Geschichte der Kirche
36 Das Schwache in der Welt


„Das Schwache in der Welt“, Kapitel 36 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020

Kapitel 36: „Das Schwache in der Welt“

Kapitel 36

Das Schwache in der Welt

Bild
Wildblumen auf der Prärie

Am 29. Juli 1887 stand Wilford Woodruff mit George Q. Cannon und Joseph F. Smith im Büro des Präsidenten der Kirche in Salt Lake City am Fenster. Sie blickten auf John Taylors Trauerzug, der sich ruhig seinen Weg durch die Stadt bahnte. Menschenmengen säumten die Straßen, durch die der Konvoi aus über hundert Kutschen, Einspännern und Planwagen rollte. Emmeline Wells brachte zum Ausdruck, was viele Heilige empfanden, als sie schrieb, Präsident Taylor sei „ein Mann gewesen, in dessen Führungsqualitäten man jederzeit sein Vertrauen setzen konnte und auf den man zu Recht stolz sein“1 könne.

Einzig und allein die drohende Verhaftung hielt Wilford und die beiden anderen Apostel davon ab, sich unter die Menge zu mischen und ihrem Freund und Propheten das letzte Geleit zu geben. Wie fast alle aus seinem Kollegium scheute auch Wilford jedes Auftreten in der Öffentlichkeit, um einer Festnahme wegen Polygamie oder rechtswidriger Lebensgemeinschaft zu entgehen. Als seine Frau Phebe 1885 im Sterben gelegen hatte, war Wilford an ihrer Seite gewesen. An ihrer Beisetzung drei Tage später hatte er jedoch nicht teilgenommen, da er befürchtete, bei diesem Anlass verhaftet zu werden. Als Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel und rangältester Führer der Kirche war Wilford nun mehr denn je im Visier der Marshals.

Das Amt an der Spitze der Kirche hatte Wilford nie angestrebt. Er trug schwer an der Bürde der Verantwortung, die seit der Nachricht von Johns Tod nun auf seinen Schultern lastete. „Wunderbar sind deine Wege, o Herr, allmächtiger Gott“, hatte er gebetet, „denn du hast wahrlich das Schwache in der Welt auserwählt, auf Erden dein Werk zu vollbringen.“2

Einige Tage nach der Beerdigung rief Wilford die Zwölf Apostel zusammen und besprach mit ihnen die Zukunft der Kirche. Wie es auch nach dem Tod Joseph Smiths und Brigham Youngs der Fall gewesen war, stellte das Kollegium nicht sogleich eine neue Erste Präsidentschaft auf. Stattdessen bekräftigte Wilford in einer öffentlichen Erklärung erneut, dass in Ermangelung einer Ersten Präsidentschaft die Zwölf Apostel die Vollmacht besaßen, die Kirche zu führen.3

In den folgenden Monaten brachten die Apostel unter Wilford Woodruffs Führung etliches zuwege. Der Manti-Tempel stand zwar schon kurz vor der Weihung, doch der Abschluss des größeren und weitaus anspruchsvoller konzipierten Salt-Lake-Tempels lag noch in weiter Ferne. In den Originalplänen waren darin zwei große Versammlungsräume vorgesehen gewesen, einer im oberen Stockwerk und einer im Erdgeschoss. Doch in seiner Zeit im Untergrund hatte sich John Taylor mit der Idee einer Neuaufteilung der Räumlichkeiten befasst, wonach der untere Versammlungsraum zusätzlichen Endowment-Räumen Platz machen sollte. Wilford und die Zwölf berieten sich nun mit den Baumeistern, wie sich dieser Plan am besten umsetzen ließe. Außerdem stimmten sie einem Vorschlag zu, die sechs Türme des Tempels mit Granit zu verkleiden statt, wie ursprünglich vorgesehen, mit Holz.4

Im Übrigen unternahmen Wilford und andere Führer der Kirche ohne viel Aufhebens neuerlich einen Vorstoß zur Aufnahme Utahs in den Staatenbund. Da die Führer der Kirche immerfort dem Risiko einer Festnahme ausgesetzt waren, war in Salt Lake City schon drei Jahre lang keine Generalkonferenz mehr abgehalten worden. Die Zwölf Apostel hatten mit den Marshals vor Ort nun ausgehandelt, dass sich Wilford und weitere Apostel, die nicht der Polygamie oder der rechtswidrigen Lebensgemeinschaft bezichtigt wurden, aus ihrem Versteck wagen und in der Stadt eine Konferenz abhalten durften.5

Wilford bemerkte bei den Sitzungen der Apostel, dass sich allmählich gewisse Misstöne einschlichen. Seit Brigham Youngs Tod zehn Jahre zuvor waren etliche neue Apostel ins Kollegium berufen worden, so auch Moses Thatcher, Francis Lyman, Heber Grant und John W. Taylor. Jeder der Neuen schien in Bezug auf George Q. Cannon ernsthafte Bedenken zu hegen. Sie waren der Ansicht, er habe als Geschäftsmann, Politiker und Führer der Kirche etliche schlechte Entscheidungen getroffen.

