Geschichte der Kirche
26 Zum Besten von Zion


„Zum Besten von Zion“, Kapitel 26 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020

Kapitel 26: „Zum Besten von Zion“

Kapitel 26

Zum Besten von Zion

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Pläne vom St.-George-Tempel

Von Salt Lake City aus erreichte die Mäßigungsbewegung im Frühjahr und Sommer 1870 die Frauenhilfsvereinigungen im ganzen Territorium – sogar die Dorfgemeinschaften, wo die Heiligen ein eher einfaches Leben führten. Die Frauen der Frauenhilfsvereinigung in Santaquin und deren Leiterin Elizabeth Stickney wollten mit den Schwestern in der Stadt unbedingt mithalten und veranstalteten im Schulgebäude ein Picknick. Sie bereiteten eine einfache Mahlzeit aus Vollkornbrot und Bohnensuppe zu, genossen die gemeinsame Zeit und spannen zwanzig Garnbündel für die Herstellung von Kleidung.1

Nachdem eine weitere Grashüpferplage die Ernte der Heiligen in vielen Siedlungen zerstört hatte, war es ohnehin wichtiger denn je, maßvoll zu sein. Im Mai beklagte George A. Smith bei einem Treffen der Schule der Propheten in Salt Lake City, dass nur wenige den Rat der Ersten Präsidentschaft beherzigten und Getreide einlagerten. Dann verglich er die Grashüpfer mit den Kritikern der Kirche in der Regional- und der Bundesregierung.

„Viele wollen sich an unserer Niederwerfung mästen und sich alles Hab und Gut der Mormonen unter den Nagel reißen“, sagte er. „Sie mögen beschließen, ihre Armeen zu entsenden, um uns zu vernichten, zu zerstreuen und unsere Siedlungen in Schutt und Asche zu legen, aber nichts davon wird beweisen, dass unsere Religion falsch wäre.“

Da Culloms Gesetzesvorlage gerade beim Senat zur Überprüfung vorlag, waren die Augen des Gesetzgebers auf die Heiligen gerichtet. George war überzeugt, dass die Kritiker in Salt Lake City die Öffentlichkeit gegen die Kirche aufbringen wollten, und so legte er den Männern in der Schule ans Herz, geduldig und klug zu sein und keinen Anstoß zu erregen. Auch mahnte er sie, nicht auf schlechte Männer als Anführer der Heiligen zu setzen.2

Er erwähnte zwar William Godbe und Elias Harrison nicht namentlich, doch sie gehörten vermutlich zu denen, an die er dabei dachte. Nach der Gründung der Kirche Zions hatten William und Elias davon gesprochen, ein Mann werde hervorkommen und ihre Neue Bewegung anführen. William hatte sich an Joseph Smith III. gewandt – möglicherweise, um ihn als Anführer zu gewinnen –, aber dieser hatte sich ihrer Sache nicht angeschlossen.3

Im Frühjahr jedoch verkündete Amasa Lyman, er werde der Kirche Zions beitreten, und sofort kursierten Gerüchte, er werde sie anführen. Amasa war 1867 wegen Abtrünnigkeit aus dem Kollegium der Zwölf Apostel entlassen worden, und kaum einen wunderte es, dass er sich für die Neue Bewegung begeisterte. Sein ältester Sohn, Francis Lyman, war allerdings sprachlos, als er von der Entscheidung seines Vaters erfuhr. Er versuchte, ihn davon abzubringen, war aber bald schon zu betrübt, um weiter mit ihm zu diskutieren. Er lief aus dem Zimmer und weinte stundenlang.4

Brigham empfahl den Mitgliedern der Schule der Propheten, solche Abtrünnigen in Ruhe zu lassen und nicht schlecht über sie zu sprechen. Derweil gelobte er, das Reich Gottes weiter aufzubauen. „Ich will meinen Einfluss nutzen und Israel stärken, bis Jesus regiert, dessen Recht es ist zu regieren“, verkündete er.

