Geschichte der Kirche
33 Bis der Sturm vorüberzieht


„Bis der Sturm vorüberzieht“, Kapitel 33 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020

Kapitel 33: „Bis der Sturm vorüberzieht“

Kapitel 33

Bis der Sturm vorüberzieht

Bild
Dampfschiff auf dem Ozean

Einen Tag vor Weihnachten 1882 stand der Maori-Häuptling Hare Teimana am Rand einer Klippe bei seinem Dorf in der Nähe von Cambridge in Neuseeland. Unter ihm sah er einen Mann, der zielstrebig die Klippe erklomm. Warum nur kletterte dieser Fremde zum Dorf empor, wenn er doch einfach die Straße nehmen konnte? Warum hatte er es so eilig, oben anzukommen? Hatte er eine wichtige Botschaft zu überbringen?

Als Hare den Fremden beobachtete, wurde ihm klar, wer er war. Vor einigen Monaten war ihm nämlich eines Nachts der Apostel Petrus, ganz in weiß gekleidet, erschienen. Er hatte Hare gesagt, ein Mann werde zum Volk der Maori kommen, der das gleiche Evangelium bringe, das Jesus Christus auf Erden verkündet hatte. Petrus hatte Hare versichert, er werde den Mann erkennen, wenn er ihn sehe.1

Mit Ablauf der 50er Jahre waren die meisten Maori von evangelischen und katholischen Missionaren zum Christentum bekehrt worden. Hare wusste also, welche Rolle Petrus in der Urkirche Christi gespielt hatte. Er glaubte außerdem an Visionen und Offenbarungen. Die Maori erwarteten von ihren matakite – ihren Sehern – unmittelbar göttliche Führung. Auch nach ihrer Bekehrung zum Christentum empfingen manche matakite, Stammeshäuptlinge und Familienoberhäupter weiterhin Visionen und göttliche Führung für ihr Volk.2

Im Jahr zuvor hatten Führer der Maori einen verehrten matakite namens Pāora Te Pōtangaroa gefragt, welcher Kirche sich die Maori anschließen sollten. Nachdem er drei Tage lang gefastet und gebetet hatte, erklärte Pāora, dass die Kirche, der sie sich anschließen sollten, noch nicht gekommen sei. Aber sie würde 1882 oder 1883 zu ihnen gelangen, erklärte er.3

Da Hare den Mann an der Klippe nun als den von Petrus angekündigten Boten erkannt hatte, konnte er kaum erwarten, was dieser zu sagen hatte. Der Kletterer war völlig erschöpft, als er das Dorf erreichte, und so musste Hare warten, bis er wieder zu Atem gekommen war. Als er endlich den Mund öffnete, sprach er Maori. Er stellte sich als William McDonnel vor, Missionar der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Er überreichte Hare einige Missionsschriften und bezeugte, dass darin dasselbe Evangelium zu finden sei, das Christus während seines irdischen Wirkens gepredigt hatte. Außerdem sprach er davon, dass Petrus von Christus den Auftrag erhalten habe, nach dessen Auffahrt in den Himmel das Evangelium zu verkünden.4

Hares Interesse war geweckt, doch William wollte unbedingt wieder zu seinen beiden Mitarbeitern stoßen, die sich für die Straße ins Dorf entschieden hatten. Als William sich auf den Weg machen wollte, packte ihn Hare am Mantelkragen. „Sie bleiben hier und erzählen mir alles über das Evangelium“, verlangte er.

William fing an, alles, was er wusste, zu erzählen, und Hare hielt ihn weiter fest am Kragen. Nach fünfzehn Minuten entdeckte William seine Mitarbeiter – den Missionspräsidenten William Bromley und Thomas Cox. Sie hatten das Dorf über die Hauptstraße erreicht. William schwenkte seinen Hut, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Da ließ Hare endlich den Kragen los. Die Männer sprachen mit Hare, wobei William dolmetschte. Sie erklärten, dass sie gerne zu den Maori in der Gegend sprechen wollten.

