Geschichte der Kirche
20 Die Schrift an der Wand


„Die Schrift an der Wand“, Kapitel 20 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019

Kapitel 20: „Die Schrift an der Wand“

Kapitel 20

Die Schrift an der Wand

Bild
Ein Maultierkarren fährt einen Gebirgspass hinab

Im Sommer 1858, etwa zu der Zeit, als die Armee durch Salt Lake City zog, erhielt ein Lehrer namens Karl Mäser ein schmeichelhaftes Angebot von der Familie von John Tyler, einem ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten. Seit Monaten hatte Karl die Kinder von John und Julia Tyler auf einer herrschaftlichen Plantage im Süden der Vereinigten Staaten in Musik unterrichtet. Karl, ein deutscher Einwanderer, hatte die Tylers mit seiner Bildung, seinen höflichen Manieren und seinem feinen Sinn für Humor beeindruckt. Jetzt wollten sie ihm ein Gehalt dafür zahlen, dass er in ihrer Nähe wohnte und ihre Kinder weiter unterrichtete.1

Das Angebot war fast zu großzügig, um es auszuschlagen. Kurz nachdem Karl und seine Frau Anna aus Deutschland in den Vereinigten Staaten angekommen waren, hatte es eine Finanzkrise gegeben, die die Wirtschaft lähmte. In den Städten hatten Zehntausende überall in den Vereinigten Staaten, in Kanada und in Europa ihre Arbeitsstelle verloren. Eine Weile hatten Karl und Anna Schwierigkeiten gehabt, Arbeit zu finden und die Familie zu ernähren. Der Unterricht für die Kinder der Familie Tyler bedeutete für die Mäsers und ihren dreijährigen Sohn Reinhard eine gewisse finanzielle Sicherheit.2

Aber Karl hatte nicht die Absicht, das Angebot der Tylers anzunehmen. Er hatte Julia Tyler einmal gesagt, dass er zu seinem Glück nur ein kleines Haus und einen Garten für seine Familie brauche. Er hatte ihr aber nicht gesagt, dass er und Anna Heilige der Letzten Tage waren, die in die Vereinigten Staaten gekommen waren, um sich in Zion zu sammeln. Karl hatte nicht nur deshalb im Süden Arbeit gesucht, weil er seine Familie versorgen musste – er wollte auch genügend Geld sparen, um in den Westen ziehen zu können.3

Die Kirche hatte er kennengelernt, als er noch in Deutschland wohnte. Nachdem er ein Buch gelesen hatte, in dem die Kirche und ihre Botschaft äußerst kritisch betrachtet wurden, hatte er sich an die Leiter der Europäischen Mission gewandt. Schon bald kamen der Apostel Franklin Richards und ein Missionar namens William Budge nach Deutschland und unterwiesen ihn und seine Familie im Evangelium. Karl und Anna nahmen es schnell an.

Da es in Deutschland verboten war, sich der Kirche anzuschließen, taufte Franklin den Lehrer bei Nacht. Als Karl aus dem Wasser kam, hob er die Hände zum Himmel empor und betete: „Vater, wenn das, was ich gerade getan habe, dein Wohlgefallen findet, gib mir ein Zeugnis, und was du auch von mir verlangen magst, werde ich tun.“4

Zu jener Zeit sprach Karl noch kein Englisch und so verständigte er sich mit Franklin mithilfe eines Dolmetschers. Aber auf ihrem Rückweg in die Stadt konnten Karl und Franklin einander plötzlich verstehen, als ob sie beide dieselbe Sprache sprächen. Diese Kundgebung der Gabe der Zungenrede war das Zeugnis, das Karl sich gewünscht hatte, und er nahm sich vor, sein Wort zu halten – koste es, was es wolle.5

Inzwischen waren drei Jahre vergangen, und Karl war nach wie vor bestrebt, das Versprechen zu halten, das er bei seiner Taufe gegeben hatte. Da er fest entschlossen war, nach Zion zu gehen, schlug er das Angebot der Tylers aus und zog mit seiner Familie nach Philadelphia, einer großen Stadt in den Nordoststaaten, wo er bald darauf zum Präsidenten eines kleinen Zweiges der Kirche berufen wurde.6

