Geschichte der Kirche
25 Die Würde unserer Berufung


„Die Würde unserer Berufung“, Kapitel 25 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020

Kapitel 25: „Die Würde unserer Berufung“

Kapitel 25

Die Würde unserer Berufung

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Schlagzeile: „Die große Protestkundgebung“

In einer Mitteilung im Utah Magazine bestritten Elias Harrison und William Godbe am 30. Oktober 1869, fünf Tage nach dem Treffen mit dem Hoherat, den Vorwurf des Abfalls vom Glauben. Sie bezichtigten die Führer der Kirche der Willkür und beklagten, die Heiligen wären nicht frei, sich eigene Gedanken zu machen und selbständig zu handeln. Überzeugt davon, dass in spiritistischen Sitzungen tatsächlich Geister zu ihnen gesprochen hätten, hielten sich beide für berufen, die Kirche zu reformieren. Sie waren daher fest entschlossen, ihre Zeitschrift auch weiterhin herauszugeben und unter den Heiligen Gleichgesinnte anzuwerben.

„Künftig wird sich aus unseren Gebirgstälern heraus noch ein Banner emporheben, geschmückt mit einem offeneren Gottesglauben, einem edleren Christentum, einer reineren Frömmigkeit, als die Erde sie je erblickt hat“, versprach Elias.1

Brigham Young riet zwar den Heiligen davon ab, das Utah Magazine zu lesen, unternahm aber nichts, um die Zeitschrift aufzulösen.2 Im Laufe seiner bald vierzig Jahre währenden Mitgliedschaft in der Kirche hatte er bereits einige Gegenbewegungen im Sande verlaufen sehen. Er ließ Elias und William weiterhin lästern und suchte in der Zwischenzeit die Siedlungen im Utah Valley und im Sanpete Valley auf.

Auf der Fahrt Richtung Süden fand Brigham blühende Ortschaften vor, wo vordem kleine Forts und Backsteinhütten gestanden hatten. Einige Heilige besaßen bereits eine Werkstatt oder einen Betrieb, wo sie Waren herstellten. Zwar war keine Siedlung zur Gänze wirtschaftlich eigenständig, doch ein paar verfügten schon über einen funktionierenden Genossenschaftsladen.3

Allerorten setzten die Heiligen Brigham das Beste vor und bereiteten mitunter ein wahres Festmahl zu. Er war höflich genug, solche Speisen nicht abzulehnen, bevorzugte aber einfachere Mahlzeiten, die mit weniger Aufwand zubereitet worden waren. Jahre zuvor hatte er auf seiner Mission in England bei einer Mahlzeit mit den Heiligen lediglich einen schlichten Becher und ein Taschenmesser zur Hand genommen. Eine Scheibe Brot hatte den Teller ersetzt. In nur fünf Minuten war danach wieder aufgeräumt, und die Heiligen hatten mehr Zeit für den Gedankenaustausch.

Auf seinem Weg in den Süden bemerkte Brigham jedoch, dass so manche Frau sogar die Versammlungen der Kirche ausfallen ließ, weil sie so sehr damit beschäftigt war, eine aufwändige Mahlzeit vorzubereiten oder nach dem Essen wieder aufzuräumen.4 Er bedauerte auch, dass viele gut situierte Männer und Frauen in der Kirche einen extravaganten Lebensstil pflegten – manchmal auf Kosten ihres geistigen Wohlergehens. Brigham wollte, dass alle Heiligen, er selbst eingeschlossen, Mäßigung pflegten und zu einem einfacheren Lebensstil zurückkehrten.

„Die nutzlosen Angewohnheiten und die verschwenderische Extravaganz der Männer sind in unserer Gemeinschaft einfach lächerlich“, stellte er fest.