Hare bat sie, etwas später am selben Tag zurückzukommen. „Sie können in meinem Haus eine Versammlung abhalten“, lud er sie ein.5


Am Abend saß William McDonnel mit Präsident Bromley und Thomas Cox in Hare Teimanas Haus. In Irland geboren, war William nach Neuseeland ausgewandert, nachdem ihm der Kapitän eines Schiffes erzählt hatte, dass es ein gutes Land sei. Er hatte einige Jahre unter den Maori gelebt und ihre Sprache gelernt. Danach war er nach Auckland gezogen, wo er 1874 geheiratet und sich ein paar Jahre später der Kirche angeschlossen hatte.6

Schon seit Anfang der 50er Jahre waren Missionare nach Neuseeland und ins benachbarte Australien berufen worden, dennoch gab es nicht viele Mitglieder in Neuseeland. In den vergangenen dreißig Jahren waren mindestens hundertdreißig Mitglieder ins Salzseetal gezogen, wodurch die Zweige in Neuseeland schrumpften, wie es auch in anderen Ländern der Fall war.

Die meisten Mitglieder waren, wie William, Einwanderer aus Europa. Kurz nach Williams Taufe kam Präsident Bromley mit einem Auftrag von Joseph F. Smith, dem neuen Zweiten Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, nach Neuseeland. Er sollte den Maori das Evangelium bringen.7 Präsident Bromley betete, dass er die richtigen Leute dafür finden möge, und er hatte das Gefühl, dass William einer davon sein sollte. Sechs Monate später taufte William einen Mann namens Ngataki, den ersten Maori, der diese heilige Handlung in Neuseeland empfing.8

Nun saßen die Missionare also in Hares Haus inmitten von Männern und Frauen der Maori und erfüllten Joseph F. Smiths Auftrag. Präsident Bromley las eine Schriftstelle aus der Bibel, woraufhin William die gleiche Schriftstelle in der maorischen Bibel nachschlug und an jemanden weiterreichte, der sie vorlas. Die Gruppe lauschte der Botschaft aufmerksam und William versprach, am nächsten Abend wiederzukommen.

Bevor die Missionare das Haus verließen, führte Hare sie zu seiner Tochter Mary. Sie war schon seit Wochen krank und die Ärzte sagten, dass sie in absehbarer Zeit sterben würde. William hatte gerade darüber gesprochen, dass Älteste mit dem Priestertum Gottes Krankensegen spenden konnten. Hare bat sie nun, seiner Tochter einen Segen zu geben.

Das Mädchen schien dem Tode nah. William, Präsident Bromley und Thomas knieten neben Mary nieder und legten ihr die Hände auf. Zuversicht erfüllte den Raum, und Thomas segnete sie und sagte, sie werde leben.

In der Nacht konnte William nicht schlafen. Er glaubte daran, dass Mary geheilt werden konnte. Aber was, wenn das nicht Gottes Wille war? Welchen Einfluss hätte ihr Tod auf den Glauben von Hare und den anderen Maori?

Kurz nach Sonnenaufgang machte sich William auf den Weg zu Hares Haus. Schon von weitem sah er eine Frau aus dem Dorf auf ihn zukommen. Als sie ihn erreichte, umarmte sie ihn fest und hob ihn in die Luft. Dann ergriff sie seine Hand und zerrte ihn fort zu Hares Haus.

„Wie geht es dem Mädchen?“, fragte William.

„Gut, sehr gut!“, entgegnete die Frau.

Als William das Haus betrat, saß Mary im Bett und schaute sich um. Er schüttelte ihr die Hand und bat ihre Mutter, ihr ein paar Erdbeeren zu holen.9

Am Abend wollten sich Hare, seine Frau Pare und ein weiterer Dorfbewohner taufen lassen. Die Gruppe ging zum Waikato River, wo William in den Fluss watete, den Arm rechtwinklig hob und einen nach dem anderen im Wasser untertauchte. Danach kehrte er nach Auckland zurück, während Thomas und seine Frau Hannah sich weiterhin um die Maori in Cambridge kümmerten.

