Geschichte der Kirche
28 Bis zum Kommen des Menschensohnes


„Bis zum Kommen des Menschensohnes“, Kapitel 28 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020

Kapitel 28: „Bis zum Kommen des Menschensohnes“

Kapitel 28

Bis zum Kommen des Menschensohnes

Bild
St.-George-Tempel

Am 19. Juni 1875 brach Brigham Young von Salt Lake City auf, um Siedlungen im mittleren Utah zu besuchen.1 Er war gerade vierundsiebzig geworden, und das Reisen fiel ihm zunehmend schwer. Seine von Arthritis befallenen Gelenke schmerzten bei jeder Bewegung. Doch der Besuch der Siedlungen brachte ihn den Heiligen näher – und vergrößerte erfreulicherweise auch den Abstand zu den jüngsten rechtlichen Schwierigkeiten der Kirche.

Nachdem George Reynolds wegen Bigamie angeklagt worden war, brach der Bundesstaatsanwalt William Carey das Versprechen, das er den Führern der Kirche gegeben hatte, und klagte George Q. Cannon ebenfalls wegen Bigamie an. Im Fall George Cannons wurde die Klage zwar später abgewiesen, aber Reynolds wurde vor Gericht gestellt, schuldig gesprochen, mit einer Geldstrafe von dreihundert Dollar belegt und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Der oberste Gerichtshof des Territoriums hob jedoch Reynoldsʼ Verurteilung auf, nachdem seine Anwälte eingewendet hatten, er habe sich vor einem rechtswidrig aufgestellten Geschworenengericht verantworten müssen. Nun, da Reynolds wieder auf freiem Fuß war, waren die Ankläger fest entschlossen, ihn erneut vor Gericht zu bringen.2

Ann Eliza Young, die in Mehrehe mit Brigham Young gelebt, sich aber von ihm abgewandt hatte, hatte sich in jüngster Zeit ausgerechnet mit Kritikern der Kirche zusammengetan, um eine Scheidung zu bewirken. Sie verlangte über 200.000 Dollar an Unterhalt und anderen Ansprüchen. Diese Klage wiesen Brighams Anwälte mit der Begründung ab, dies sei maßlos übertrieben. Zudem vertraten sie die Ansicht, Ann Eliza könne sich nicht vor Gericht von Brigham scheiden lassen, weil ja die Mehrehe in den Vereinigten Staaten gar nicht gesetzlich anerkannt war. Richter James McKean entschied jedoch zu Ann Elizas Gunsten und schickte Brigham für eine Nacht ins Gefängnis, da dieser sich auf Anraten seiner Anwälte so lange weigerte zu zahlen, bis sie vor einem höheren Gericht Revision eingelegt hatten.

Die Entscheidung des Richters wurde jedoch landesweit in den Zeitungen als Vorwand entlarvt, Brigham öffentlich bloßzustellen, wofür die Journalisten den Richter verurteilten und verspotteten. Wenige Tage später wurde McKean vom Präsidenten der Vereinigten Staaten durch einen anderen Richter ersetzt, und Brigham zahlte Ann Eliza Anwaltskosten in Höhe von dreitausend Dollar.3

Zwei Tage nachdem er Salt Lake City verlassen hatte, trafen Brigham und seine Begleiter mit der Frauenhilfsvereinigung in Moroni zusammen, einem kleinen Ort im Sanpete Valley. Eliza Snow und Mary Isabella Horne, die mit dem Propheten unterwegs waren, spornten die Frauen in Moroni an, weiterhin zusammenzuarbeiten und wirtschaftlich unabhängig zu sein. Mary Isabella forderte sie auf, das Reich Gottes in ihrem Leben an die erste Stelle zu setzen. „Für das, was wir zu erhalten hoffen“, betonte sie, „müssen wir auch arbeiten.“

Anschließend sprach Eliza über die religiöse Bildung. Einige Familien im Sanpete Valley schickten ihre Kinder in eine neu eröffnete Schule, die von einem Missionar einer anderen Glaubensgemeinschaft geleitet wurde. Die Führer der Kirche befürchteten, dass der dort erteilte Unterricht dem widersprach, was die Kinder von ihren Eltern und in der Kirche lernten.