In der Schule der Propheten hatte Brigham den Männern geraten, nicht dem zu folgen, was in der Welt Mode war, sondern ihren eigenen Stil zu entwickeln, geschneidert aus Stoffen, die im Territorium hergestellt wurden. Auch die Frauen rief er bisweilen dazu auf, keine kunstvoll verzierten Gewänder aus teuren Stoffen aus dem Osten zu nähen, sondern stattdessen Tuch zu verarbeiten, das im Territorium hergestellt wurde. Jede Art von Luxus führte seiner Ansicht nach häufig zu Konkurrenzdenken unter den Heiligen und stahl ihnen Zeit, die sie besser für ihr geistiges Weiterkommen nutzen konnten. Der Hang zu Ausgefallenem war in seinen Augen ein Zeichen weltlicher Gesinnung und unvereinbar mit dem Geist der Zusammenarbeit, der Zion auszeichnen sollte.5

Solche Gedanken bewegten Brigham, als er und seine Begleiter in Gunnison ankamen, einer Ortschaft am Südende des Sanpete Valley. Dort unterhielt er sich mit Mary Isabella Horne aus Salt Lake City, die gerade ihren Sohn in Gunnison besuchte. Mary Isabella war eine resolute, treue Führungspersönlichkeit unter den Frauen der Kirche. Wie Brigham gehörte sie schon seit den 30er Jahren der Kirche an und hatte um des Evangeliums willen schon so manche Entbehrung auf sich nehmen müssen. Derzeit war sie Leiterin der Frauenhilfsvereinigung in der Gemeinde Salt Lake City 14.6

„Schwester Horne, ich erteile dir einen Auftrag, mit dem du gleich nach deiner Rückkehr beginnen kannst. Der Auftrag lautet, die Frauen und Töchter Israels zur Mäßigung anzuhalten“, sagte Brigham. „Es ist nicht recht, dass sie so viel Zeit dafür aufwenden, Mahlzeiten zuzubereiten und ihren Körper zu schmücken, und dabei ihre geistige Weiterbildung vernachlässigen.“

Mary Isabella widerstrebte es anfangs, diese Aufgabe anzunehmen. Der Aufruf zur Mäßigung würde ja bedeuten, dass sie die Frauen dazu auffordern müsste, ihre Arbeit und ihren Lebensstandard zu vereinfachen. Dabei fanden Frauen oft Erfüllung, Zufriedenheit und Anerkennung darin, dass sie feine Speisen zubereiteten und für sich und ihre Lieben hübsche Kleidung nähten. Die Aufforderung, ihre Arbeit zu vereinfachen, wäre gleichbedeutend damit, dass sie ihr Selbstbild ändern und auch ihren Beitrag zur Gesellschaft anders sehen müssten.7

Brigham Young drängte Mary Isabella jedoch, den Auftrag anzunehmen, denn er war überzeugt, dass die Frauen dann mehr Möglichkeiten hätten, geistig zu wachsen. „Ruf die Frauen der Frauenhilfsvereinigung zusammen und bitte sie, bei der Zubereitung der Mahlzeiten und bei der Haushaltsführung Änderungen vorzunehmen“, sagte er. „Mir schwebt eine Gesellschaft vor, in der man sich mit einem leichten, schmackhaften Frühstück für sich und die Kinder begnügt, statt dass vierzig verschiedene Speisen aufgetischt werden.“

Mary Isabella war zwar ob der Durchführung noch unschlüssig, doch sie nahm den Auftrag an.8


Etwa zur selben Zeit begab sich James Crockett mit seinem Cousin William Homer nach Kirtland in Ohio. James war kein Heiliger der Letzten Tage. William allerdings hatte gerade eben seine Mission in Europa beendet und wollte vor seiner Rückkehr nach Utah noch den Ort sehen, wo die Heiligen zuvor gewohnt hatten. Kirtland lag keine hundertfünfzig Kilometer vom Wohnort seines Cousins James entfernt, und so hatten die beiden beschlossen, die Fahrt gemeinsam zu unternehmen.

In Kirtland wollte William auch Martin Harris, einen der drei Zeugen des Buches Mormon, besuchen, der inzwischen als selbsternannter Verwalter des Kirtland-Tempels tätig war. Martins Sohn hatte Williams Schwester geheiratet, und William hoffte, den alten Mann überreden zu können, ins Territorium Utah zu seiner Familie zu ziehen.

Martins Verhältnis zur Kirche war jedoch ziemlich angespannt. Vor mehr als dreißig Jahren hatte sich Martin Harris nach dem Bankrott der Kirtland Safety Society von Joseph Smith abgewandt. In der Folge hatte er sich mal dieser, mal jener Gruppierung ehemaliger Heiliger der Letzten Tage zugehörig gefühlt. Als seine Frau Caroline in den 50er Jahren mit den Kindern nach Utah ausgewandert war, hatte er sich geweigert, mitzukommen.