Zwei Monate später, am 25. Februar 1883, wurde der erste Maori-Zweig der Kirche gegründet.10


Nach ihrer Taufe wollte Anna Widtsoe unbedingt dem Ruf des Herrn zur Sammlung in Zion folgen. Anthon Skanchy, einer der Missionare, die ihr das Evangelium verkündet hatten, schrieb ihr oft und machte ihr Mut, mit ihren Söhnen zu ihm und den anderen Heiligen aus Skandinavien nach Utah zu kommen. Er konnte ihren Wunsch, Norwegen zu verlassen, gut verstehen, war er doch selbst nach Logan in Utah ausgewandert, wo die Heiligen gerade einen Tempel fertigstellten, der etwa so groß wie der Tempel in Manti war und auch ähnlich aussah.

„Es wird sich alles finden, wie es für euch gut ist“, versicherte er ihr in einem Brief. „Der Herr achtet auf dich und deine Kinder.“11

Auch wenn Anna unbedingt nach Utah ziehen wollte, wusste sie doch, dass sie ihre Heimat vermissen würde. Ihr verstorbener Mann lag dort begraben, und sie fühlte sich mit den anderen Mitgliedern in ihrer Heimatstadt innig verbunden. Wenn Heilige aus Europa nach Zion zogen, hinterließen sie in ihren Zweigen oft Lücken in der Führerschaft, was die kleinen Gemeinden schwer belastete. Anna war Ratgeberin in der Frauenhilfsvereinigung ihres Zweiges. Falls sie nach Utah umziehen sollte, würde sie in der kleinen Gruppe von Frauen sicher schmerzlich vermisst werden.

Außerdem musste sie an ihre beiden Söhne denken. Der elfjährige John und der fünfjährige Osborne waren kluge, brave Jungen. In Utah würden sie eine neue Sprache lernen und sich an eine neue Kultur gewöhnen müssen und somit in ihrer Entwicklung gegenüber ihren Altersgenossen zurückfallen. Und wie sollte sie für sie sorgen? Seit ihrer Taufe lief Annas Damenschneiderei sehr gut. Wenn sie Norwegen verließ, würde sie die Rente ihres Mannes verlieren und müsste geschäftlich wieder ganz von vorn anfangen.12

Außerdem war Anna einem alten Verehrer wieder begegnet, Hans, der wohl Interesse an einer erneuten Beziehung mit ihr hatte. Er gehörte nicht der Kirche an, schien aber nichts gegen ihren Glauben zu haben. Anna setzte jedoch keine große Hoffnung darauf, dass er sich den Heiligen anschließen würde. Ihm lag wohl mehr an weltlichen Zielen als am Reich Gottes.13

Als Anna sich all diese Fragen durch den Kopf gehen ließ, wurde ihr klar, dass sie sich und ihre Söhne nur aufhielt, wenn sie in Norwegen blieb. Die Kirche wurde vom norwegischen Staat weder anerkannt noch als christlich betrachtet. Die Missionare wurden von aufgebrachten Horden drangsaliert, und von den Geistlichen wurde die Kirche in Predigten und Flugblättern häufig kritisiert. Mit Ausnahme ihrer Schwester Petroline, die sich für die Kirche interessierte, wurde Anna auch von ihrer Familie abgelehnt, seit sie sich der Kirche angeschlossen hatte.