Vor der jüngsten Krise in Utah hatten solche Zweige eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Missionsarbeit und die Auswanderung zu unterstützen, die Kirche gegen Kritiker zu verteidigen und sich bei der Regierung für die Kirche einzusetzen. Aber nachdem Brigham Young die Missionare nach Hause gerufen und die Heiligen im Osten aufgefordert hatte, in den Westen zu ziehen, fehlten vielen Zweigen im Osten sowohl die Mitglieder als auch die Mittel, diese Arbeit fortzusetzen.7

Es war alles andere als leicht, im Osten ein Heiliger der Letzten Tage zu sein. Der Ruf der Kirche hatte dort in den letzten zehn Jahren schwer gelitten. Viele waren nach wie vor davon überzeugt, dass die Heiligen Aufständische seien oder zumindest keine Patrioten. Ein Führer der Kirche in New York hatte eine Morddrohung erhalten, und einige Heilige waren wegen ihres Glaubens geteert und gefedert worden. Andere hielten ihre Mitgliedschaft in der Kirche geheim, um nicht verfolgt zu werden.8

In Philadelphia verdiente Anna als Näherin und Haushälterin Geld, während Karl sich um die Mitglieder des Zweiges kümmerte, Regionskonferenzen besuchte und bei der Planung der nächsten Trecks in den Westen mithalf. Die beiden stärkten den kleinen Zweig nach besten Kräften.9 Die Kirche konnte jedoch dort und in aller Welt nur dann gedeihen, wenn die Heiligen den weit verbreiteten falschen Vorstellungen und Missverständnissen etwas entgegensetzten.

Und sie brauchte mehr Missionare, die wieder in die Missionsgebiete zurückkehrten und das Werk der Erlösung fortsetzten.


Anfang September 1858 veröffentlichte George Q. Cannon die Deseret News in Fillmore, einer Stadt im mittleren Utah. Normalerweise hatte die Zeitung ihren Hauptsitz in Salt Lake City, aber als die Heiligen Anfang des Jahres nach Süden gezogen waren, hatten George und seine Familie die schwere Druckerpresse samt Zubehör zusammengepackt und knapp zweihundertfünfzig Kilometer weit nach Fillmore transportiert.10

Nun, da man gefahrlos nach Salt Lake City zurückkehren konnte, beschloss George, die Druckerei wieder in den Norden zu verlegen. Am 9. September verluden er und sein jüngerer Bruder David die Druckerpresse samt Zubehör in Wagen und machten sich mit Georges wachsender Familie auf den Weg zurück in die Stadt. George und Elizabeth hatten inzwischen einen einjährigen Sohn namens John, und ein weiteres Baby war unterwegs. Außerdem hatte George eine zweite Frau geheiratet, Sarah Jane Jenne, und auch sie war schwanger.

Vier Tage nachdem sie Fillmore verlassen hatten, machten die Cannons Rast in einer Ortschaft knapp hundertzwanzig Kilometer vor Salt Lake City. Während George die Tiere ausspannte, näherte sich ein Mann in einer Kutsche, die von Maultieren gezogen wurde. Es war ein Bote von Brigham Young, der schon seit dem vergangenen Abend nach George gesucht hatte. Er sagte, Brigham erwarte George bereits in Salt Lake City. Die Kirche sende wieder Missionare aus, und eine Gruppe von Ältesten warte darauf, George auf seiner Mission in den Osten der Vereinigten Staaten zu begleiten.

George machte große Augen. Welche Mission in den Osten? Eine halbe Stunde später hatten er und Elizabeth einen kleinen Koffer gepackt und eilten mit John nach Salt Lake City, während David kurz darauf mit Sarah Jane und der Druckereiausrüstung folgte. Am nächsten Morgen um fünf kam George in der Stadt an und suchte gleich nach dem Frühstück Brighams Büro auf. Dieser begrüßte ihn und fragte: „Bist du bereit?“

„Das bin ich“, antwortete George.