Im Juli bat er die Brüder in der Schule der Propheten, ihre Gedanken zum Sühnopfer Jesu Christi zu äußern. Nachdem er ihren Zeugnissen gelauscht hatte, legte auch er Zeugnis für das Sühnopfer des Erretters ab und räumte ein, welche Gefahren den Heiligen bevorstanden, darunter auch die Entfremdung ehemals standhafter Mitglieder. „Wir haben das Evangelium“, sagte er. „Aber wenn es zu unserem Nutzen sein soll, müssen wir uns auch an dessen Weisungen halten.“

Er forderte die Männer eindringlich auf, den Rat der Diener des Herrn zu beherzigen, und verhieß ihnen, Gott werde sie dafür segnen.5


Im Sommer traf Martin Harris mit der transkontinentalen Eisenbahn in Utah ein. Als Brigham Young gehört hatte, Martin wolle in den Westen kommen, hatte er ihm unbedingt helfen wollen. Schließlich hatte Martin der Kirche in der Vergangenheit eine Unmenge Zeit und Geld zur Verfügung gestellt. Brigham bat Edward Stevenson, einen erfahrenen Missionar, für Martin Spenden zu sammeln und dem betagten Mann auf der langen Reise von Kirtland beizustehen. „Lass ihn herbringen“, hatte er ihn angewiesen. „Selbst wenn es mich den letzten Dollar kosten sollte!“6

Martins Ankunft versetzte Salt Lake City in Aufruhr, auch wenn er nicht der Erste war, der als ehemaliges Mitglied der Kirche das Territorium besuchte. Thomas Marsh, der erste Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel, hatte vor dreizehn Jahren zutiefst bereut, 1838 die Kirche verlassen zu haben, sich erneut taufen lassen und war in den Westen gezogen. Bei Martin – einem der Zeugen des Buches Mormon – war es jedoch noch etwas anderes. Mit siebenundachtzig Jahren gehörte er zu den letzten Lebenden, die einige der ersten Wunder der neuen Evangeliumszeit miterlebt hatten.7

Kurz nach seiner Ankunft besuchte Martin Brigham Young, und der Prophet bat ihn, am 4. September im Tabernakel zu sprechen. An besagtem Tag stand Martin eine halbe Stunde am Rednerpult und berichtete mit ruhiger Stimme von seiner Suche nach der Wahrheit inmitten der religiösen Erweckungsbewegungen in den Jahren vor 1820.8

„Der Heilige Geist gab mir ein, mich keiner Kirche anzuschließen, da keine von ihnen Vollmacht vom Herrn besaß“, betonte er. „Der Geist sagte mir, ich könne mich genauso gut selbst ins Wasser fallen lassen wie mich von einer der Sekten taufen zu lassen, also ließ ich davon ab, bis Joseph Smith, der Prophet, diese Kirche gründete.“9

In den nächsten Wochen sah Martin im Territorium seine Frau, seine Kinder und weitere Angehörige wieder. Sein älterer Bruder Emer war im vergangenen Jahr im Cache Valley im Norden von Utah verstorben. Seine verwitwete Schwester Naomi Bent lebte jedoch im Utah Valley. Am 17. September gingen sie und Martin ins Endowment House, wo Edward Stevenson ihn erneut taufte. Anschließend bestätigten ihn Orson Pratt, John Taylor, Wilford Woodruff und Joseph F. Smith aufs Neue als Mitglied der Kirche. Danach ließen sich Martin und Naomi für mehrere Vorfahren taufen und konfirmieren.10

Im folgenden Monat bezeugte Martin bei der Herbst-Generalkonferenz der Kirche, dass das Buch Mormon wahr und göttlichen Ursprungs war. Nach ihm trat George A. Smith ans Pult. „Es ist bemerkenswert, das Zeugnis von Martin Harris zu vernehmen“, sagte er. „Das Buch Mormon aber trägt den Beweis in sich. Die Verheißung, dass diejenigen, die den Willen Gottes tun, erkennen, dass die Lehre wahr ist, hat sich erfüllt.