„Die Kinder Zions sollen auch in Zion unterrichtet werden“, teilte Eliza den Frauen mit. „Sie sollen erkennen können, dass euch eure Religion am allerwichtigsten ist.“4

In anderen angrenzenden Siedlungen forderte Brigham die Heiligen auf, mit größerem Eifer genossenschaftlich zusammenzuarbeiten. Zwei Jahre zuvor hatte die landesweite Wirtschaftskrise auch Utah in Mitleidenschaft gezogen. Mehrere genossenschaftlich geführte Geschäfte und Industriebetriebe im Territorium hatten die Finanzkrise jedoch überstanden und bestärkten Brigham in seinem Glauben an genossenschaftliche Zusammenarbeit.

Seitdem rief er die Heiligen immer wieder dazu auf, wie das Volk Henoch vor alters zu leben, die eines Herzens und eines Sinnes waren und unter denen es keine Armen gab.5 Das System, auch als „die Vereinigte Ordnung Henochs“ bekannt, erinnerte an die Offenbarung des Herrn über das Gesetz der Weihung. Die Mitglieder der Ordnung sollten wie eine Familie füreinander sorgen und großzügig ihre Arbeitskraft und Privateigentum beisteuern, um Betriebe mit eigener Herstellung zu fördern und die lokale Wirtschaft anzukurbeln.

Viele Heilige hatten in ihrer Gemeinschaft bereits eine Vereinigte Ordnung aufgebaut. Trotz struktureller Unterschiede beruhten diese Ordnungen alle auf den gleichen Werten, nämlich wirtschaftliche Zusammenarbeit, Selbstversorgung und Schlichtheit.6

Bei einer Versammlung mit den Mitgliedern in Sanpete sprach Apostel Erastus Snow darüber, wie die Heiligen im Süden Utahs durch die Vereinigte Ordnung gesegnet worden waren. „Manche unter uns neigen dazu, auf so egoistische Art zu arbeiten, dass einige wenige sich auf Kosten der vielen Armen bereichern“, stellte er fest. „Das ist schon an sich ein Übel.“

„Bei der Vereinigten Ordnung geht es darum, dass wir lernen, mit unserem Eigentum richtig umzugehen“, ergänzte Brigham später am selben Tag, „und uns der Erfüllung von Gottes Absichten widmen.“7

Zum Abschluss seiner Rundreise durch das Sanpete Valley sprach Brigham vor den örtlichen Führern der Kirche. „Wir können hier Tempel bauen, und zwar mit geringeren Kosten als den in Salt Lake“, sagte er ihnen. „Traut ihr euch zu, diese Aufgabe zu übernehmen und hier einen Tempel zu bauen?“

Jeder im Raum hob die Hand zum Zeichen seiner Unterstützung, und alle waren sich einig, dass es dem Propheten zukommen sollte, einen geeigneten Ort auszuwählen. Brigham hatte mehrere mögliche Standorte besichtigt und gab seine Entscheidung am nächsten Tag bekannt.

„Ich würde sagen, dass sich all meine Gedanken einzig auf den Ausläufer des Berges richten, der auf Manti zeigt“, verkündete er.8


Als Brigham aus dem mittleren Utah zurückkehrte, war ein Mann namens Meliton Trejo in Salt Lake City damit beschäftigt, das Buch Mormon ins Spanische zu übersetzen. Meliton war ein Veteran aus Spanien und war im Spätsommer 1874 von den Philippinen nach Salt Lake City gekommen. Bei seiner Ankunft in Utah hatte er seine Militäruniform getragen und sofort neugierige Blicke auf sich gezogen.

Damals wusste er nur wenig über die Kirche. Er hatte nur von den Heiligen gehört, die in den Rocky Mountains lebten, und wollte sie eines Tages besuchen. Als er noch in den Philippinen war, betete er eines Nachts um Führung. Daraufhin hatte er einen Traum, in dem ihm aufgetragen wurde, die Reise anzutreten. Er trat aus der Armee aus, vernähte sein ganzes Geld in seiner Weste und reiste mit dem Schiff nach San Francisco.

