Feld und stieß nach einer Weile auf einen riesigen Baumstamm. Ich konnte nicht einfach über ihn hinweg pflügen, dazu war er zu dick. Ich konnte ihn auch nicht wegzerren, dazu war er zu schwer. Und ich konnte ihn auch nicht verbrennen, dazu war er zu nass. Ich stand also da und schaute mir den Baumstamm an und überlegte hin und her und kam zu dem Schluss, dass ich um ihn herum pflügen müsse.“6

Er fuhr fort: „Gehen Sie zurück und sagen Sie Brigham Young, wenn er mich in Ruhe lässt, dann lasse auch ich ihn in Ruhe.“7

Bald darauf entließ Lincoln Gouverneur Harding und ernannte an dessen Stelle einen gemäßigteren Politiker.8


Im folgenden Januar erhielt der dreiunddreißigjährige Alma Smith einen Brief von der hawaiianischen Insel Lanai. Das kurze, dringliche Schreiben trug die Unterschrift von sechs Mitgliedern der Kirche auf Hawaii. Einer davon war Solomona, ein Ältester, der als Führer der Kirche auf Lanai eingesetzt worden war, als Alma und die anderen Missionare aus Utah 1858 Hawaii verlassen mussten.9

Alma las den Brief Wort für Wort durch und übersetzte aus dem Hawaiianischen ins Englische. Darin stand: „Der Grund, weshalb wir euch schreiben möchten, ist unser hier lebender Prophet, Walter M. Gibson. Stimmt es, dass er unser Führer ist?“10

Dass sich Walter Gibson auf Lanai befand, war keine Überraschung. Doch das Wort „Prophet“ klang beunruhigend. Die Erste Präsidentschaft hatte den bekannten Abenteurer 1861 auf eine gewagte Mission nach Japan und in weitere Länder in Asien und im Pazifik entsandt. Wenig später benachrichtigte er sie, dass er sich mit seiner Tochter Talula bei den Heiligen auf Lanai niedergelassen habe.11

Seither sandte Walter Berichte an Brigham Young über das vielversprechende Wachstum der Mission und der Ansiedlung auf Lanai. In einem Zeitungsbericht aus Hawaii aus dem Jahr 1862, der auch in den Deseret News abgedruckt wurde, las man nur Lobesworte über Walters Arbeit unter den Heiligen in Hawaii.12 Aber wieso bezeichneten ihn die Heiligen dort als ihren Propheten? Walter war Missionar, sonst nichts.

Alma las weiter. In dem Brief stand, Walter lehne Brigham Youngs Vollmacht ab und habe seine eigene Art des Priestertums auf der Insel aufgerichtet. „Er hat ein Kollegium von zwölf Aposteln sowie ein Kollegium der Siebziger ordiniert und auch eine Anzahl Bischöfe und Hohe Priester“, schrieben Solomona und die Heiligen. „Die Ordinierungsurkunden konnten nur mit Geld erworben werden, und wer nicht zahlte, der wurde auch nicht ordiniert.“13

Wie Walter mit dem Landbesitz der Kirche umging, klang ebenfalls besorgniserregend. Mit Geldspenden der hawaiianischen Mitglieder hatte er in eigenem Namen Land erworben und beanspruchte dieses nun für sich selbst. „Gibson sagt, dieses Land sei gar nicht für die Kirche und die Brüder hätten kein Recht und keinen Anspruch darauf“, berichteten die Heiligen. „Es gehöre nur ihm allein.“

Die Heiligen drängten Alma, ihren Brief Brigham Young zu zeigen. „Wir sind äußerst verwundert über diesen Fremden“, schrieben sie. „Wir misstrauen ihm zutiefst.“14

Alma überbrachte den Brief Brigham, der ihn am 17. Januar 1864 dem Kollegium der Zwölf vorlas. Die Apostel waren sich einig, dass umgehend gehandelt werden müsse. Walter hatte sich selbst als Prophet ausgegeben und die Kirche um Landbesitz gebracht. Und er unterdrückte die Heiligen in Hawaii.