So legten sie ihm etwa auch sein Verhalten bei einem jüngst durchgeführten Disziplinarverfahren der Kirche zur Last, das auch seinen Sohn betraf, einen bekannten Führer der Kirche, der Ehebruch begangen hatte. Ihnen missfiel ferner die Tatsache, dass George in der Zeit, als John Taylor bereits schwerkrank war, eigenmächtig Entscheidungen im Namen der Kirche getroffen hatte. Die jüngeren Apostel verdross es zudem, dass George in geschäftlichen Belangen der Kirche weiterhin Wilford beriet, wo doch die Erste Präsidentschaft bereits aufgelöst worden war und George wieder seinen Platz unter den Zwölf eingenommen hatte. In ihren Augen handelte George aus Eigennutz und schloss sie von der Entscheidungsfindung aus.6

George indes fühlte sich verkannt. Er räumte ein, hin und wieder einen kleinen Fehler gemacht zu haben, doch die Anschuldigungen, die nun gegen ihn erhoben würden, seien haltlos oder auf Grundlage unvollständiger Kenntnisse gefällt worden. Wilford konnte nachvollziehen, unter welch enormem Druck George die letzten Jahre über gestanden hatte. Er brachte ihm weiterhin Vertrauen entgegen und verließ sich auf Georges Urteilskraft und Erfahrung.7

Am 5. Oktober, dem Tag vor der Generalkonferenz, beraumte Wilford ein Treffen der Apostel an, das der Aussöhnung dienen sollte. „Unter allen Männern auf Erden“, stellte er fest, „sollten gerade wir einig sein.“ Dann hörte er stundenlang den jüngeren Aposteln zu, die erneut ihrem Unmut Luft machten. Nachdem sie geendet hatten, sprach Wilford über Joseph Smith, Brigham Young und John Taylor, die er dank enger Zusammenarbeit gut gekannt hatte. So großartig diese Männer auch gewesen seien, habe er doch auch an ihnen Mängel entdeckt. Ihm gegenüber bräuchten sie sich jedoch nicht zu rechtfertigen, fügte Wilford hinzu. Sie hätten sich Gott gegenüber zu verantworten, der ihr Richter sei.

„Wir müssen Bruder Cannon gegenüber Rücksicht walten lassen“, sagte Wilford. „Er hat seine Schwächen. Wenn dem aber nicht so wäre, wäre er ja nicht mehr unter uns.“

„Wenn ich eure Gefühle in irgendeiner Art und Weise verletzt habe“, fügte George hinzu, „bitte ich demütig um Verzeihung.“

Die Sitzung endete erst nach Mitternacht, und wenige Stunden später sollte bereits die Generalkonferenz beginnen. Doch trotz Georges Entschuldigung waren Moses Thatcher und Heber Grant nach wie vor der Ansicht, dass er für seine Fehler nicht ausreichend geradegestanden habe, und erklärten ihren Mitbrüdern, sie seien immer noch nicht ausgesöhnt.

Über diesen Abend notierte Wilford in seinem Tagebuch in drei kurzen Worten: „Es war schmerzlich.“8


Ungefähr um diese Zeit durchquerte Samuela Manoa gerade mit einem Kanu die türkisfarbenen Gewässer der Bucht von Pago Pago. Hinter seinem Rücken ragten die Bergspitzen der samoanischen Vulkaninsel Tutuila himmelwärts. Vor ihm und außerhalb der Bucht lag am Hafeneingang ein großes Segelschiff und wartete darauf, dass ein Schiffer aus der Gegend es sicher durch das Riff in die Bucht manövrierte.

Als Bewohner der Nachbarinsel Aunu‘u kannte Samuela diesen Hafen gut. Er gelangte mit seinem Kanu schließlich zu dem wartenden Schiff und bot dem Kapitän seine Hilfe an. Der Kapitän ließ eine Strickleiter über die Reling hinab und begrüßte Samuela an Bord.

Samuela folgte dem Kapitän in dessen Kabine unter Deck. Es war noch früh am Morgen, und der Kapitän bot Samuela an, sich doch erst Speck und Eier zu braten, bevor er das Schiff in den Hafen navigierte. Samuela bedankte sich und erhielt ein paar alte Zeitungen zum Feuermachen.