In Salt Lake City angekommen, lernte Meliton einen Mann kennen, der Spanisch sprach und ihn Brigham Young und anderen Führern der Kirche vorstellte.9 Kurz zuvor hatte Brigham zwei Männer, Daniel Jones und Henry Brizzee, aufgefordert, sich auf eine Mission in Mexiko vorzubereiten. Überzeugt davon, dass einige der Nachkommen der im Buch Mormon erwähnten Völker dort lebten, wollte Brigham ihnen unbedingt das Evangelium bringen. Er wusste jedoch, dass Parley Pratts Bemühungen, das Evangelium nach Lateinamerika zu bringen, 1851 fehlgeschlagen waren, was unter anderem daran lag, dass es das Buch Mormon nicht auf Spanisch gab.10

Brigham hatte Daniel und Henry aufgetragen, im Rahmen ihrer Vorbereitungen die Sprache zu lernen und nach und nach das Buch Mormon zu übersetzen. Zwar konnten beide schon etwas Spanisch, aber allein der Gedanke, heilige Schrift zu übersetzen, war beängstigend. Keiner von beiden hatte ausreichende Sprachkenntnisse. Sie brauchten einen Muttersprachler, der sie unterstützen konnte.

Melitons Ankunft betrachteten sie als ein Geschenk des Himmels. Sie lehrten ihn das Evangelium, und er nahm von ganzem Herzen die Taufe an.11 Daniel lud Meliton anschließend ein, den Winter über bei ihm zu wohnen, um an der Übersetzung zu arbeiten.

Meliton verbrachte mehrere Monate damit, den heiligen Text zu übersetzen. Als das Geld ausging, erhielt Daniel von Brigham Young die Erlaubnis, die Heiligen um Spenden zu bitten. Mehr als vierhundert Spender gaben Geld, um Meliton zu unterstützen und die Kosten der Drucklegung zu begleichen.

Nachdem er die Übersetzung überarbeitet hatte, wollte Daniel unter dem Titel Trozos selectos del Libro de Mormon hundert Seiten mit Auszügen aus der Übersetzung drucken lassen.12 Da Brigham jedoch darauf drängte, dass Daniel eine korrekte Übersetzung vorlegte, vereinbarte dieser mit Meliton, den Text noch einmal gemeinsam Korrektur zu lesen. Im Verlauf der Arbeit erbat Daniel Gottes Beistand, um etwaige Fehler ausfindig zu machen. Wann immer ihm im Text etwas unstimmig vorkam, bat er Meliton um Hilfe. Der befasste sich dann eingehend mit der Übersetzung und nahm die notwendige Korrektur vor. Daniel spürte, dass Meliton und er in ihrem Werk vom Herrn geführt wurden.

Kurz nachdem der Auszug Trozos selectos gedruckt war, wurden Daniel und andere Missionare nach Mexiko berufen. Meliton wurde nicht beauftragt, sie zu begleiten, aber er hoffte, dass die Arbeit der Missionare Früchte tragen würde.13

Die Missionare brachen im Herbst 1875 auf. Vor der Abreise luden Daniel und die anderen Missionare fünfzehnhundert sorgfältig verpackte Exemplare der Trozos selectos auf den Rücken von Packeseln. Dann brachen sie auf – über unbefestigte Wege und voller Vorfreude darauf, den Menschen in Mexiko das Buch Mormon vorzustellen.14


Etwa zu der Zeit herrschte in Salt Lake City große Aufregung über die Nachricht, dass ein Besuch von Präsident Ulysses Grant bevorstand. Noch nie zuvor hatte ein Präsident der Vereinigten Staaten das Territorium besucht, und man bildete rasch ein Empfangskomitee aus Amtsträgern des Territoriums, Würdenträgern und weiteren Bürgern der Stadt. Brigham Young gehörte dazu, ebenso John Taylor und Joseph F. Smith.15

Grant traf im Oktober im Territorium ein, und Brigham begegnete ihm und seiner Frau Julia in einem Zug in Ogden. Brigham konnte die Reisegesellschaft kurz begrüßen, doch dann ließ sich der Präsident mit der Bemerkung entschuldigen, er wolle den Aussichtswagen des Zuges aufsuchen.

„Ich möchte mir unbedingt die Landschaft ansehen“, erklärte Grant.

Als der Präsident fort war, meinte Julia: „Ich weiß gar nicht, wie ich Sie anreden soll, Mr. Young.“

„Manchmal werde ich als Gouverneur angesprochen“, erwiderte Brigham, „manchmal aber auch als Präsident oder aber als General Young.“ Den letzten Titel hatte er Jahre zuvor als Offizier in der Nauvoo-Legion erhalten.