Im Herbst 1883 beschloss Anna, Norwegen zu verlassen. „Ich reise in meine Heimat Utah, sobald ich kann“, schrieb sie ihrer Schwester Petroline im September. „Wenn wir nicht bereit sind, alles aufzugeben, selbst unser Leben, wenn es sein muss, sind wir keine Jünger.“14

Das Geld stellte jedoch ein Hindernis dar. Anna wusste nicht, wie sie für die Kosten der Auswanderung aufkommen sollte, und ihre Familie würde sie niemals unterstützen. Doch dann gaben ihr zwei zurückgekehrte Missionare und ein norwegisches Mitglied etwas Geld. Auch Hans gab ihr etwas Geld für die Reise, und sie erhielt die Erlaubnis, etwas von ihrem eigenen Zehnten für die Überfahrt der Familie zu verwenden.

Als sie zum letzten Mal ein Treffen ihrer Frauenhilfsvereinigung besuchte, erklärte Anna, wie froh sie war, dass das Reich Gottes wieder auf der Erde war und sie mithelfen durfte, es aufzubauen. Als sie den Zeugnissen ihrer Schwestern in der Frauenhilfsvereinigung zuhörte, wünschte sie sich, dass sie alle immer so lebten, dass der Geist Gottes mit ihnen war und sie erleuchtete.

Im Oktober 1883 gingen Anna, John und Osborne in Oslo an Bord eines Schiffes, das nach England fuhr. Am Hafen winkten ihnen die norwegische Mitglieder zum Abschied mit Taschentüchern nach. Die majestätische norwegische Küste war Anna noch nie so schön erschienen. Sie rechnete nicht damit, sie jemals wiederzusehen.15


Im Frühsommer 1884 war Ida Hunt Udall die Leiterin der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen im Pfahl Arizona Ost. In dieser Berufung hatte sie die Aufgabe, über die jungen Damen in Snowflake, St. Johns und den weiteren Siedlungen zu wachen und sie zu unterrichten. Da es ihr nicht möglich war, alle Gruppen im Pfahl regelmäßig zu besuchen, freute sie sich umso mehr, wenn alle zur vierteljährlichen Konferenz zusammenkamen.16

Nachdem sie David Udall geheiratet hatte, war Ida nach St. Johns zurückgekehrt, wo die Heiligen auf starken Widerstand stießen. In der Stadt hatten mächtige Bürger das Sagen, die verhindern wollten, dass sich Heilige in der Gegend niederließen. Die Gruppe, die auch „der Ring“ genannt wurde, verfolgte Mitglieder der Kirche und wollte sie davon abhalten, zu wählen. Außerdem gab sie eine Zeitung heraus, in der die Leser aufgefordert wurden, die Heiligen in Angst und Schrecken zu versetzen.

„Wie sind Missouri und Illinois die Mormonen losgeworden?“, stand in einem Artikel. „Mit dem Gewehr und mit Stricken.“17

Zuhause bei David und Ella hatte Ida jedoch Frieden gefunden. Eine Zeit lang war es Ella schwergefallen, sich an Idas neue Stellung im Haus zu gewöhnen, doch als die beiden Frauen gemeinsam Krankheiten überstehen und mit den Schwierigkeiten des Alltags zurechtkommen mussten, waren sie einander nähergekommen. Seit Ida Teil der Familie geworden war, hatte sie Ella bei der Geburt von zwei Töchtern, Erma und Mary, beigestanden. Ida selbst war nach wie vor kinderlos.

Am 10. Juli 1884, fünf Tage nach Marys Geburt, räumte Ida gerade das Abendessen ab, als plötzlich Davids Schwager Ammon Tenney vor der Tür stand. Er war wegen Polygamie angeklagt worden, und seine Frau Eliza, Davids Schwester, hatte eine Vorladung erhalten, gegen ihn auszusagen. Eliza wollte sich dem Gesetz nicht fügen und als Kronzeugin im Prozess gegen ihren Mann aussagen, weshalb sie sich vor den Marshals versteckte.18