In Kirtland besuchten James und William bald nach ihrer Ankunft Martin Harris in seinem Häuschen. Sie trafen einen kleinen, ärmlich gekleideten Mann mit dünnem, wettergegerbtem Gesicht und unzufriedenem Blick an. William stellte sich als Missionar aus Utah und als Schwager von Martins Sohn vor.

„Also einer dieser Brigham-Mormonen, nicht wahr?“, raunzte Martin.9

William wollte Martin von seinen Angehörigen in Utah erzählen, doch der alte Mann schien nicht zuzuhören. Stattdessen sagte er: „Ihr wollt doch wohl den Tempel sehen, oder?“

„Wenn es recht ist“, antwortete William.

Martin kramte einen Schlüssel hervor und führte James und William zum Tempel. Das Äußere des Gebäudes befand sich soweit in gepflegtem Zustand. Die Außenmauern waren noch ordentlich verputzt, und das Gebäude verfügte über ein neues Dach und einige neue Fenster. Drinnen jedoch fiel der Putz von der Decke und den Wänden, und die Holzarbeiten waren teils verschmutzt, teils beschädigt.

Während sie von Raum zu Raum gingen, gab Martin Zeugnis für die heiligen Geschehnisse, die sich in diesem Tempel ereignet hatten. Aber bald wurde er müde und musste sich setzen.

„Glaubst du immer noch daran, dass das Buch Mormon wahr ist und dass Joseph Smith ein Prophet war?“, wollte William wissen.

Der alte Mann schien mit einem Schlag wieder hellwach zu sein. „Ich habe die Platten gesehen. Ich habe den Engel gesehen. Ich habe die Stimme Gottes gehört“, bezeugte er mit einer Stimme, die vor Aufrichtigkeit und Gewissheit nur so bebte. „Würde ich die göttliche Echtheit des Buches Mormon oder die göttliche Berufung Joseph Smiths anzweifeln, so könnte ich ebenso gut meine eigene Existenz anzweifeln.“

Es war, als ob bei diesem Zeugnis ein Funke überspringe. Vor Kirtland hatte James nicht geglaubt, doch das, was er soeben vernommen hatte, drang ihm tief ins Herz. Von einem Augenblick auf den anderen schien Martin plötzlich nicht mehr ein alter, verbitterter Mann zu sein, sondern ein Mann mit edlen Ansichten, erleuchtet von Gott und seiner Sache sicher.

William fragte Martin, wieso er denn so machtvoll Zeugnis ablegen könne, wo er doch die Kirche verlassen habe.

„Ich habe die Kirche nie verlassen“, erwiderte Martin. „Die Kirche hat mich verlassen.“

„Möchtest du nicht gern deine Angehörigen wiedersehen?“, wollte William wissen. „Präsident Young wäre bestimmt nur allzu gern bereit, dir die Fahrt nach Utah zu ermöglichen.“

Martin schnaubte verächtlich. „Er würde nichts tun, was nur irgendwie recht ist.“

„Ich könnte ihm ja eine Nachricht überbringen“, schlug William vor.

Martin überdachte das Angebot. „Rede mit Brigham Young“, sagte er endlich. „Sag ihm, ich würde gern Utah, meine Verwandten und meine Kinder besuchen. Ich würde dazu Unterstützung von der Kirche annehmen, aber persönliche Gefälligkeiten möchte ich nicht.“

William sagte zu, die Botschaft zu überbringen, und Martin verabschiedete sich von seinen Besuchern. Draußen legte James seinem Cousin die Hände auf die Schultern und schaute ihm geradewegs in die Augen:

„Irgendetwas in mir bestätigt mir, dass der alte Mann die Wahrheit sagt“, erklärte er. „Ich weiß, dass das Buch Mormon wahr ist.“10