Und deshalb“, erklärte er, „hat das Buch Mormon tausende Zeugen.“11


Ende November 1870 saß Susie Young in einer Kutsche nach St. George, einer Siedlung der Heiligen im Süden Utahs, spielte auf ihrer Gitarre und sang. Bei ihr befanden sich auch ihre Mutter Lucy und ihre jüngere Schwester Mabel. Nach vielen Jahren im belebten Lion House zogen sie nun in ein eigenes Haus in St. George. Susies Vater Brigham Young reiste ebenfalls in den Süden, auch wenn er nicht dauerhaft dort blieb. Mit beinahe siebzig Jahren litt er an Arthritis und zog es vor, den Winter im wärmeren St. George zu verbringen.12

Unter anderem trällerte Susie vor sich hin, um die anderen in der Kutsche aufzuheitern. Am 3. Oktober, ein paar Tage vor der Herbst-Generalkonferenz der Kirche, hatten sie und ihre achtzehnjährige Schwester Dora sich heimlich von der Geburtstagsfeier ihrer Mutter davongeschlichen, um sich mit Morley Dunford zu treffen, Doras Verlobtem. Die drei waren zu einem protestantischen Geistlichen gegangen, von denen es mittlerweile einige im Salzseetal gab, und dieser hatte Dora und Morley vermählt, während Susie Wache hielt.

Für Susie war die heimliche Heirat wie etwas aus einem spannenden Roman oder Theaterstück. Ihre Eltern jedoch waren am Boden zerstört gewesen. Die Verlobung zwischen Dora und Morley hatte zwei Jahre angedauert. Er sah gut aus und gehörte zu einer Familie von Kaufleuten, die treue Mitglieder der Kirche waren. Allerdings hatte er ein Alkoholproblem, und Brigham und Lucy fanden, er sei keine gute Partie für ihre Tochter. Tatsächlich hatten sie mit ihren Töchtern unter anderem nach St. George ziehen wollen, um Dora und Morley gut fünfhundert Kilometer voneinander zu trennen.13

Nun hatte Dora allerdings geheiratet und würde nicht mit der übrigen Familie in den Süden ziehen. Susie sah, wie sehr ihrer Mutter dies zu schaffen machte. Lucy sang und scherzte zwar mit den anderen Fahrgästen, doch der Kummer war ihr dennoch anzusehen. Susie war redlich bemüht, ihre Mutter aufzuheitern, aber nichts schien zu helfen.14

Da es keine Eisenbahnstrecke zwischen Salt Lake City und St. George gab, dauerte die holprige Reise vierzehn Tage.15 St. George befand sich in einem großen Flusstal, das von felsigen, roten Klippen umrandet war. Als Brigham die Gegend vor zehn Jahren besichtigt hatte, hatte er das Tal überblickt und prophezeit, hier werde eine Stadt mit Häusern und Kirchtürmen entstehen. Kurz darauf hatte er den Apostel Erastus Snow mit über dreihundert Familien mit dem Auftrag dorthin gesandt, in diesem Gebiet Baumwolle anzupflanzen, was in anderen Siedlungen im Süden Utahs bereits einigermaßen erfolgreich gelungen war.

Seitdem hatten die Heiligen in St. George fleißig gearbeitet, um Brighams Prophezeiung zu verwirklichen. In dem Gebiet war es fast das ganze Jahr über sehr heiß, und Schnee fiel nur selten. Nachdem man zwei nahegelegene Flüsse mit Dämmen aufgestaut hatte, lieferten diese gerade so viel Wasser, dass man inmitten des Wüstengebüschs Feldfrüchte und Obstbäume anbauen konnte. Fiel Regen, dann manchmal so heftig, dass er die Dämme der Siedler wegspülte. Auch Bauholz gab es nur wenig, daher nahmen die Heiligen Stein und Lehmziegel als Baumaterial. Viele, die sich im Tal niederlassen wollten, verließen es schon nach kurzer Zeit wieder. Wer jedoch blieb, hielt am Glauben fest und vertraute darauf, dass der Herr ihm helfen würde, dort ein trautes Heim zu errichten.16

Inzwischen hatten die Siedler breite Straßen, viele schöne Häuser, ein Gerichtsgebäude und in der Nähe eine Baumwollspinnerei gebaut. Im Stadtzentrum errichteten sie außerdem ein stattliches Tabernakel aus Sandstein, wo sie zusammenkommen und Gott verehren konnten.17

Als Susie und ihre Familie St. George erreichten, ließen sie sich in einem gemütlichen Stadthaus nieder und lernten ihre neuen Nachbarn kennen. Währenddessen brachte ihr Vater in Erfahrung, was die Heiligen in der Siedlung und andernorts brauchten. Bis der Tempel in Salt Lake City fertiggestellt war, würden noch Jahre vergehen, und das Endowment House, wo man nur ein paar der heiligen Handlungen des Tempels vollziehen konnte, war nur eine vorläufige Lösung für einen langfristigen Bedarf. Die Heiligen brauchten einen fertigen Tempel, wo sie Bündnisse mit dem Vater im Himmel schließen und alle notwendigen heiligen Handlungen für die Lebenden und die Verstorbenen vollziehen konnten.18