„Ich möchte, dass zwei der Zwölf mit einigen jüngeren Brüdern, die schon zuvor dort waren, zu den Inseln fahren und die Kirche in Ordnung bringen“, sagte Brigham.15

Er wählte die beiden Apostel Ezra Benson und Lorenzo Snow für diese Mission aus. Sodann beauftragte er Alma Smith und zwei weitere ehemalige Missionare, Joseph F. Smith und William Cluff, mitzufahren und die beiden in Hawaii zu unterstützen.16

„Tut, was zu tun ist“, wies er sie an.17


Morgens am 31. März 1864 ging ein Schoner mit den beiden Aposteln und den drei Missionaren an Bord im Außenhafen von Lahaina auf Maui vor Anker. Während Joseph F. Smith mit dem Gepäck der Gruppe an Bord blieb, wurde ein kleineres Boot ins Wasser gelassen und Ezra Benson, Lorenzo Snow, William Cluff, Alma Smith und der Schiffskapitän kletterten hinein und steuerten auf das Ufer zu.

In Küstennähe brandeten gefährlich hohe Wellen gegen das Riff. William Cluff, der als Missionar schon oft diesen Hafen durchquert hatte, machte sich Sorgen, dass das Boot zerschellen könnte. Der Kapitän versicherte ihm jedoch, dass es nichts zu befürchten gebe, wenn sie weiterhin auf Kurs blieben.

Sekunden später wurde das Boot von einer riesigen Welle erfasst und mit dem Heck aus dem Wasser gehoben. Das Boot wurde in Richtung Riff geschleudert und dort von einer weiteren Woge erfasst, die das Heck so hoch aus dem Wasser hob, dass die Ruder nicht mehr hineinreichten. Als die Welle brach, kenterte das Boot und die Männer stürzten in die tosende See.18

Einen Augenblick lang war von den Passagieren nichts zu sehen. Dann tauchten William, Ezra und Alma wieder auf, schnappten nach Luft und schwammen auf das gekenterte Boot zu. Die Männer blickten sich nach Lorenzo und dem Kapitän um, doch die beiden waren nirgendwo zu entdecken.

Einige Hawaiianer hatten das Unglück von der Küste aus beobachtet und eilten ihnen sofort zu Hilfe. Während einige Retter William, Ezra und Alma aus dem Wasser zogen, tauchten andere nach den beiden Vermissten. Den Kapitän fanden die Taucher bald auf dem Meeresgrund, doch von Lorenzo fehlte nach wie vor jede Spur.

Dann jedoch sah William einen Hawaiianer auf ihr Boot zuschwimmen, der den leblosen Lorenzo hinter sich herzog. Das Boot wendete sogleich wieder, und William und Alma zogen den Apostel aus dem Wasser und legten ihn mit dem Gesicht nach unten über ihre Knie. Sein Körper war kalt und starr. Er atmete nicht.

Als William und Alma die Küste erreicht hatten, trugen sie Lorenzo an den Strand, legten ihn dort bäuchlings auf ein Fass und rollten es vor und zurück, bis Lorenzo Wasser zu spucken begann. Dann rieben sie ihm Arme und Oberkörper mit einem stark riechenden Öl ein und rollten ihn abermals mit dem Fass, um sicherzugehen, dass er alles Wasser ausgespuckt hatte. Lorenzo gab dennoch kein Lebenszeichen von sich.