„Da ich militärische Dienstgrade gewohnt bin, werde ich die zuletzt genannte Anrede verwenden“, befand Julia. Ihr Mann, ein Held des Amerikanischen Bürgerkriegs, hatte einen Großteil seines Lebens als Offizier in der Armee verbracht.

„Nun, Madam“, sagte Brigham, „jetzt werden Sie die Gelegenheit haben, dieses arme, verachtete und gehasste Volk zu erleben.“

„Ach nein, General Young“, erwiderte Julia sogleich. „Im Gegenteil, Ihr Volk kann man für seine Ausdauer, seine Beharrlichkeit und seinen Glauben nur respektieren und bewundern.“ Dann fügte sie hinzu: „Es gibt gegen Ihr Volk – gegen Sie, General – nur einen einzigen Einwand.“

Julia musste ihren Einwand nicht aussprechen, schließlich war ihr Mann ein entschiedener Gegner der Mehrehe. „Nun“, sagte Brigham, „ohne das wäre unsere Bevölkerung nicht so zahlreich.“

„Die Landesgesetze untersagen es aber“, entgegnete Julia, „und der starke Arm des Staates hätte dem längst den Garaus gemacht, wenn man nicht Mitleid mit den Jungen und Unschuldigen gehabt hätte, die notwendigerweise darunter gelitten hätten.“

Noch bevor Brigham antworten konnte, lud ihn ein Stabsoffizier ein, sich dem Präsidenten im Aussichtswagen anzuschließen, und Brigham verabschiedete sich von der First Lady.

In Salt Lake City angekommen, trennte sich Brigham vom Ehepaar Grant und äußerte die Hoffnung, dass der Besuch den beiden gefallen werde. Vom Bahnhof aus brachen die Grants dann mit George Emery, dem Gouverneur des Territoriums, zu einer Stadtrundfahrt auf. Als sie sich dem Tempelplatz näherten, sahen sie Reihen von weißgekleideten Kindern, die mit ihren Sonntagsschullehrern die Straßen säumten. Als die Kutsche mit dem Ehepaar Grant vorbeifuhr, streuten die Kinder Blumen auf die Straße und sangen ein Lied für die Besucher.

Präsident Grant war sichtlich beeindruckt und fragte: „Wessen Kinder sind das?“

„Kinder von Mormonen“, lautete die Antwort des Gouverneurs.

Der Präsident schwieg daraufhin eine Weile. Alles, was er über die Heiligen vom Hörensagen wusste, hatte ihn glauben lassen, dass es sich um ein sittlich verkommenes Volk handeln müsse. Doch das Aussehen und Verhalten dieser Kinder stand dem entgegen.

„Ich habe mich täuschen lassen“, murmelte er.16


Im folgenden Winter erhob sich Samuel Chambers in einer Sitzung des Diakonskollegiums im Pfahl Salt Lake und gab Zeugnis. Er war wie die anderen Männer in seinem Kollegium mittleren Alters. „Ich bin wegen meiner Religion hergezogen“, eröffnete Samuel den Männern. „Ich habe alles verkauft, was ich hatte, und bin hierhergekommen, um mich am Aufbau des Gottesreiches zu beteiligen.“

Samuel gehörte bereits seit über dreißig Jahren der Kirche an. Er war im Süden der Vereinigten Staaten in Sklaverei geboren und hatte sich mit dreizehn Jahren taufen lassen, nachdem ein Missionar ihm das Evangelium verkündet hatte. Als Sklave war es Samuel nicht möglich gewesen, sich den anderen Heiligen in Nauvoo anzuschließen. In den folgenden Jahren hatte er wenig Kontakt zur Kirche, blieb jedoch durch den Einfluss des Heiligen Geistes seinem Glauben treu.