Im Januar 1871, gerade bevor Brigham nach Salt Lake City zurückreisen wollte, nahm er im Haus von Erastus Snow, der über die Kirche in dem Gebiet präsidierte, an einer Ratssitzung mit örtlichen Führern der Kirche teil. Als sich die Sitzung dem Ende näherte, fragte Brigham die Männer, was sie davon hielten, in St. George einen Tempel zu bauen.

Begeisterung erfüllte den Raum. „Gloria! Halleluja!“, rief Erastus.19


Nach seiner Rückkehr nach Salt Lake City schrieb Brigham Erastus von seinen Plänen für einen neuen Tempel. Er sollte kleiner und weniger prächtig werden als der Tempel in Salt Lake City, aus Stein errichtet werden und von innen und außen verputzt werden. Wie beim Tempel in Nauvoo sollte es auf der einen Dachseite einen Turm geben und im Kellergeschoss ein Taufbecken.

„Wir wünschen, dass die Heiligen im Süden ihre Anstrengungen vereinen und sich eines Herzens und eines Sinnes an die Arbeit machen“, schrieb er.

Brigham wollte im Herbst gern nach St. George zurückkehren, um mit dem Tempelbau zu beginnen.20 In der Zwischenzeit erforderte die Kirche jedoch in anderen Teilen des Territoriums seine Aufmerksamkeit. Im vergangenen Jahr hatte Amasa Lyman zugunsten der Kirche Zions gepredigt und an Séancen teilgenommen, bei denen spiritistische Medien behaupteten, dass Joseph und Hyrum Smith, Häuptling Walkara und weitere verstorbene Heilige durch sie sprachen. Berichten zufolge hatte man bei den Séancen ein Klopfen vernommen oder gesehen, wie ein Tisch zu schweben begann.21

Zwar führte dies dazu, dass sich ein paar Heilige der Neuen Bewegung anschlossen, aber die meisten blieben skeptisch, und schon bald geriet die Kirche Zions ins Straucheln. Als Brigham im Februar 1871 nach Salt Lake City zurückgekehrt war, handelte es sich bei der Neuen Bewegung weniger um eine religiöse Organisation als um eine Gruppe von Leuten, deren gemeinsames Ziel darin bestand, den Einfluss der Kirche in der Region zu unterbinden.

Im April änderten die Anführer der Neuen Bewegung den Namen ihrer Zeitung von Mormon Tribune in Salt Lake Tribune. Im Juli weihten sie das Liberal Institute ein, ein großes Ratsgebäude, wo sie Predigten, Séancen, Vorträge oder auch politische Versammlungen der Liberalen abhalten konnten. Der Neuen Bewegung war es ferner gelungen, Brighams frühere Freunde T. B. H. und Fanny Stenhouse für sich zu gewinnen, die schon seit Monaten kurz davor gestanden hatten, die Kirche zu verlassen.22

Allerdings stellte diese Bewegung eine weitaus geringere Bedrohung dar als James McKean, der gerade ernannte Präsident des Obersten Gerichtshofs von Utah. Richter McKean war entschlossen, die Theokratie, die seiner Meinung nach in Utah vorherrschte, auszumerzen. Etwa zu der Zeit seiner Ernennung war Culloms Gesetzesentwurf gegen die Bigamie vom Senat abgelehnt worden, und Präsident Ulysses Grant hatte McKean gezielt nach Utah geschickt, um das bereits bestehende Gesetz gegen die Polygamie durchzusetzen.23

„Jeder in diesem Land darf entscheiden, welche Religion er ausüben möchte“, verkündete Richter McKean kurz nach seiner Ankunft. „Aber niemand darf gegen unsere Gesetze verstoßen und seine Religion als Ausrede dafür vorbringen.“24