„Wir haben alles getan, was man nur tun kann“, sagte einer der Männer an der Küste, der ihnen beigestanden hatte. „Es ist unmöglich, euren Freund zu retten.“

Weder William noch Alma wollte jedoch glauben, dass Gott Lorenzo den ganzen Weg nach Hawaii hatte kommen lassen, um ihn hier sterben zu lassen. Als kleiner Junge wäre Alma selbst fast gestorben, als der Pöbel seine Familie bei Hawn’s Mill in Missouri angegriffen hatte. Die Angreifer hatten seinen Vater und seinen Bruder getötet und ihn in die Hüfte geschossen, wodurch sein Hüftgelenk völlig zertrümmert worden war. Er wäre in der von Rauch erfüllten Schmiede, in der ihn das Geschoss getroffen hatte, beinahe verblutet. Seine Mutter flehte jedoch Gott um Hilfe an, und vom Heiligen Geist wurde ihr gezeigt, was sie tun konnte, um seine Wunde verheilen zu lassen.19

Vom Glauben getrieben, versuchten William und Alma erneut, Lorenzo wiederzubeleben. William kam der Gedanke, er solle Lorenzo seine Lippen auf den Mund pressen und dem Apostel so kräftig wie möglich die Lunge aufblasen. Dies wiederholte er wieder und wieder, bis er ein schwaches Röcheln aus Lorenzos Kehle vernahm. Das Geräusch ermutigte ihn, fortzufahren, bis aus dem Röcheln ein Ächzen wurde.

„Was ist los?“, flüsterte Lorenzo endlich.

„Du warst untergegangen“, sagte William. Er fragte den Apostel, ob er ihn erkenne.

„Ja, Bruder William. Ich wusste, dass du mich nicht aufgeben würdest“, antwortete dieser. „Und euch geht es allen gut?“

„Ja, Bruder Snow“, erwiderte William, „uns geht es allen gut.“20


Am folgenden Sonntag begleitete auch Joseph F. Smith seine Reisegefährten zur Siedlung der Kirche auf Lanai. Als sie dort ankamen, erkannten einige hawaiianische Mitglieder die ehemaligen Missionare und empfingen sie liebevoll und freudig.21

Walter Gibson trat den Aposteln und Missionaren am Eingang seines großen, strohgedeckten Hauses entgegen. Er hatte sie nicht erwartet, und sein Blick war flackernd und abwägend. Er gab ihnen kühl die Hand und stellte ihnen seine Tochter Talula vor, die nun schon über zwanzig war. Dann führte er sie ins Haus und servierte ihnen ein großes Frühstück mit Süßkartoffeln, gekochter Ziege und anderem. Die ganze Zeit über war sein Auftreten distanziert und förmlich.22

Nach dem Frühstück begleitete Walter die Männer zum Gottesdienst mit den hawaiianischen Heiligen. Ein aufwändig gekleideter „oberster Bischof“ läutete eine Glocke, um zum Gottesdienst zu rufen. Als die Mitglieder eintraten, setzten sich fünfzehn bis zwanzig junge Männer, die Kränze aus Blumen und grünen Blättern trugen, auf eine Bank vorne im Gemeindehaus. Siebzehn Jungen und siebzehn Mädchen, alle in einer Art Uniform, nahmen nahe dem Tisch Platz, an dem der Bischof mit den Männern, die Walter als Apostel eingesetzt hatte, saß.

Als Walter den Raum betrat und an den Versammelten vorbeiging, um sich am Tisch niederzulassen, standen alle auf und verneigten sich ehrerbietig vor ihm. Nach dem Anfangsgebet stand er auf und begrüßte die fünf Besucher aus Utah. „Ich weiß nicht, warum sie gekommen sind, aber sie werden es uns ja vielleicht sagen“, erklärte er.

„Eines jedenfalls will ich euch sagen“, fügte er hinzu. „Ich bin zu euch gekommen, habe euch Land gekauft und werde ganz bestimmt hier bleiben. In dieser Hinsicht bin ich unbeugsam!“23

Zwei Tage lang sprachen die Apostel mit Walter unter vier Augen. Sie stellten fest, dass seine Vergehen weit darüber hinausgingen, dass er Ordinierungen zum Priestertum gegen Geld verkaufte.24 Die ganze Geschichte war fast schon unglaublich.