„Der nächste Besuch könnte dir gelten“, warnte Ammon Ida. Als Bischof von St. Johns – von dem bekannt war, dass er in Mehrehe lebte – gab ihr Mann eine erstklassige Zielscheibe für die Strafverfolger ab. Sollte ein Marshal mit einer Vorladung Ida zu fassen bekommen, könnte sie gezwungen werden, vor Gericht gegen David auszusagen. Nach dem Edmunds-Gesetz konnte er wegen rechtswidriger Lebensgemeinschaft zu einer Geldstrafe von dreihundert Dollar und sechs Monaten Gefängnis verurteilt werden. Die Strafe für Polygamie war noch härter. Im Falle einer Verurteilung drohten David eine Geldstrafe von fünfhundert Dollar und fünf Jahre Gefängnis.19

Idas erster Gedanke galt Ella, die sich gerade erst von der Geburt ihrer Tochter erholte. Ella war auf ihre Hilfe angewiesen und Ida wollte sie nicht im Stich lassen. Aber wenn sie im Haus blieb, brachte sie die Familie nur noch mehr in Gefahr.

Ida warf sich rasch ein Schultertuch über den Kopf und schlüpfte lautlos aus der Tür. Eliza und die anderen Frauen versteckten sich im Haus eines Nachbarn vor den Marshals, und Ida schloss sich ihnen an. Die meisten dieser Frauen hatten keine andere Wahl gehabt, als ihre Kinder in der Obhut anderer zurückzulassen.

Tag für Tag hielten sie ihre Blicke aufmerksam auf die Straße gerichtet und versteckten sich hinter dem Bett oder dem Vorhang, sobald ein Fremder auch nur in die Nähe des Hauses kam.

Nachdem Ida sechs Tage im Haus des Nachbarn verbracht hatte, bot ein Freund an, sie und die anderen Frauen heimlich nach Snowflake zu bringen. Bevor sie die Stadt verließ, kam Ida kurz nach Hause und packte etwas für die Reise zusammen. Als sie Ella und den Kindern einen Abschiedskuss gab, beschlich sie das Gefühl, dass viel Zeit verstreichen werde, bis sie sich wiedersehen würden.20

Kurz nach ihrer Ankunft sprach Ida zu den Jungen Damen in der Gemeinde Snowflake, die Strapazen in St. Johns noch frisch in Erinnerung. „Alle, die um des Evangeliums willen Verfolgung leiden, erfahren Frieden und Zufriedenheit, wie sie es nie erwartet hätten“, bezeugte sie. „Wir dürfen in dieser Kirche kein leichtes Leben ohne Prüfungen erwarten. Zweifellos wird unser Leben zuweilen in Gefahr sein.“21


Noch vor Ende des Sommers waren mehrere Heilige im Territorium Utah aufgrund des Edmunds-Gesetzes festgenommen worden, aber bisher war niemand angeklagt und zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Zu den Festgenommenen zählte auch Rudger Clawson, der fünf Jahre zuvor miterlebt hatte, wie sein Missionsgefährte Joseph Standing ermordet wurde. Rudger hatte zwei Ehefrauen, Florence Dinwoody und Lydia Spencer. Nach seiner Festnahme tauchte Lydia unter, wodurch den Vertretern der Anklage die Kronzeugin fehlte.22

Rudgers Gerichtsverhandlung begann im Oktober. Bei der Anhörung bemühten sich die Zeugen, die der Kirche angehörten, darunter auch Präsident John Taylor, dem Gericht so wenig wie möglich zu helfen. Als die Ankläger den Propheten fragten, wo die Heiratsurkunden der Kirche zu finden seien, antwortete er sehr ausweichend.

„Wenn Sie eine Urkunde sehen wollten“, fragte ein Anwalt, „gäbe es dann nicht irgendeine Möglichkeit, herauszufinden, wo sie ist?“

„Das könnte ich erfragen“, meinte Präsident Taylor.

„Wären Sie dann wohl so freundlich?“, bat der Anwalt.