Im Herbst 1871, etwa einen Monat, bevor Brigham nach St. George zurückkehren wollte, erfuhr er, dass Robert Baskin, der zuständige Staatsanwalt für Utah und einer der Verfasser von Culloms Gesetzesentwurf, ihn und weitere Führer der Kirche diverser Verbrechen bezichtigen wollte. Ein ehemaliges Mitglied der Kirche namens Bill Hickman wollte sogar behaupten, Brigham und weitere Führer der Kirche hätten ihm bei einem Mord geholfen, den er im Utah-Krieg vierzehn Jahre zuvor begangen hatte.25

Man hatte Bill Hickman wegen eines weiteren Mordes verhaftet, und er hatte mit dem Gericht eine Strafmilderung ausgehandelt, wenn er aussagte. Er war ein Gesetzloser, und vor einem unparteiischen Gericht hätte sein Wort niemals Bestand gehabt, zumal mehrere angesehene Männer wussten, wie das Verbrechen tatsächlich abgelaufen war, und Brighams Beteiligung abstritten. John Taylor, der mit Joseph Smith im Gefängnis zu Carthage eingesperrt gewesen war, drängte Brigham, sein Leben nicht in die Hände des Gerichts zu legen. Brigham glaubte jedoch nicht, Josephs Schicksal teilen zu müssen. „Die Verhältnisse sind vollkommen anders als damals“, entgegnete er.26

Am 2. Oktober kam es zur ersten Anklage. Ein Marshal der Bundesregierung verhaftete Brigham, weil dieser mit mehreren Ehefrauen zusammenlebte. Daniel Wells und George Q. Cannon wurden wegen ähnlicher Anschuldigungen festgenommen.

Die Festnahmen ließen die Gerüchteküche brodeln. Außerhalb des Territoriums sagten die Zeitungen einen Bürgerkrieg in Salt Lake City voraus und berichteten, die Heiligen hätten Waffen gehortet und in den Ausläufern der Berge eine Kanone aufgestellt.27 Tatsächlich ging es auf den Straßen von Salt Lake City ruhig zu. Die Führer der Kirche zeigten sich den Gesetzeshütern gegenüber kooperativ, und die Anwälte bereiteten Brigham darauf vor, in der folgenden Woche vor Gericht zu den Anschuldigungen Stellung zu beziehen.28

Am besagten Tag war der Gerichtssaal überfüllt. Tausende standen vor dem Gerichtsgebäude. Brigham war bereits eine Viertelstunde vor dem Richter anwesend. Als er ruhig seinen Platz einnahm, entwaffnete allein seine Gelassenheit seine Kritiker.29

Nachdem Richter McKean eingetroffen war, wollten Brighams Anwälte die Anhörung beenden und erklärten, die zuständigen Beamten hätten verfahrenswidrig gehandelt, als sie ein Geschworenengericht ohne Mitglieder der Kirche einberufen hatten. Als McKean den Antrag ablehnte, wollten die Anwälte Fehler in den eigentlichen Anschuldigungen herausstellen in der Hoffnung, man werde die Anklage gänzlich fallen lassen. Erneut lehnte der Richter ihren Antrag ab.30

Im Laufe der Anhörung machte McKean deutlich, dass es ihm bei dem Fall nicht darum ging, vor Gericht Brighams Unschuld oder Schuld zu beweisen, sondern dass er darin ein entscheidendes Gefecht im Kampf zwischen den Offenbarungen der Heiligen und dem Bundesgesetz sah. „Der Fall mag offiziell als Der Staat gegen Brigham Young gelten“, sagte er, „aber in Wirklichkeit lautet er Die Bundesbehörde gegen die polygame Theokratie“. Er hatte gar nicht vor, unparteiisch zu urteilen. Seiner Ansicht nach war der Prophet bereits schuldig.31

Da Brigham davon ausging, dass man den Prozess nicht vor März beginnen werde, der nächsten Sitzungsperiode des Gerichts, machte er sich fast zwei Wochen später auf nach St. George. Ein paar Tage später erließ man gegen ihn und weitere Führer der Kirche einen Haftbefehl, diesmal wegen der erdichteten Mordanklage.32


Nach etlichen kühlen, verregneten Tagen war der Himmel über St. George am 9. November 1871 strahlend blau. Etwas südlich der Stadt befand sich Susie Young unter vielen Zuschauern auf einer neu vermessenen Fläche, wo sich die Heiligen versammelt hatten, um den ersten Spatenstich für den Tempel vorzunehmen.33