Brigham drehte sich zu einem der Männer um, die neben ihm saßen. „Ich habe es dir ja gesagt“, meinte er. Dann überreichte ein Sekretär George die Anweisungen für seine Mission.11

Wieder einmal beantragte die gesetzgebende Versammlung des Territoriums Utah beim Kongress der Vereinigten Staaten die Eigenstaatlichkeit und somit das Recht, alle örtlichen Regierungsbeamten selbst zu bestimmen. Da Brigham wusste, dass ein weiteres Gesuch um Eigenstaatlichkeit scheitern würde, wenn die öffentliche Meinung über die Kirche so schlecht bliebe, wollte er George mit einem Sonderauftrag auf Mission senden. Er sollte über die Heiligen im Osten präsidieren, positive Zeitungsartikel über die Kirche veröffentlichen und ihren Ruf im ganzen Land verbessern.12

George spürte sofort, welche Last ihm mit dieser Mission auferlegt wurde. Er musste schon am nächsten Tag abreisen, sodass ihm kaum Zeit blieb, seiner Familie beim Einzug im Salzseetal zu helfen. Aber er war überzeugt, dass der Herr ihm einen Weg bereiten würde, seinen Willen auszuführen. Die Erfahrungen, die George in Hawaii und in Kalifornien gesammelt hatte, waren eine gute Vorbereitung für diese bedeutende und verantwortungsvolle Mission. Außerdem wusste er, dass seine Geschwister und andere Verwandte, darunter seine Tante Leonora und sein Onkel John Taylor, seinen Frauen und Kindern beistehen würden.

Brigham gab George einen Segen und setzte ihn als Missionar ein. Danach gab George Elizabeth und John einen Segen und vertraute sie und Sarah Jane, die noch auf dem Weg nach Salt Lake City war, der Obhut des Herrn an. Am nächsten Tag machte sich George mit einer kleinen Gruppe Missionare auf den Weg nach Osten, über die Rocky Mountains.13


Augusta Dorius Stevens hingegen hatte in Fort Ephraim im Sanpete Valley endlich den größten Teil ihrer Familie bei sich. Ihre Schwägerinnen Elen und Karen waren ihrem Vater Nicolai nach Fort Ephraim gefolgt, als die Heiligen nach Süden gezogen waren. Augustas ältere Brüder Carl und Johan waren kurze Zeit später nachgekommen, nachdem sie in Salt Lake City nicht länger als Wachtposten gebraucht wurden. Auch ihre jüngere Schwester Rebekke wohnte am Ort. Nur ihre Mutter, Ane Sophie, war noch in Dänemark und war auch kein Mitglied der Kirche.14

Seit ihrer Hochzeit mit Henry Stevens vier Jahre zuvor kümmerte sich Augusta um den Haushalt und pflegte auch Henrys kranke erste Frau, Mary Ann, die sie sehr liebgewonnen hatte.15 Im Alter von neunzehn Jahren wurde Augusta zudem die erste Leiterin der Frauenhilfsvereinigung von Fort Ephraim. Zusammen mit ihren Schwestern in der Frauenhilfsvereinigung besuchte sie die Kranken und Leidenden. Sie webten Tuch, fertigten Quilts an, versorgten die Bedürftigen mit Lebensmitteln, verschafften ihnen ein Dach über dem Kopf und kümmerten sich um Waisenkinder. Wenn jemand in der Stadt starb, wuschen sie den Leichnam und kleideten ihn ein. Sie nähten Totenkleidung, trösteten die Trauernden und konservierten den Leichnam bis zur Beerdigung mit Eis aus dem San Pitch River.16

Kurz bevor Familie Dorius wieder vereint war, hatte Augusta einen Jungen namens Jason zur Welt gebracht. Er fiel jedoch einer Epidemie zum Opfer, noch ehe er ein Jahr alt war. Trotz ihrer Trauer hatte Augusta nun aber eine neue Heimat. Sie fand Trost in der großen Gemeinschaft der skandinavischen Heiligen im Sanpete Valley. Aus gemeinsamen Bräuchen und Traditionen und ihren Muttersprachen schöpften sie Kraft, um die Prüfungen in ihrer neuen Heimat zu bestehen. Während ihrer Missionen hatten Augustas Brüder vielen dieser Heiligen das Evangelium verkündet und sie getauft, was ihre Verbundenheit zweifellos noch mehr festigte.