Als der Bürgerkrieg schließlich vorüber war und die Versklavten in den Vereinigten Staaten freigelassen wurden, hatten er und seine Frau Amanda nicht genügend Geld, um nach Utah zu ziehen. Fünf Jahre lang arbeiteten sie und sparten jeden Cent, bevor sie die Reise endlich antreten konnten. Im April 1870 kamen sie zusammen mit Samuels Sohn Peter in Utah an. Auch Amandas Bruder Edward Leggroan zog mit seiner Frau Susan und den drei Kindern nach Utah.17

Familie Chambers und Familie Leggroan wohnten daraufhin Tür an Tür und gehörten zum Gebiet der Gemeinde Salt Lake City 1. Richard und Johanna Provis, ein gemischtes Paar aus Südafrika, wohnten ebenfalls im Gebiet dieser Gemeinde. Die Leggroans schlossen sich 1873 der Kirche an und zogen bald darauf mit Familie Chambers ins Gebiet der Gemeinde 8 um, wo auch Jane Manning James, deren Mann Frank Perkins und einige weitere schwarze Mitglieder lebten.18

In diesen Gemeinden verehrten die Heiligen, ob schwarz oder weiß, Gott Seite an Seite. Auch wenn die Kirche zu der Zeit schwarzen Mitgliedern die Ordinierung zum Priestertum vorenthielt, war Samuel als nicht ordinierter Assistent des Diakonskollegiums tätig und gab jeden Monat in den Kollegiumsversammlungen Zeugnis. Amanda arbeitete mit Jane in der Frauenhilfsvereinigung mit. Sie zahlten den Zehnten und weitere Spenden und besuchten regelmäßig die Versammlungen. Als dazu aufgerufen wurde, für den Tempel in St. George zu spenden, gab Samuel fünf Dollar, und Jane und Frank spendeten jeweils fünfzig Cent.

Zusammen mit mehreren anderen schwarzen Mitgliedern hatten Samuel und Amanda kurz zuvor auch an Taufen für Verstorbene im Endowment House teilgenommen. Dabei ließen sie sich stellvertretend für mehr als zwei Dutzend Freunde und Verwandte taufen. Edward Leggroan ließ sich für den ersten Mann seiner Frau taufen. Jane Manning James ließ sich für eine Jugendfreundin taufen.19

Samuel war dankbar für seine Mitgliedschaft in der Kirche und die Möglichkeit, dem Diakonskollegium Zeugnis zu geben. „Wenn ich nicht Zeugnis gebe, wie sollt ihr dann wissen, was in mir vorgeht“, meinte er, „oder was in euch vorgeht? Aber wenn ich aufstehe und rede, weiß ich, dass ich Freunde habe, und wenn ich euch so sprechen höre wie mich, weiß ich, dass wir eins sind.“20


Am 5. April 1876 zerriss am späten Nachmittag ein ohrenbetäubender Knall die Frühlingsluft in Salt Lake City. Ein riesiger Feuerball erhob sich über dem Hügel im Norden, wo Schwarzpulver in Steinbunkern lagerte. Irgendetwas hatte den Sprengstoff entzündet und das Waffenlager zerstört.

Im Schulgebäude der Gemeinde 20, wo Karl Mäser seinen Unterricht abhielt, löste sich durch die Explosion ein Teil der Gipsdecke und krachte auf den Boden. Karl sollte an dem Abend im Schulgebäude einen Vortrag halten und machte sich deshalb sofort auf den Weg zum Bischof, um ihm den Schaden zu melden.21

Er traf ihn im Büro des Propheten an, wo sich der Bischof gerade mit Brigham Young besprach. Er berichtete von den schweren Schäden am Schulgebäude und sagte den beiden, dass der Unterricht erst fortgesetzt werden könne, wenn der Schaden behoben sei.

„Genau so ist es, Bruder Mäser“, erwiderte Brigham. „Ich habe eine andere Aufgabe für dich.“22

Karl war etwas bange zumute. Erst wenige Jahre zuvor war er von einer Mission in Deutschland und der Schweiz zurückgekehrt. Seine Festanstellung in der Schule der Gemeinde 20 war für seine Familie ein Segen. Sie hatten sich in Salt Lake City ein behagliches Heim eingerichtet und fühlten sich dort wohl.23

Doch Brigham wollte nicht, dass er weit fortzog. Wie Eliza Snow machten sich auch Brigham und andere Führer der Kirche Sorgen um die Bildung und Erziehung der heranwachsenden Generation. Der Glaube dieser jungen Leute war weder durch Verfolgung in der Anfangszeit der Kirche geprüft worden noch durch Erfahrungen mit Bekehrung und Einwanderung gefestigt.24