Während William Homer mit Martins Botschaft ins Territorium Utah zurückkehrte, wurden in der Hauptstadt Washington neue Gesetzesvorschläge eingebracht, die Morrills Bigamiegesetz aus dem Jahr 1862 weiter untermauern sollten. Im Dezember 1869 legte Senator Aaron Cragin einen Gesetzesentwurf vor, der den Heiligen, die Polygamie praktizierten, unter anderem ihr Recht auf ein Geschworenenverfahren aberkennen sollte. Noch im gleichen Monat legte der Abgeordnete Shelby Cullom einen weiteren Gesetzesentwurf vor: Heiligen der Letzten Tage, die in Mehrehe lebten, sollten eine Geldstrafe und eine Haftstrafe auferlegt und die Staatsbürgerschaft aberkannt werden.11

Am 6. Januar 1870, drei Tage nachdem eine Abschrift dieses Entwurfs im Territorium Utah angekommen war, fanden sich Sarah Kimball und Frauen aus der Frauenhilfsvereinigung der Gemeinde Salt Lake City 15 im Obergeschoss des Gebäudes der Vereinigung ein, um ihren Protest gegen die vorgeschlagenen Gesetze zu organisieren. In ihren Augen stellten Gesetze gegen die Polygamie eine Einschränkung der Religionsfreiheit dar, verletzten die Freiheit des Gewissens und zielten darauf ab, die Heiligen zu erniedrigen.

„Wir wären unseres Namens und des Blutes in unseren Adern nicht würdig“, sprach sie, „wollten wir noch länger schweigen, während dem Repräsentantenhaus ein derartig niederträchtiger Gesetzesentwurf vorgelegt wird.“12

Die Frauen verfassten Entschließungsanträge, um ihren moralischen Einfluss geltend zu machen und das Gesetz zu Fall zu bringen. Sie brachten ihre Empörung über diejenigen zum Ausdruck, die dem Kongress derartige Entwürfe vorgelegt hatten, und beschlossen, dem Gouverneur von Utah einen Antrag auf das Stimmrecht für Frauen im Territorium zu überbringen. Außerdem beschlossen sie, zwei Repräsentantinnen nach Washington zu entsenden, die die Interessen der Heiligen vertreten sollten.

Eine Stunde später stieß auch Eliza Snow zur Versammlung, um den anderen Beistand zu leisten. Sie vertrat die Ansicht, die Mitglieder der Frauenhilfsvereinigung schuldeten es sich selbst und ihren Kindern, dass sie vehement für die Kirche und ihre Lebensweise eintraten. Allzu oft wurden die Frauen der Kirche in auflagenstarken Zeitungen, politischen Karikaturen, Romanen und Reden verunglimpft und als arme, unterdrückte Opfer der Mehrehe dargestellt. „Die Würde unserer Berufung erfordert es, dass wir uns erheben und für uns selbst Partei ergreifen“, forderte sie die Frauen auf.13

In der kommenden Woche war es kalt und es fiel Schnee. Doch am 13. Januar trotzten mehr als dreitausend Frauen den Unbilden des Wetters und kamen zur „großen Protestkundgebung“ im alten Backsteintabernakel in Salt Lake City zusammen, um gegen die Gesetzesentwürfe von Cragin und Cullom vorzugehen. Sarah Kimball führte den Vorsitz. Abgesehen von einer Handvoll Reporter waren bei dem Treffen keine Männer anwesend.

Nachdem die Versammlung eröffnet worden war, trat Sarah ans Rednerpult. Auch wenn sich überall im Land bereits Frauen öffentlich zu politischen Fragen geäußert hatten, insbesondere zum Frauenwahlrecht und zur Abschaffung der Sklaverei, war eine solche Vorgehensweise doch keineswegs unumstritten. Doch Sarah war entschlossen, den Frauen der Kirche in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. „Haben wir gegen irgendein Gesetz der Vereinigten Staaten verstoßen?“, rief sie in die Menge.

„Nein!“, riefen die Frauen zurück.