Als Carl und Johan 1858 in Fort Ephraim ankamen, versuchten sie sich in der Landwirtschaft, aber ihre Ernte wurde von Grashüpfern vernichtet. Erfahrenere Siedler wie Augusta und Henry hatten auf ihrer Farm im Sanpete Valley ähnliche Schwierigkeiten erlebt. Die ersten Heiligen, die in die Gegend kamen, hatten mehrere Jahre lang mit verheerendem Frost und Insektenbefall zu kämpfen gehabt. Um zu überleben, bewohnten sie gemeinsam zwei Forts, bebauten das Land gemeinsam und teilten sich das Wasser aus der Bewässerungsanlage. Als sie endlich eine gute Ernte hatten, füllten sie ihre Getreidespeicher und lagerten andere Lebensmittel ein.17

Im Sommer 1859 änderte sich Augustas Leben, als Brigham Young mehrere Familien aus dem Sanpete Valley aufforderte, sich in der Nähe der alten Siedlung Spring Town niederzulassen, wo Augusta nach ihrer Ankunft im Salzseetal kurz gelebt hatte. Bald darauf zogen Augusta und Henry dorthin. Zuerst wurden der Bauplatz für eine Ortschaft und zweihundertsechzig Hektar für die Landwirtschaft abgesteckt. Dann wurden zwei und vier Hektar große Stücke Ackerland abgemessen und unter den Familien aufgeteilt. Bald zierten Häuser, Hütten und ein Blockhaus als Gemeindehaus die neue Siedlung. Da so viele Dänen in der Gegend wohnten, nannten die Einwohner ihre neue Heimat Little Denmark – Klein-Dänemark.18

Nachdem er sich in Spring Town niedergelassen hatte, begann Henry mit dem Bau einer Getreidemühle. Als er dann aber im Winter in den Bergen Bäume fällte und das Bauholz abtransportierte, fing er sich eine schwere Erkältung ein und bekam bald einen hartnäckigen Husten. Aus dem Husten wurde Asthma, was Henry das Arbeiten erschwerte. Da es keine Ärzte am Ort gab, probierte Augusta jedes Mittelchen aus, das sie finden konnte, um Henry das Atmen zu erleichtern. Nichts wirkte.19

Etwa ein Jahr nachdem Augusta und Henry nach Spring Town gezogen waren, berief die Erste Präsidentschaft Augustas Brüder Johan und Carl wieder nach Skandinavien auf Mission. Da keiner der Brüder über ausreichend Mittel für die Reise verfügte, rüsteten die Heiligen in Fort Ephraim und Spring Town sie mit einem Wagen, einem Pferd und einem Maultier aus.20


Im Sommer 1860, wenige Monate nachdem die Brüder Dorius sich auf den Weg in ihr Missionsgebiet gemacht hatten, wurde George Q. Cannon von seiner Mission in den Oststaaten wieder nach Hause gerufen.21 In den letzten zwei Jahren hatten er und Thomas Kane, der langjährige Verbündete der Heiligen, mehrere positive Artikel über die Kirche in Zeitungen veröffentlicht und ihren Einfluss zum Wohle der Kirche geltend gemacht. In enger Zusammenarbeit mit Karl Mäser und anderen Führern der Kirche hatte George auch die Heiligen in New York, Boston, Philadelphia und weiteren Zweigen im Osten gestärkt.22

Aber die öffentliche Meinung richtete sich weiterhin entschieden gegen die Kirche. Erst vor kurzem hatte sich eine neue politische Partei formiert, die Republikaner. Sie wollten der Sklaverei und der Polygamie ein Ende setzen und verurteilten beides als „Relikte der Barbarei“23. Für sie hing beides zusammen, denn sie nahmen fälschlicherweise an, dass Frauen zur Mehrehe gezwungen wurden und keine andere Wahl hatten. Die Sklaverei war jedoch der größere Streitpunkt im Land, weshalb viele – darunter auch George – eine nationale Katastrophe bereits vorhersagten.

„Kein Mann, dessen Herz für die Freiheit und freie und liberale Institutionen schlägt, kann diese Entwicklung beobachten, ohne zu spüren, wie rasant der Ruhm unseres Landes dahinschwindet“, schrieb George in einem Brief an Brigham Young. „Der Untergang der Regierung der Vereinigten Staaten ist unvermeidlich. Es ist nur eine Frage der Zeit.“24

Während seiner Mission erhielt George auch ein Schreiben von Brigham über einen Beschluss, den die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel vor kurzem gefasst hatten. In einer Sitzung im Oktober 1859 hatte Brigham vorgeschlagen, einen neuen Apostel zu berufen, der den Platz von Parley Pratt einnehmen sollte. Er bat das Kollegium der Zwölf Apostel um Empfehlungen. „Jeder, der glaubenstreu ist, wird auch intelligent genug sein, seine Berufung groß zu machen“, sagte Brigham den Aposteln.