Als Walter nach Lanai kam, sah er hier die Chance, ein großes pazifisches Reich zu errichten, wovon er schon lange geträumt hatte.25 Er überredete die hawaiianischen Heiligen, ihm ihren Viehbestand und Privateigentum zu überlassen, damit er auf der Insel Land erwerben konnte.26 Nachdem er die Heiligen mit seinem Traum vom Großreich angesteckt hatte, rief er auf der Insel eine Bürgerwehr ins Leben und bildete diese dafür aus, auf Nachbarinseln einzufallen. Außerdem entsandte er Missionare nach Samoa und auf weitere Inselstaaten Polynesiens, um die Bevölkerung dort auf das Leben unter seiner Herrschaft vorzubereiten.

Das Volk begann schon bald, ihm wie einem König zu huldigen. Wer sein Haus zu einer Audienz betrat, näherte sich ihm auf Händen und Knien. Um die Menschen einzuschüchtern, bezeichnete er einen ausgehöhlten Felsbrocken in der Nähe seines Hauses als Eckstein des Tempels. Er legte ein Buch Mormon und weitere Schriftstücke in die Höhlung, verdeckte diese mit Gebüsch und bläute den Heiligen ein, Gott würde sie heimsuchen, falls sie sich der Stätte näherten.

Als sich die Apostel und die Missionare vom Stand der Dinge ein Bild gemacht hatten, riefen Ezra Benson und Lorenzo Snow die Heiligen zusammen, um mit ihnen über Walters Zukunft als Anführer zu reden. Joseph diente dabei als Dolmetscher. Ezra legte Walter zur Last, dass er sich Grundstücke der Kirche angeeignet und die Priestertumsvollmacht missbraucht habe.

„Es ist unsere Pflicht, ihn aus der Gemeinschaft der Kirche auszuschließen“, erklärte Ezra, „und wenn er mit seinem Boot nicht gegensteuert und umkehrt, müssen wir ihn aus der Kirche ausschließen.“27

Walter flüsterte Talula etwas zu, die daraufhin schnell einen Stapel Papiere holte, die mit Siegeln und Bändern hübsch verziert waren. „Gentlemen, hier ist meine Vollmacht“, sagte er und zeigte auf die drei Unterschriften am unteren Seitenrand. „Euch wird bestimmt nicht entgehen, dass das die Unterschriften von Brigham Young und seinen beiden Ratgebern sind.“

Lorenzo las das Schriftstück. Es enthielt lediglich die Vollmacht, als Missionar auf den Inseln des Meeres das Evangelium zu verkünden. „Dieses Dokument berechtigt dich nicht, über die Hawaiianische Mission zu präsidieren“, erwiderte Lorenzo. „Diese Vollmacht hast du widerrechtlich an dich gerissen.“28

„Ich war bei Präsident Young“, entgegnete Walter. „Er hat mir die Hände aufgelegt und mir einen Segen gegeben. Und Gott der Allmächtige hatte seinen Geist schon vor meiner Begegnung mit Brigham reichlich über mich ausgegossen. Als ich nämlich im Gefängnis lag, wurde mir offenbart, dass ich ein großes, ein gewaltiges Werk zu verrichten habe.“

Walter sprach schnell und wandte sich flehentlich an die Hawaiianer im Raum. „Ich bin euer Patriarch“, meinte er. „Diese Männer hier sind gekommen, euch euer Land und euer Geld wegzunehmen. Ist das denn Liebe? Wer liebt euch? Doch wohl ich. Wer sind meine Kinder und meine Freunde? Sie mögen aufstehen!“

Joseph F. Smith beobachtete die Versammelten. Walters Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, und fast alle standen auf. Traurigkeit erfüllte Josephs Herz und ein Schatten verdüsterte seine Hoffnungen für die Ansiedlung.29


Walter war nach dem Treffen auffallend freundlich zu den fünf Männern. Als feststand, dass sie am folgenden Abend die Insel verlassen wollten, bot er ihnen Pferde an, sodass sie zum Strand reiten konnten, und sein eigenes Boot samt Ruderern, das sie nach Maui bringen sollte. Außerdem überreichte er Ezra Benson einen schmucken Gehstock und 9,75 Dollar – alles, was er an Geld in der Tasche hatte. Er weigerte sich jedoch vehement, seine Missionarslizenz oder die Ländereien, die er ergaunert hatte, zurückzugeben.30