Seit seiner Ankunft in St. George im Herbst war Brigham Young öffentlich kaum aufgetreten. Krankheit und die Gerichtsanhörung lasteten auf ihm, und er musste sich in Acht nehmen. Manche befürchteten, Marshals würden versuchen, ihn festzunehmen und nach Salt Lake City zurückzuschleppen. Er übernachtete bei Erastus Snow, wo ihn bewaffnete Wachen beschützten.34

Am Tempelgelände zückte Susie Bleistift und Papier, um sich bei den Feierlichkeiten Notizen zu machen. Vor dem Umzug nach St. George war sie die allerbeste Schülerin eines der Stenografen ihres Vaters gewesen, und sie war stolz darauf, Berichterstatterin zu sein. Von ihrem Standort unter den Zuschauern konnte sie das Geschehen verfolgen und alles festhalten. Sie konnte gut erkennen, wie ihr Vater und ihre Mutter dicht beieinanderstanden und ihre Schwester Mabel die Hand ihrer Mutter festhielt.35

Der Chor sang das Anfangslied, dann kniete George A. Smith nieder und sprach das Weihungsgebet. Darin bat er den Herrn, den Propheten vor dessen Feinden zu schützen und seine Tage zu verlängern. Susie sah dann zu, wie ihr Vater und andere Führer der Kirche an der Südostecke des Grundstücks den ersten Spatenstich vornahmen.

Die Heiligen sangen das Lied „Der Geist aus den Höhen“, ehe Brigham auf einen Stuhl stieg, damit jeder seine Anweisungen für den feierlichen Hosannaruf vernehmen konnte, der seit dem Kirtland-Tempel fester Bestandteil bei Weihungszeremonien und öffentlichen Veranstaltungen war.

Die Heiligen folgten seinem Beispiel, hoben die rechte Hand und riefen drei Mal: „Hosanna, Hosanna, Hosanna Gott und dem Lamm!“36


Ein paar Wochen später erfuhr Brigham, dass Richter McKean die Gerichtsverhandlung für den 4. Dezember angesetzt hatte, obwohl er wusste, dass sich der Prophet weit von Salt Lake City entfernt befand. Brigham wollte St. George jedoch nur ungern verlassen, und der Richter vertagte die Verhandlung auf Anfang Januar. Inzwischen beriet sich Brigham mit seinen Anwälten und Beratern, wie er nun weiter vorgehen sollte. Ihm war bewusst, dass man ihn nach seiner Rückkehr in Salt Lake City festnehmen würde, und so sorgte er sich mehr denn je um seine Sicherheit. Er wollte eine Absicherung, dass man ihn nicht umbrachte, während er in Haft saß.37

Eine Zeit lang überlegte er, ob er nicht wie Joseph Smith damals in Nauvoo einfach untertauchen sollte. Mord war ein Kapitalverbrechen, und wenn die Geschworenen voreingenommen waren und ihn schuldig sprachen, würde man ihn möglicherweise hinrichten. Mitte Dezember drängten ihn seine Anwälte jedoch, nach Salt Lake City zurückzukehren, und versicherten ihm, er werde dort in Sicherheit sein. Das Kollegium der Zwölf Apostel und andere Freunde waren geteilter Meinung, aber dennoch darin einig, dass er tun solle, was er für richtig hielt.38

Eines Nachts träumte Brigham, dass zwei Männer versuchten, bei einer großen Versammlung der Heiligen die Führung zu übernehmen. Als er aufwachte, wusste er, was zu tun war. „Ich denke, ich soll nach Hause gehen und mit Gottes Hilfe und der Hilfe meiner Brüder bei der Versammlung die Führung übernehmen!“, sagte er seinen Freunden.39

Auf der Rückreise nach Salt Lake City machte Brigham in einer kleinen Siedlung Halt, um dort zu übernachten. Die Heiligen waren außer sich, dass er beschlossen hatte, vor Gericht zu erscheinen, denn sie wussten ja, dass Richter McKean ihn im Grunde schon schuldig gesprochen hatte. Ein Mann begann sogar zu schluchzen, als er von Brighams Entscheidung erfuhr. Der Prophet konnte die Sorge des Mannes nachvollziehen, aber er wusste auch, welcher Weg der richtige war.

„Gott wird sich zum Besten von Zion über alles hinwegsetzen“, sagte er.40