„Ich möchte wissen, welches Prinzip bei der Wahl der Männer gelten soll“, entgegnete Orson Pratt, Parleys jüngerer Bruder.

„Wenn mir ein Mensch mit gesundem Menschenverstand vorgeschlagen würde, der keine höhere Eignung besitzt als genügend Treue und Demut, um sich all sein Wissen beim Herrn zu holen, und der sich auf ihn stützt, um Kraft zu erlangen“, so Brigham daraufhin, „dann würde ich ihn einem anderen vorziehen, der gelehrt oder talentiert ist.“

„Wenn der Herr einen zwölfjährigen Jungen bestimmen sollte, wären wir alle bereit, ihn zu unterstützen“, sagte Orson. „Aber wenn die Wahl von meinem Urteil abhinge, würde ich einen erfahrenen Mann auswählen, der in vielem geprüft wurde, der treu und fleißig ist, einen Mann mit Talent, der die Kirche in jeder Situation verteidigen könnte.“

Brigham hörte zu, als die Apostel einige Männer nannten. „Ich schlage George Q. Cannon als einen der zwölf Apostel vor“, sagte er dann. „Er ist bescheiden, aber ich glaube nicht, dass er sich durch seine Bescheidenheit von der Erfüllung seiner Aufgaben abbringen lässt.“25

Die Berufung wurde bei der Generalkonferenz im Frühjahr verkündet, als George sich gerade auf seine Heimkehr vorbereitete. Die Ernennung machte ihm seine eigene Schwäche und Unwürdigkeit bewusst. „Furcht und Schrecken lassen mich erzittern“, schrieb der Dreiundreißigjährige an Brigham, kurz nachdem er von seiner Berufung erfahren hatte, „aber auch Freude, wenn ich an die Güte und Gunst des Herrn und die Liebe und das Vertrauen meiner Brüder denke.“26

Als er einige Monate später heimreiste, eilte George mehreren Planwagenabteilungen und zwei Handwagenabteilungen voraus, die er gemeinsam mit Heiligen aus den Zweigen in den Oststaaten sowie aus Europa und Südafrika zusammengestellt hatte.27

In Anbetracht der schlimmen Erfahrungen einer Handkarrenabteilung im Jahr 1856 schickte George in weiser Voraussicht die letzte Handkarrenabteilung vor mehreren Planwagenabteilungen los. „Ich habe alle möglichen Schritte unternommen, um ein Unglück zu vermeiden“, teilte er Brigham mit, „und vertraue von ganzem Herzen darauf, dass sie mit dem Segen des Herrn alle sicher ihr Ziel erreichen werden.“28


Auch der Patriarch der Kirche, John Smith, befand sich zu dieser Zeit unter den Heiligen, die mit George in den Westen zogen. Ende 1859 war John in den Osten gereist, um seiner Schwester Lovina und ihrer Familie bei der Übersiedlung nach Utah zu helfen. Während sie darauf warteten, dass die nächsten Trecks in den Westen ziehen konnten, besuchten er und Lovina ihre Verwandten in Nauvoo, darunter auch ihre Tante Emma Smith und deren Kinder.29

Emma führte in Nauvoo ein ruhiges Leben. Sie wohnte nach wie vor im Mansion House in Nauvoo und besaß einige Grundstücke, die einst Eigentum der Kirche gewesen waren und die Joseph ihr schon vor seinem Tod 1844 übertragen hatte. Er hatte ihr die Grundstücke in gutem Glauben übertragen, doch einige seiner Gläubiger forderten später den Verkauf dieses Besitzes, um sie auszuzahlen. Sie waren überzeugt, Joseph habe sie betrogen, konnten ihre Anschuldigungen aber nicht beweisen. Die Angelegenheit wurde 1852 beigelegt. Ein Bundesrichter kam zu dem Schluss, dass alles Land, was Joseph als Treuhänder für die Kirche verwaltet hatte und insgesamt über vier Hektar hinausging, verkauft werden konnte, um seine Schulden zu bezahlen. Als Josephs Witwe wurde Emma ein Sechstel des Verkaufserlöses zugesprochen. Mit diesem Geld kaufte sie dann einiges von dem Land zum Lebensunterhalt für ihre Familie zurück.30