„Warum sind wir dann heute hier?“, fragte Sarah weiter. „Wir wurden von Ort zu Ort gejagt, und warum? Nur weil wir an das Gotteswort, wie es im Evangelium des Himmels enthalten ist, glauben und uns daran halten.“14

Ein Komitee aus mehreren Leiterinnen von Frauenhilfsvereinigungen, darunter Mary Isabella Horne, Rachel Grant und Margaret Smoot, verlas sodann eine offizielle Protestnote gegen die polygamiefeindlichen Gesetze. „Wir nehmen geschlossen jedwede moralische Macht und jedes Recht in Anspruch, das wir als Töchter amerikanischer Staatsbürger besitzen, die Verabschiedung solcher Gesetzesentwürfe zu verhindern“, erklärten sie, „da wir wissen, dass sie unweigerlich ein schlechtes Licht auf unsere republikanische Regierung werfen würden, weil sie die Freiheit ihrer treuesten und friedlichsten Bürger beschneiden und deren Lebensgrundlage gefährden.“15

Weitere Frauen wandten sich ebenfalls mit eindringlichen Worten an die Versammelten. Amanda Smith schilderte, wie vor dreißig Jahren ihr Mann und ein Sohn beim Massaker von Hawn’s Mill umgebracht worden waren und ein weiterer Sohn verwundet worden war. „Lasst uns zur Wahrheit stehen, selbst wenn wir dafür sterben müssen!“, rief sie aus, und im Tabernakel entlud sich ein Beifallssturm.

Phebe Woodruff tadelte die Vereinigten Staaten dafür, dass sie den Heiligen die Religionsfreiheit verwehrten. „Wenn sich die Regierenden in unserem Staat so weit vom Geist und vom Buchstaben unserer glorreichen Verfassung entfernen, dass sie unseren Propheten, Aposteln und Ältesten die Staatsbürgerschaft aberkennen und sie einsperren, weil sie dieses Gesetz halten“, erklärte sie, „dann mögen sie uns doch wenigstens diese eine, unsere letzte, Bitte gewähren, nämlich dass die Gefängnisse groß genug gebaut werden, dass auch die Frauen dort untergebracht werden können, denn wo sie hingehen, da gehen auch wir hin.“

Eliza Snow sprach als Letzte: „Mein Wunsch ist es, dass wir Mütter und Schwestern in Israel für Wahrheit und Rechtschaffenheit eintreten und jene unterstützen, die sie verkünden“, erklärte sie. „Lasst uns eifriger denn je darangehen, unseren Verstand zu bilden und einen moralisch derart starken Charakter zu entwickeln, dass er nirgendwo auf dem ganzen Erdboden überboten werden kann.“16


In den folgenden Tagen berichteten Zeitungen quer durchs Land umfassend über die große Protestkundgebung.17 Bald danach druckten die Deseret News weitere Reden ab, die überall im Territorium bei ähnlichen Protestkundgebungen gehalten worden waren. Da die Mehrehe in den Gesetzesentwürfen von Cragin und Cullom als Form der Sklaverei angesehen wurde, unterstrichen anlässlich dieser Treffen viele Sprecherinnen, dass sie das Recht hatten, den Mann ihrer Wahl zu heiraten.18

In der gesetzgebenden Versammlung Utahs befassten sich zwischenzeitlich Joseph F. Smith und weitere Abgeordnete mit der Frage des Frauenwahlrechts im Territorium.19 Die Vereinigten Staaten schickten sich damals gerade an, das Wahlrecht auf alle männlichen Staatsbürger, also auch ehemalige Sklaven, auszudehnen. Im ganzen Land hatten jedoch lediglich im Territorium Wyoming die Frauen ein Stimmrecht, obwohl sich eine wachsende nationale Bewegung dafür einsetzte, allen Erwachsenen ab dem Alter von einundzwanzig Jahren das Wahlrecht zuzugestehen.20

Einige Monate zuvor hatten einige amerikanische Abgeordnete den Vorschlag aufgeworfen, den Frauen in Utah das Stimmrecht zu gewähren – in der Annahme, die Frauen würden dann gegen die Mehrehe stimmen. Viele Heilige im Territorium – Männer ebenso wie Frauen – unterstützten das Frauenwahlrecht jedoch aus genau jenem Grund: Weil sie davon ausgingen, es würde die Chancen der Heiligen vergrößern, Gesetze zu erlassen, die in ihrer Gemeinschaft die Religionsfreiheit bewahrten.21