Brigham hatte nichts gegen Universitäten und weltliches Wissen – einige seiner Söhne waren sogar im Osten der Vereinigten Staaten auf dem College gewesen. Dennoch bereitete es ihm große Sorge, dass junge Heilige in Utah von Leuten unterrichtet wurden, die dem wiederhergestellten Evangelium äußerst kritisch gegenüberstanden. An der 1850 gegründeten University of Deseret konnten sich auch Studenten anderer Glaubensrichtungen einschreiben, und die Glaubensansichten der Heiligen der Letzten Tage standen nicht auf dem Lehrplan. Brigham wollte den Jugendlichen der Kirche Bildungsmöglichkeiten eröffnen, die ihren Glauben stärkten und zum Aufbau einer Zionsgesellschaft beitrugen.25

Mit dieser Zielsetzung hatte er sogar kurz zuvor in Provo eine Schule, die Brigham-Young-Akademie, gegründet. Das erste Semester war gerade zu Ende gegangen, und nun bot er Karl die Leitung dieser Schule an.

Karl äußerte sich nicht sofort zu Brighams Angebot. Doch zwei Wochen später hatte er der Ernennung zugestimmt und suchte den Propheten auf. „Ich stehe kurz davor, nach Provo aufzubrechen, Bruder Young, um meine Stelle in der Akademie anzutreten“, kündigte Karl an. „Wie lauten deine Anweisungen?“

„Bruder Mäser“, sagte Brigham, „denk immer daran, dass du noch nicht einmal das Alphabet oder das Einmaleins unterrichten sollst, ohne den Geist Gottes bei dir zu haben.“26


Später im Jahr veranstaltete jede Gemeinde in Salt Lake City ein Fest, um Geld für die Fertigstellung des Tempels in St. George zu sammeln. Heber Grant war damals ein junger Mann von zwanzig Jahren. Da er zuverlässig war und viele Freunde hatte, beauftragte ihn Bischof Edwin Woolley von der Gemeinde 13 mit der Organisation des Fests für seine Gemeinde. „Mach diese Feier zu einem Erfolg“, trug er Heber auf.

Im Vorjahr war Heber als Ratgeber in der Leitung der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Männer seiner Gemeinde berufen worden. Diese auf Geheiß von Brigham Young 1875 neu gegründete Organisation diente dazu, die jungen Männer in den Gemeinden wie auch schon zuvor die jungen Damen zu organisieren. Heber hatte als Führer den jungen Männern zu helfen, ihre Talente zu entwickeln und ihr Zeugnis vom Evangelium zu stärken.27

Was den Auftrag von Bischof Woolley anging, hatte er jedoch Bedenken. „Ich werde mein Bestes geben“, versprach er, „aber die Gemeinde muss auf jeden Fall den Differenzbetrag übernehmen, wenn die Kosten nicht gedeckt sind.“

Er erklärte, dass junge Menschen bei Tanzveranstaltungen auch Walzer tanzen wollten. Dieser beliebte Tanz bedeutete aber, dass sich die Tanzpaare Arm in Arm in einem großen Kreis auf der Tanzfläche drehten. Viele hielten damals den Walzer für weniger anständig als die traditionellen Quadrille-Tänze. Aber es war bekannt, das Brigham Young bei Tanzveranstaltungen drei Walzer gestattete. Bischof Woolley hingegen missbilligte diesen Tanz und hatte für Veranstaltungen der Gemeinde 13 ein entsprechendes Verbot verhängt.28

Jetzt aber lenkte er ein: „Gut, ihr könnt eure drei Walzer haben.“

„Eines noch“, fuhr Heber fort. Ohne eine gute Tanzkapelle würde er kaum Eintrittskarten verkaufen können. „Die Quadrille-Kapelle von Olsen darf hier in der Gemeinde ja nicht spielen, weil der Flötist einmal betrunken war“, sagte er zum Bischof. „Aber es gibt nun einmal nur eine einzige erstklassige Tanzkapelle, nämlich Olsens.“

Widerwillig gab der Bischof sein Einverständnis, diese Tanzkapelle zu engagieren. „Der Bursche hat alles bekommen, was er wollte“, knurrte er im Gehen. „Ich mache ihm in aller Öffentlichkeit die Hölle heiß, wenn das kein voller Erfolg wird.“

Heber bat Eddie, den Sohn des Bischofs, ihm beim Kartenverkauf und bei der Vorbereitung des Gemeindehauses zu helfen. Sie räumten Schreibtische aus einem großen Raum, legten geliehene Teppiche auf den Boden und hängten Bilder von Brigham Young und anderen Führern der Kirche an die Wände. Dann beauftragten sie einige junge Männer damit, an ihrem Arbeitsplatz Werbung für die Tanzveranstaltung zu machen.