„Ich fürchte“, entgegnete der Prophet trocken, „so freundlich bin ich nicht.“ Der Gerichtssaal brach in Gelächter aus.23

Nach einer Woche ähnlicher Zeugenaussagen konnten sich die zwölf Geschworenen in dem Fall nicht einig werden, und der Richter vertagte die Verhandlung. In der Nacht gelang es allerdings einem Hilfssheriff, Lydia Clawson ausfindig zu machen und sie als Zeugin gegen Rudger vor Gericht vorzuladen.

Bald begann eine neue Verhandlung. Nachdem er die Zeugenaussagen mehrerer Zeugen gehört hatte, die schon bei der vorherigen Verhandlung ausgesagt hatten, rief der Staatsanwalt Lydia in den Zeugenstand. Sie war blass, aber gefasst. Als der Justizbeamte ihr den Eid abnehmen wollte, weigerte sie sich.24

„Wissen Sie nicht, dass es Unrecht ist, wenn Sie nicht vereidigt werden?“, fragte der Richter Lydia.

„Das mag sein“, antwortete sie.

„Sie müssen vielleicht ins Gefängnis“, warnte der Richter.

„Das hängt von Ihnen ab“, erwiderte Lydia.

„Sie laden sich eine gewaltige Verantwortung auf, wenn Sie sich der Staatsgewalt widersetzen“, meinte der Richter. Dann übergab er sie in die Obhut des Marshals und vertagte die Verhandlung.

Lydia wurde ins Staatsgefängnis gebracht und erhielt am selben Abend eine Nachricht von Rudger. Er flehte sie an, gegen ihn auszusagen. Sie war schwanger, und wenn sie sich weigerte, mit dem Gericht zu kooperieren, konnte dies dazu führen, dass sie ihr Baby in einem Bundesgefängnis zur Welt bringen müsste, hunderte von Kilometern fern von zuhause und von der Familie.25

Am nächsten Morgen begleitete der Marshal Lydia zum überfüllten Gerichtsgebäude, wo die Ankläger sie erneut in den Zeugenstand riefen. Diesmal widersetzte sie sich nicht, als der Justizbeamte ihr den Eid abnahm. Der Staatsanwalt fragte sie, ob sie verheiratet sei.

Kaum hörbar bejahte Lydia die Frage.

„Mit wem?“, fragte er nach.

„Rudger Clawson“, sagte sie.

In weniger als zwanzig Minuten hatten die Geschworenen einen Schuldspruch gefällt, den ersten, der auf dem Edmunds-Gesetz beruhte.26 Neun Tage später trat Rudger zur Urteilsverkündung vor den Richter. Ehe dieser den Gerichtsbeschluss verkündete, fragte er Rudger, ob er noch etwas zu sagen habe.

„Ich bedaure es zutiefst, dass das Gesetz meines Landes in Konflikt mit dem Gesetz Gottes geraten ist“, erklärte Rudger, „aber wann immer das der Fall sein sollte, werde ich mich ausnahmslos an Letzteres halten.“

Der Richter setzte sich wieder. Er war bereit gewesen, Milde walten zu lassen, aber die trotzige Haltung des jungen Mannes veranlasste ihn, seine Meinung zu ändern. Mit ernster Miene verurteilte er Rudger zu vier Jahren Gefängnis, einer Geldstrafe von fünfhundert Dollar wegen Polygamie und dreihundert Dollar wegen rechtswidriger Lebensgemeinschaft.

Im Gerichtssaal war es still. Ein Marshal führte Rudger aus dem Saal, gestattete ihm, sich von Freunden und Verwandten zu verabschieden, und brachte ihn dann ins Gefängnis. Rudger verbrachte die erste Nacht dort mit etwa fünfzig hartgesottenen Häftlingen aus dem Territorium.27


In der Hoffnung, Familien, die in Mehrehe lebten, unvorbereitet zu erwischen, schikanierten die Marshals im folgenden Winter die Heiligen in allen Siedlungen im gesamten Territorium Utah. Tag und Nacht mussten Eltern mit Entsetzen zusehen, wie Gesetzeshüter ihre Häuser durchwühlten und Kinder aus dem Bett warfen. Manche Marshals drangen heimlich durch die Fenster ein oder drohten damit, Türen aufzubrechen. Sobald sie eine Frau aus einer Mehrehe fanden, konnten sie sie festnehmen, falls sie sich weigerte, gegen ihren Mann auszusagen.