Den Verwandten von John und Lovina ging es gut, aber was die Religion anbelangte, gab es eine Kluft zwischen ihnen. Ihre Cousine Julia hatte einen Katholiken geheiratet und seine Religion angenommen. Die vier Söhne von Joseph und Emma betrachteten sich jedoch immer noch als Heilige der Letzten Tage, obwohl sie einige der Grundsätze, die ihr Vater in Nauvoo vertreten hatte, ablehnten – insbesondere die Mehrehe.31

Für John war das keine Überraschung. Obwohl Emma wusste, dass ihr Mann im Stillen die Mehrehe verkündet und auch ausgeübt hatte, glaubte ihr Sohn Joseph Smith III., dass Brigham Young diesen Grundsatz erst nach dem Tod des Propheten Joseph unter den Heiligen eingeführt habe. Als Johns Familie 1848 Nauvoo verließ, hatte John sich bemüht, Joseph III. dazu zu bewegen, mit ihm in den Westen zu ziehen und das Werk ihrer Väter fortzusetzen. Joseph III. aber hatte das rundweg abgelehnt.

„Wenn du damit meinst, dass ich die ‚geistige Ehe‘ und alles andere, was seit ihrem Tod eingeführt wurde, unterstützen muss“, hatte Joseph III. erwidert, „werde ich ganz sicher dein verbissenster Gegner sein.“32

Viele Jahre lang zeigte Joseph III. keinerlei Interesse, eine Kirche zu leiten. Aber am 6. April 1860, nach dem Besuch von John und Lovina, nahmen er und Emma an einer Konferenz einer „Neuen Organisation“ von Heiligen teil, die die Führung von Brigham Young abgelehnt hatten und im mittleren Westen geblieben waren. Bei dieser Versammlung übernahm Joseph III. die Führung der Neuen Organisation und distanzierte sich von den Heiligen in Utah, indem er die Mehrehe verurteilte.33

Wenige Monate später machte sich John mit Lovina und ihrer Familie auf den Weg in den Westen. In der gleichen Abteilung befanden sich auch Karl und Anna Mäser. Der junge Lehrer, der nicht an ein Leben auf zerklüfteten Wegen gewöhnt war, gab sich große Mühe, ein Ochsengespann zu lenken, aber schließlich stellte er doch einen Fahrer ein, der die Arbeit übernahm. Ein Stück weit plagte die Kinder in der Abteilung der Keuchhusten, aber die meiste Zeit kam der Treck ohne Zwischenfälle voran.34

Am 17. August, sie waren noch gut zweihundertfünfzig Kilometer von Salt Lake City entfernt, schoss sich Lovinas vierzehnjähriger Sohn Hyrum Walker versehentlich in den Arm. In der Hoffnung, seinem Neffen wenn nicht den Arm, dann doch wenigstens das Leben zu retten, übertrug John die Führung der Abteilung rasch einem anderen Mann, legte Hyrum in einen Maultierwagen und eilte mit ihm und Lovina voraus ins Salzseetal.

Neun Tage später erreichten sie Salt Lake City, wo ein Arzt Hyrums Arm richten konnte. Da sein Neffe nun in Sicherheit war, kehrte John zu seiner Abteilung zurück und führte sie am 1. September in die Stadt.35


Am 4. November 1860 begrüßte Wilford Woodruff einen Rückkehrer namens Walter Gibson in Salt Lake City. Walter war ein Weltreisender und Abenteurer. Als junger Mann hatte er Mexiko und Südamerika bereist, hatte die Ozeane überquert und war sogar aus einem niederländischen Gefängnis auf der Insel Java entkommen.36

Seinen Schilderungen zufolge hatte er im Gefängnis eine Stimme gehört, die ihm auftrug, ein mächtiges Königreich im Pazifik zu errichten. Jahrelang hatte er nach Menschen gesucht, die ihm bei dieser Mission helfen konnten, hatte aber nie die richtigen gefunden, bis er von den Heiligen der Letzten Tage hörte. Im Mai 1859 hatte er an Brigham Young geschrieben und einen Plan vorgelegt, die Kirche auf den pazifischen Inseln zu versammeln. Wenig später reiste er mit seinen drei Kindern nach Salt Lake City und schloss sich im Januar 1860 der Kirche an.37