Am Tag des Festes saß Heber an der Tür, vor sich eine alphabetische Liste der Kartenkäufer. Er ließ niemanden hinein, der nicht die anderthalb Dollar für eine Eintrittskarte bezahlt hatte. Da stand auf einmal Brigham Young vor ihm – ohne Karte.

„Das Geld kommt wohl dem Tempel in St. George zugute, ja?“, sagte Brigham. Er warf zehn Dollar hin. „Reicht das für meine Eintrittskarte?“

„Das ist mehr als genug“, antwortete Heber, der unsicher war, ob er dem Propheten vielleicht Wechselgeld herausgeben sollte.

Am Abend zählte Heber das Geld und Brigham die Walzer. Die Gemeinde nahm über achtzig Dollar ein, mehr als jede andere Gemeinde für den Tempel gesammelt hatte. Und die jungen Leute tanzten ihre drei Walzer.

Kurz vor Ende des Festes flüsterte Heber jedoch dem Kapellmeister zu, sie sollten eine Walzerquadrille spielen – einen Walzer also, der Elemente des klassischen Square Dance enthielt.

Als die Kapelle zu spielen begann, setzte sich Heber neben Brigham, um zu hören, was dieser sagen würde, wenn der vierte Walzer kam. Kaum begannen die jungen Leute zu tanzen, bemerkte Brigham wie erwartet: „Das ist ein Walzer!“

„Nein“, erklärte Heber, „beim Walzer tanzt man im Kreis herum. Das ist eine Quadrille.“

Brigham sah Heber an und lachte. „Oh, ihr Jungs, ihr Jungs!“, sagte er.29


Kurz nach der Tanzveranstaltung der Gemeinde 13 machte sich Brigham mit Wilford Woodruff auf den Weg nach Süden, um erste Bereiche des St.-George-Tempels zu weihen. Der Tempel würde zwar nicht vor dem Frühjahr fertiggestellt sein, aber es standen schon einige Räume für heilige Handlungen zur Verfügung.30 Im Tempel in Nauvoo und im Endowment House hatten die Heiligen das Endowment bisher nur für Lebende durchgeführt. Nach der Weihung des St.-George-Tempels sollte das Endowment erstmals auch für Verstorbene vollzogen werden.31

Als Brigham sich der Siedlung näherte, war der Tempel sofort zu sehen. Aus der Ferne erinnerte er an den Tempel in Nauvoo, aus der Nähe erkannte man aber die schlichtere Bauweise. Hohe Fenster reihten sich aneinander, und schmucklose Pfeiler stützten die hohen weißen Mauern. Der von einer Kuppel gekrönte Turm erhob sich über den Zinnen, die wie bei einer Festung das Dach säumten.32

Am Neujahrstag 1877 drängten sich über zwölfhundert Menschen im Untergeschoss des Tempels zur Weihung des Taufbereichs.33 Wilford Woodruff stieg auf die oberste Stufe der Treppe zum Taufbecken und bat die Heiligen um ihre Aufmerksamkeit. „Mir ist klar, dass ihr euch in diesem überfüllten Raum nicht niederknien könnt“, sagte er, „aber ihr könnt das Haupt neigen und Gott euer Herz zuwenden.“

Nachdem Wilford das Weihungsgebet gesprochen hatte, begaben sich alle nach oben in einen Versammlungsraum. Brigham konnte in letzter Zeit wegen seiner Arthritis kaum noch gehen und wurde folglich von drei Männern hinaufgetragen. Erastus Snow weihte den Raum, dann trugen die drei Männer Brigham weitere Treppen hinauf, damit dieser einen Siegelungsraum weihen konnte.