Nur zu gerne hätte John Taylor die Heiligen ermutigt, ihre Religion auch weiterhin zu leben, doch als er sah, wie Familien auseinandergerissen wurden, fühlte er sich für ihr Wohlergehen verantwortlich.28 Schon bald beriet er mit den Führern der Kirche darüber, ob man nicht einige Heilige an einen Ort außerhalb der Vereinigten Staaten umsiedeln könne, wo sie nicht verhaftet würden und mehr Freiheit genießen konnten.29

Im Januar 1885 machte er sich mit Joseph F. Smith sowie einigen Aposteln und Vertrauten von Salt Lake City auf, um die Heiligen im Territorium Arizona, gleich nördlich von Mexiko, zu besuchen. Auch dort lebten viele Heilige in Angst, und einige waren schon vor den Marshals nach Mexiko geflohen.30

Da sie selbst in Erfahrung bringen wollten, ob noch mehr Heilige in Mexiko Zuflucht finden konnten, überquerten John, Joseph und ihre Gefährten die Grenze. In Mexiko fanden sie einige vielversprechende Orte mit genügend Wasser in der Nähe, um eine Siedlung zu errichten.31 Nach ihrer Rückkehr nach Arizona einige Tage später hielt John mit den anderen Rat, wie sie weiter vorgehen sollten.

Schließlich beschlossen sie, im mexikanischen Bundesstaat Chihuahua Land zu erwerben und Siedlungen zu errichten. John bat einige Männer, dafür Geld zu sammeln. Er und die anderen fuhren mit dem Zug weiter nach San Francisco.32 Kaum angekommen, erhielt John ein Eiltelegramm von George Q. Cannon. Die Feinde zuhause seien sehr aktiv, warnte George, und planten, die Erste Präsidentschaft zu verhaften.

Mehrere Männer drängten John, in Kalifornien zu bleiben, bis die Gefahr vorüber sei. Der Prophet war sich nicht sicher, was er tun sollte, und betete um Führung. Dann verkündete er, dass er nach Salt Lake City zurückkehren und Joseph F. Smith auf eine weitere Mission nach Hawaii schicken werde. Einige Männer protestierten. Sie waren sich sicher, dass John und andere festgenommen werden würden, sobald sie nach Hause zurückkehrten. Aber für John war die Sache klar: Sein Platz war in Utah.

Einige Tage später kam John dort an und berief eine besondere Ratsversammlung mit den Führern der Kirche ein. Er berichtete von seinem Plan, in Mexiko Land zu kaufen, und erklärte seine Absicht, unterzutauchen, um der Verhaftung zu entgehen. Er hatte den Heiligen geraten, mit Ausnahme von Gewaltanwendung alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um nicht vor Gericht gestellt zu werden. Nun blieb ihm selbst nichts anderes übrig.33

Am Sonntag sprach John im Tabernakel öffentlich zu den Heiligen, trotz drohender Verhaftung. Er erinnerte die Versammelten daran, dass sie auch vorher schon unterdrückt worden waren. „Stellt den Mantelkragen auf, schließt alle Knöpfe und schützt euch vor der Kälte, bis der Sturm vorüberzieht“, riet er ihnen. „Dieser Sturm wird vorüberziehen wie andere auch.“34

Nachdem er den Heiligen so gut er konnte Mut zugesprochen hatte, verließ John das Tabernakel, bestieg eine Kutsche und fuhr in die Nacht hinaus.35