Am 29. Januar 1870 besuchte Joseph F. Smith ein Treffen der Schule der Propheten in Salt Lake City, bei dem Orson Pratt, gleichfalls Apostel und führendes Mitglied der gesetzgebenden Versammlung des Territoriums, sich für das Frauenwahlrecht aussprach. Die gesetzgebende Versammlung nahm einige Tage später einstimmig den Gesetzesentwurf an, der von Joseph sodann an den amtierenden Gouverneur weitergeleitet wurde und nach Unterzeichnung Gesetzeskraft erlangte.22

Obwohl das neue Gesetz, das den Frauen nunmehr das Stimmrecht gewährte, Grund zum Feiern war, minderte es die Befürchtungen der Heiligen wegen der polygamiefeindlichen Gesetzesvorschläge, die in Washington zur Begutachtung vorlagen, nur wenig. Der Kongress konnte diese Gesetze schließlich auch ohne die Stimmen der Wählerschaft in Utah verabschieden.23

Der wachsende Widerstand im Territorium gegen die Kirche verstärkte die Sorgen noch zusätzlich. Josephs Cousins Alexander und David hatten Utah einige Monate zuvor verlassen. Ihre Mission war weniger erfolgreich verlaufen, als sie es sich erhofft hatten.24 William Godbe und Elias Harrison dagegen hatten eben erst ihre Anhängerschaft in der so genannten „Church of Zion“ vereint und bezeichneten sich als Wegbereiter einer „Neuen Bewegung“, die die Kirche und das Priestertum reformieren wollte.25 Sie gründeten auch eine Zeitung mit dem Namen Mormon Tribune und machten mit den Kaufleuten in der Stadt gemeinsame Sache bei der Gründung einer „Liberalen Partei“, die die politische Vormachtstellung der Heiligen im Territorium eindämmen sollte.26

Inmitten all dieses Widerstands unterstützten Joseph und andere Apostel jedoch weiterhin die Führungsspitze unter Brigham Young. „Wenn Gott den Menschen eine Offenbarung zukommen lassen will“, bekräftigte Wilford Woodruff in der Schule der Propheten, „tut er sie nicht mir kund und auch nicht Billy Godbe, sondern er offenbart sich Präsident Young. Gott spricht durch sein Sprachrohr.“27

Einige Männer gaben ihre Mitgliedschaft in der Schule auf und schlossen sich der Neuen Bewegung an. Andere, beispielsweise der früher so unerschütterliche Missionar T. B. H. Stenhouse, waren sich ihres Glaubens nicht mehr so sicher.28

Am 23. März verabschiedete das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten Culloms Gesetzesvorlage. Diese gelangte daher anschließend zur Abstimmung an den Senat. Als die besorgniserregende Nachricht drei Tage später Salt Lake City erreichte, fürchteten einige Männer in der Schule der Propheten, dass nun ein Konflikt mit den Vereinigten Staaten unmittelbar bevorstehe.

George Q. Cannon bat sie, behutsam vorzugehen. „Der Geist des Streites kommt anscheinend immer rasch auf, wenn die Umstände es begünstigen“, stellte er fest. „Lasst uns die Zunge im Zaum halten und uns nicht durch unkluges Gerede selbst schaden.“

Daniel Wells, Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, war der Ansicht, man solle sich unauffällig auf einen Schlagabtausch vorbereiten. Er stellte allerdings in aller Öffentlichkeit die Frage, ob die Heiligen diesen Gegenwind nicht doch selbst verschuldet hätten, weil sie nicht nach den Grundsätzen der Zusammenarbeit gelebt hatten. „Wie viele – selbst aus dieser Schule – unterstützen heutzutage durch ihre Einkäufe unsere offenkundigen Feinde in der Stadt, statt sich an den Rat der Diener Gottes zu halten?“, fragte er. „Lasst uns umkehren und es besser machen.“29

Joseph F. Smith bediente sich in einem Brief an seine Schwester Martha Ann ähnlicher Worte. „Ich wäre an sich unbesorgt, wenn da nicht diese eine Tatsache wäre: Ich denke nicht, dass wir als Volk Gott so nahe gewesen sind, wie wir das hätten sein sollen“, schrieb er. „Es kann durchaus sein, dass der Herr aus diesem Grund eine Geißel für uns bereithält.“30