Als Brigham in den Versammlungsraum zurückkehrte, hatte er Mühe, sich am Pult aufrecht zu halten. Er stützte sich auf seinen Gehstock und sagte: „Ich kann mich nicht damit abfinden, dieses Haus zu verlassen, ohne all meine Kraft aufzubieten – die Kraft meiner Lunge, meines Leibes und meiner Sprechorgane.“

Brigham wollte, dass sich die Heiligen der Erlösung der Toten widmeten. „Wenn ich über dieses Thema nachdenke, wünsche ich mir die Stimme von sieben Donnern, um die Menschen wachzurütteln“, erklärte er. „Können die Väter ohne uns errettet werden? Nein. Können wir ohne sie errettet werden? Nein. Und wenn wir nicht aufwachen und davon ablassen, die Dinge dieser Welt zu begehren, werden wir feststellen, dass jeder Einzelne von uns zur Hölle fahren wird.“

Brigham beklagte, dass viele Heilige nach irdischen Gütern strebten. „Angenommen, wir wären uns dieser Sache, nämlich der Erlösung der Menschenkinder, voll bewusst – dieses Haus wäre von Montagmorgen bis Samstagabend überfüllt, so, wie wir es uns erhoffen.“

Als Brigham zum Ende seiner Predigt kam, hob er seinen Gehstock in die Luft. „Ich weiß ja nicht, ob sich die Leute mit den Weihungsgottesdiensten für den Tempel zufriedengeben“, setzte er an. „Ich jedenfalls bin noch lange nicht zufrieden und werde auch nicht zufrieden sein, bis der Teufel geschlagen und vom Erdboden vertrieben worden ist.“

Bei diesen Worten ließ Brigham seinen Gehstock so heftig auf das Pult niedersausen, dass Kerben im Holz zurückblieben.

„Wenn ich das Pult ruiniere“, meinte er, „können diese guten Handwerker es ja wieder reparieren.“34


Am 9. Januar stieg Wilford Woodruff mit Brighams Tochter Susie in das Taufbecken des Tempels. Sie war inzwischen achtzehn Jahre alt und mit einem jungen Mann namens Alma Dunford verheiratet. Brigham, auf eine Krücke und einen Gehstock gestützt, war Zeuge, als Wilford Susie für eine ihrer verstorbenen Freundinnen taufte – die erste Taufe für Verstorbene im St.-George-Tempel. Dann legten Wilford und Brigham Susie die Hände auf und konfirmierten sie stellvertretend für die Verstorbene.

Zwei Tage später beaufsichtigten Wilford und Brigham die ersten Endowments, die jemals in einem Tempel für Verstorbene vollzogen wurden. Danach verbrachte Wilford fast jeden Tag mit Tempelarbeit. Er trug dabei einen weißen Anzug. Es war das erste Mal, dass jemand im Rahmen der Tempelzeremonien weiße Kleidung statt der üblichen Sonntagskleidung trug. Susies Mutter Lucy, die sich ebenfalls der Tempelarbeit widmete, trug ein weißes Kleid, um den Frauen ein Beispiel zu geben.35

Als Wilford im Tempel arbeitete, bat Brigham ihn und andere Führer der Kirche, die Zeremonien für das Endowment und die anderen heiligen Handlungen im Tempel niederzuschreiben. Seit der Zeit Joseph Smiths war der Wortlaut der heiligen Handlungen nur mündlich weitergegeben worden. Nun, da sie in einiger Entfernung vom Hauptsitz der Kirche vollzogen wurden, wollte Brigham eine schriftliche Aufzeichnung der Zeremonien, um sicherzustellen, dass sie in jedem Tempel auf die gleiche Weise durchgeführt wurden.36

Mit der Vereinheitlichung der heiligen Handlungen erfüllte Brigham einen Auftrag, den Joseph Smith ihm erteilt hatte, nachdem in Nauvoo die ersten Mitglieder das Endowment empfangen hatten. „Es ist nicht richtig angeordnet, aber wir haben unter den gegebenen Umständen unser Bestes gegeben“, hatte Joseph ihm damals mitgeteilt. „Ich möchte, dass du diese Angelegenheit in die Hand nimmst und diese Zeremonien strukturierst und systematisierst.“37

Wilford und andere arbeiteten wochenlang an diesem Auftrag. Nachdem sie die Zeremonien niedergeschrieben hatten, lasen sie diese Brigham vor, der sie guthieß oder überarbeitete, wie der Heilige Geist ihn anwies. Als sie fertig waren, sagte Brigham zu Wilford: „Jetzt hast du das Muster vor dir. So kann das Endowment in allen Tempeln vollzogen werden bis zum Kommen des Menschensohnes.“38