Nachdem Ezra Benson und Lorenzo Snow Lanai verlassen hatten, begaben sie sich wieder nach Utah, ließen jedoch Joseph F. Smith zurück, der über die Hawaiianische Mission präsidieren sollte. Da die Missionare die Grundstücke, die Walter den Mitgliedern auf Lanai abgenommen hatte, auf dem Rechtsweg nicht wiedererlangen konnten, entschlossen sie sich, auf anderen Inseln den Glauben erneut zu entfachen. Joseph beauftragte Alma Smith, auf Maui und auf der Hauptinsel Hawaii Missionsarbeit zu verrichten, während er selbst auf Oahu und William Cluff auf Kauai arbeitete.31

Einige Heilige bereuten es, zuvor Walter unterstützt zu haben. Jonathan Napela, der gemeinsam mit George Q. Cannon das Buch Mormon übersetzt hatte, hatte die letzten beiden Jahre als Präsident der von Walter eingesetzten zwölf Apostel gedient. Aber er fühlte sich hintergangen, als ihm klar wurde, dass Walter nie die Vollmacht besessen hatte, ihn zu diesem Amt zu ordinieren.32

Napela fing an, sich mit den Heiligen auf Maui zu treffen. Die meisten von ihnen waren von Walter enttäuscht. Er hatte fast alle Gemeindehäuser verkauft und ihnen verboten, sich zum Gottesdienst zu versammeln, das Evangelium zu predigen, in den Schriften zu lesen oder mit der Familie zu beten. Infolgedessen waren sie geistig schwach geworden und antriebslos, weil ihnen Walter so vieles genommen hatte.33

Alma verbrachte viel Zeit damit, auf Maui die Berge zu durchqueren und die verstreut lebenden Heiligen zu besuchen. Zu Beginn des Sommers hatte Walters Einfluss schon merklich abgenommen. Immer mehr Heilige verließen Lanai und ließen sich auf Maui nieder. Oft brachten sie kaum mehr mit als die Kleider, die sie auf dem Leib trugen. Die Episode mit Walter war eine Glaubensprüfung für sie gewesen, und nur wenige Mitglieder, die zurückkehrten, hielten ihre Taufbündnisse.

„Wir können nicht erkennen, dass das Evangelium ihnen auch nur einen Deut hilft, weil ja keiner danach lebt!“, klagte Joseph in einem Schreiben an Brigham Young. „Sie haben unser Beispiel ständig vor Augen und unsere Worte klingen ihnen in den Ohren – da sollte man doch erwarten, dass einige von ihnen es besser machen würden, doch dem ist nicht so.“34

Brigham gab Joseph und den anderen amerikanischen Missionaren den Rat, nach Hause zurückzukehren, wenn der Heilige Geist sie dazu bewege. Er fand, dass die Mitglieder in Hawaii letzten Endes selbst für ihr geistiges Wachstum zuständig waren. „Mir scheint, du könntest die Angelegenheiten der Mission in die Hände der einheimischen Brüder legen“, schrieb er Joseph und den anderen Missionaren. Die Mitglieder in Hawaii hatten das Evangelium und das Priestertum schon vor Jahren empfangen und verfügten über alle Mittel, die Kirche selbst zu verwalten.35

Als Brighams Rat Hawaii erreichte, war Joseph den hawaiianischen Heiligen gegenüber jedoch bereits etwas milder gestimmt. „Wir verspüren nicht den Wunsch, die Mission im Stich zu lassen“, schrieb er zurück. Aber er wollte die Zahl der amerikanischen Missionare auf den Inseln verringern und einige hawaiianische Älteste ordinieren, über die verschiedenen Inseln zu präsidieren.