Als Mary Isabella Horne nach Salt Lake City zurückgekehrt war, ersuchte sie Eliza Snow und Margaret Smoot, ihr bei ihrem Aufruf zur Mäßigung zur Seite zu stehen. Sie lud etwa ein Dutzend Leiterinnen von Frauenhilfsvereinigungen zu sich nach Hause ein und bat Eliza und Margaret, mit Sarah Kimball zusammen Leitlinien für die Mäßigungsvereinigung der Frauen zu erarbeiten. Ganz im Sinne ihres Auftrags wollten sie eine Gesellschaft gründen, die die Frauen in der Kirche dabei anleitete, Mahlzeiten und Bekleidung zu vereinfachen, damit sie mehr Zeit für ihren geistigen und intellektuellen Fortschritt gewannen.

Mary Isabella war der Auffassung, der Grundsatz der Mäßigung würde alle Frauen der Kirche gesellschaftlich auf gleiche Ebene stellen. Einigen Frauen widerstrebte es nämlich, sich mit wohlhabenderen Nachbarinnen anzufreunden, weil es ihnen peinlich war, dass sie kein so teures Porzellan hatten und keine so aufwändigen Gerichte anbieten konnten. Mary Isabella wünschte sich, die Frauen könnten unbekümmert miteinander Umgang pflegen und voneinander lernen. Sie war der Ansicht, jeder ordentlich gedeckte Tisch, auf dem gesundes Essen serviert wird, sei respektabel, selbst wenn er noch so schlicht und bescheiden aussah.31

Als die Mäßigung unter den Frauen der Kirche Fuß fasste, bemerkte Brigham Youngs vierzehnjährige Tochter Susie Young, dass die Frauen ihres Vaters sich einfacher kleideten und weniger aufwändige Speisen zubereiteten. Doch sie und ihre Schwestern trugen immer noch gern Kleider, die mit eleganten Bändern, Knöpfen, Schleifen und Spitzen aus dem Laden verziert waren.32

Eines Abends im Mai 1870 sprach ihr Vater nach dem Familiengebet mit einigen seiner Töchter im Lion House darüber, dass man eine Mäßigungsvereinigung gründen sollte. „Ich möchte gern, dass ihr eure eigene Mode entwerft“, sagte Brigham. „Lasst alles fort, was schlecht und nutzlos ist, und pflegt alles Gute und Schöne. Nicht, um unglücklich zu sein, sondern um so zu leben, dass ihr in diesem und im nächsten Leben wahrhaft glücklich sein könnt.“33

In den folgenden Tagen gab Eliza den jungen Frauen Anweisungen zum Grundsatz der Mäßigung und bat sie, von ihrer Kleidung unnötigen Zierrat zu entfernen. Das Resultat sah alles andere als modisch aus. Wo sich früher Bänder und Schleifen befunden hatten, waren nun kahle Stellen weniger ausgebleichten Stoffs zu sehen. Wenn Mäßigung den Anschein erwecken sollte, sie seien anders als der Rest der Welt, dann war sie jedenfalls erfolgreich.34

Dennoch verstanden Susie und ihre Schwestern, dass Mäßigung – ebenso wie der Genossenschaftsgedanke – den Heiligen neue Lebensgewohnheiten nahebringen und sie von störenden Launen und Modeerscheinungen loslösen sollte, damit sie frei wären, mit ganzem Herzen nach den Geboten zu leben.35

Ein paar Tage nach dem Gespräch mit ihrem Vater gründeten einige von Susies Schwestern die Mäßigungsvereinigung Junger Damen innerhalb der Mäßigungsvereinigung für Frauen. Sowohl Jungverheiratete als auch Ledige waren zugelassen. Sie alle nahmen sich vor, sich züchtig zu kleiden, einander bei guten Werken zu unterstützen und der Welt ein gutes Beispiel zu geben. Ella Empey, eine von Susies verheirateten Schwestern, wurde als Präsidentin ausgewählt, und Susie wurde am darauffolgenden Tag als Berichterstatterin der Vereinigung vorgestellt.36

„Da die Kirche Jesu Christi mit einer Stadt auf einem Hügel verglichen wird, die den Nationen eine Quelle des Lichts sein soll“, befanden sie, „ist es unsere Aufgabe, mit gutem Beispiel voranzugehen, statt uns nach den Vorgaben anderer auszurichten.“37