Wilford hatte diesen Winter mit Walter Freundschaft geschlossen, oft dessen Vorträge über seine Reisen besucht oder ihn bei gesellschaftlichen Anlässen getroffen.38 Brigham hatte zwar kein Interesse an Walters Vorschlag für einen neuen Sammlungsort, erkannte aber das Potenzial in diesem Neubekehrten.39 Walter war allem Anschein nach ein kenntnisreicher Mann, wortgewandt und gern bereit, in der Kirche zu dienen. Im April 1860 hatte ihn die Erste Präsidentschaft auf eine kurze Mission in den Osten berufen, und Walter hatte die Berufung begeistert angenommen.40

Nun waren sechs Monate vergangen und Walter war mit aufregenden Neuigkeiten nach Utah zurückgekehrt. In New York hatte er einem Abgesandten in der japanischen Botschaft von den Heiligen erzählt und eine Einladung nach Japan erhalten. Fest davon überzeugt, dass er eine gute Beziehung zu den Japanern aufbauen könne, wollte Walter die Einladung annehmen, um der Missionsarbeit in Japan den Weg zu bereiten. Von dort aus, meinte er, könne sich das wiederhergestellte Evangelium nach Siam und in andere Länder in der Region ausbreiten.

„Ich will mich, wie mir aufgetragen wurde, ganz vom Geist Gottes leiten lassen“, versicherte er den Heiligen bei einem Treffen am 18. November. „Ich habe das Gefühl, dass ich mich bei allen Nationen der Menschenkinder heimisch fühlen werde.“41

Wilford freute sich sehr über die Aussicht, Walter nach Asien zu senden. „Der Herr hat ihm die Tür auf wundersame Weise geöffnet“, schrieb er in sein Tagebuch.42

Brigham stimmte ihm zu. „Bruder Gibson wird uns jetzt verlassen und auf Mission gehen“, sagte er den versammelten Heiligen. „Soweit ich es beurteilen kann, kam er hierher, weil der Herr ihn hergeführt hat.“43

Am nächsten Tag legten Heber Kimball und Brigham Young Walter die Hände auf. „Insofern du dein Auge nur auf die Herrlichkeit Gottes richtest und seinen Namen anrufst und seine Weisheit suchst und danach strebst, demütig und sanftmütig vor dem Herrn zu sein, und auf das Wohlergehen der Menschenkinder bedacht bist“, erklärte Heber, „wirst du außerordentlich gesegnet sein, und du wirst das Haus Israel sammeln und viele zur Umkehr bringen und taufen und ihnen die Gabe des Heiligen Geistes spenden.“44

Zwei Tage danach brachen Walter und seine Tochter Talula zum Pazifik auf.45


Einen Monat nach Walters Abreise erklärte South Carolina, einer der Südstaaten, seinen Austritt aus dem Staatenbund – aus Angst, der soeben zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählte Abraham Lincoln werde die wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse im Land verändern und das Ende der Sklaverei herbeiführen. Wilford Woodruff erkannte in diesem beunruhigenden Ereignis sofort die Erfüllung einer Offenbarung, die Joseph Smith achtundzwanzig Jahre zuvor erhalten hatte. Am Weihnachtstag 1832 hatte der Herr den Propheten gewarnt, dass bald ein Aufstand in South Carolina beginnen und im Tod und Elend vieler Menschen enden würde.46

„Durch das Schwert und durch Blutvergießen werden die Bewohner der Erde trauern“, hatte der Herr verkündet, „und durch Hungersnot und Plage und Erdbeben und den Donner des Himmels und auch das heftige und scharfe Blitzen werden die Bewohner der Erde den Grimm und den Unwillen und die züchtigende Hand eines Allmächtigen Gottes zu spüren bekommen, bis die beschlossene Vernichtung allen Nationen ein völliges Ende bereitet hat.“47

„Wir müssen uns auf eine Schreckenszeit in den Vereinigten Staaten einstellen“, schrieb Wilford am 1. Januar 1861 in sein Tagebuch. „Die Schrift an der Wand ist erschienen, und unsere Nation ist zur Vernichtung verdammt.“48