Joseph gab diese Veränderungen im Oktober bekannt und berief bei einer missionsweiten Konferenz in Honolulu einige Hawaiianer in Führungsämter. Nach Joseph sprach Kaloa, ein Ältester aus Hawaii, und bezeugte seine Entschlossenheit, in der Kirche zu dienen. „Ich war ein Junge, als diese Brüder zum ersten Mal auf die Inseln kamen“, sagte er. „Jetzt bin ich ein Mann. Lasst uns nicht länger Kinder sein, sondern Männer im Glauben und reich an guten Werken.“

Dann erhob sich Napela und rief die Heiligen zu einem rechtschaffenen Lebenswandel auf. „Wir wurden von Gibsons listigen Worten getäuscht und in die Irre geführt und haben dadurch die heiligen Bündnisse, die wir geschlossen haben, gebrochen“, sagte er. „Aber jetzt sind wir von dieser Täuschung frei; lasst uns daher unsere Bündnisse erneuern und treu bleiben.“

Kanahunahupu, ein weiterer Ältester aus Hawaii, legte ebenfalls Zeugnis ab. „Die Worte, die heute gesprochen worden sind“, sagte er, „sind wie glühende Kohlen.“36


Am Ende der Konferenz gaben Joseph F. Smith und William Cluff bekannt, dass sie demnächst wieder nach Utah zurückkehren würden. Brigham benachrichtigte Joseph ein paar Wochen später, dass er beabsichtige, Francis Hammond, Josephs ehemaligen Missionsleiter in Hawaii, zu seinem Nachfolger zu berufen.37

Da Joseph und die anderen Missionare die Ansiedlung auf Lanai verloren hatten, suchten sie nach einem neuen Sammlungsort für die Heiligen. Im Sommer fanden sie schließlich auf der Hauptinsel einen vielversprechenden Ort. Der Preis war allerdings höher, als es sich die Mitglieder auf Hawaii leisten konnten.

Nach dem Misserfolg der Ansiedlung auf Lanai scheuten sich viele Heilige außerdem davor, Geld in einen weiteren Sammlungsort zu investieren. Und jede Familie wollte die neue Siedlung sowieso auf der eigenen Insel und unweit ihres Zuhauses haben.38

Nach der Herbstkonferenz jedoch ermächtigte Brigham Young die führenden Brüder der Mission, mit Geldern der Kirche ein Grundstück anzukaufen.39 Da sich Joseph und William wegen des Grundstückes auf der Hauptinsel nicht schlüssig waren, sahen sie sich nach weiteren möglichen Sammlungsorten um, die sie Francis empfehlen könnten. Ein letztes Mal besuchten sie die Zweige auf Kauai und Oahu.

Eines Tages, sie waren gerade auf Oahu bei einem kleinen Zweig in der Nähe einer Plantage, ging William ein Stück allein spazieren. Die Plantage lag an der Nordostküste am Fuße hoher, bewaldeter Berge und war zweieinhalbtausend Hektar groß. Im Gegensatz zu der Siedlung in Lanai verfügte Laie über genügend Wasserreserven.

William war niedergeschlagen und fühlte sich ein wenig verlassen. In einem nahen Dickicht kniete er sich zum Beten nieder. Als er sich erhob, noch immer schlapp und lustlos, entdeckte er einen Pfad, der sich durch Wiesen und dichtes Gestrüpp schlängelte. Er folgte dem Pfad eine Weile und hatte dann zu seiner Überraschung eine Vision, in der ihm Brigham Young entgegenkam.

William begrüßte ihn, als wäre er tatsächlich da, und die beiden setzten sich ins Gras. Brigham sprach über die Schönheit der Plantage, den fruchtbaren Boden, die grünen Berge und die Wellen, die sanft gegen den Strand schlugen. „Ein herrlicher Ort“, sagte er abschließend. „Bruder William, diesen Ort wollen wir als Sitz unserer Mission erwerben.“

William war danach wieder allein, erstaunt und verwundert, aber auch überzeugt, dass er den richtigen Sammlungsort für die Mitglieder in Hawaii gefunden hatte.40