Da Samuela ein wenig Englisch lesen konnte, stellte er fest, dass eine der Zeitungen aus Kalifornien war. Das Papier hatte bereits Feuer gefangen, doch eine Schlagzeile erregte inmitten der flackernden Flammen seine Aufmerksamkeit. Es war die Ankündigung einer Konferenz für Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Samuela hüpfte das Herz vor Freude. Er entriss das Blatt der Glut und löschte die Flammen.9

Der Termin war längst verstrichen, doch Samuelas Interesse galt ohnehin mehr dem Namen der Kirche als dem Ereignis an sich. Dies war seine Kirche, und nun hatte er zum ersten Mal seit Jahren die Gewissheit, dass es sie in den Vereinigten Staaten noch gab und dass sie gedieh!

In den 50er Jahren hatte sich Samuela als junger Mann von Missionaren der Heiligen der Letzten Tage in Hawaii taufen lassen. Walter Gibson hatte jedoch 1861 in der Siedlung der Heiligen auf Lanai die Herrschaft an sich gerissen und Samuela und den übrigen erzählt, in Utah sei die Kirche von der Armee der Vereinigten Staaten zerschlagen worden. Da Samuela nicht wissen konnte, dass Walter geschwindelt hatte, hatte er ihm vertraut und dessen Führungsanspruch unterstützt. Als Walter dann ihn und Kimo Belio, einen weiteren Heiligen aus Hawaii, 1862 auf Mission nach Samoa entsandte, hatte er den Auftrag angenommen.10

Samuela und Kimo waren die ersten Missionare der Heiligen der Letzten Tage in Samoa gewesen. In den ersten paar Jahren hatten sie an die fünfzig Samoaner getauft. Wegen der unzuverlässigen Postzustellung hatten die Missionare jedoch Schwierigkeiten, den Kontakt zu den Heiligen in Hawaii aufrechtzuerhalten.11 Da die Führung der Kirche in Utah keine Berufung ausgesprochen hatte, in Samoa eine Mission zu eröffnen, wurden auch keine weiteren Missionare nach Samoa entsandt, die Samuela und Kimo hätten unterstützen können. Infolgedessen war die Gemeinde samoanischer Heiliger im Laufe der Zeit wieder geschrumpft.12

Kimo war in der Zwischenzeit verstorben, doch Samuela war in Samoa heimisch geworden. Er hatte geheiratet und ein Geschäft aufgebaut. Zwar war er unter den Nachbarn immer noch als der Missionar der Heiligen der Letzten Tage aus Hawaii bekannt, doch fingen einige allmählich an der Existenz der Kirche, die er zu repräsentieren beanspruchte, zu zweifeln an.13

Samuela hatte sich schon lange gefragt, ob Walter ihn mit der Behauptung, die Kirche in den Vereinigten Staaten sei vernichtet worden, angelogen habe.14 Und nun – fünfundzwanzig Jahre nach seiner Ankunft in Samoa – hatte Samuela endlich Grund zu der Hoffnung, er könne, wenn er an den Hauptsitz der Kirche schreibe, von dort auch eine Antwort erhalten.15

Mit der versengten Zeitung in der Hand machte sich Samuela schleunigst auf die Suche nach dem Kapitän und bat ihn um Hilfe bei einem Schreiben an die Führung der Kirche in Utah. Darin ersuchte er darum, so rasch wie möglich Missionare nach Samoa zu entsenden. Er habe schon etliche Jahre darauf gewartet, schrieb er, und könne es kaum erwarten, dass das Evangelium erneut unter den Samoanern gepredigt werde.16


Im Herbst 1887 lebten Anna Widtsoe und ihre Söhne John und Osborne bereits seit fast vier Jahren in Logan im Norden Utahs. Auch Annas Schwester Petroline hatte sich in Norwegen der Kirche angeschlossen und war nach Utah ausgewandert. Sie hatte sich in Salt Lake City niedergelassen, etwa einhundertzwanzig Kilometer weiter südlich.17

Anna arbeitete oft bis tief in die Nacht hinein als Schneiderin, um ihre Jungs und sich über die Runden zu bringen. Sie wünschte sich von ihren Söhnen, dass sie Schullehrer wurden, wie es auch deren verstorbener Vater gewesen war, und maß der Bildung höchsten Stellenwert bei. Da der fünfzehnjährige John im örtlichen Genossenschaftsladen arbeitete, um Geld für die Familie zu verdienen, konnte er tagsüber nicht zur Schule gehen. Er brachte sich in seiner Freizeit jedoch selbst Mathematik bei und nahm bei einem britischen Mitglied Privatstunden in Englisch und Latein. Der neunjährige Osborne besuchte indes die Grundschule und erbrachte dort hervorragende Leistungen.18

Einige Jahre vor Ankunft der Widtsoes hatte Brigham Young ein Stück Land in dieser Gegend zu dem Zweck gestiftet, dass dort eine Schule ähnlich der in Provo gebaut wurde. 1878 öffnete in Logan das Brigham Young College seine Pforten. Anna war fest entschlossen, ihre beiden Söhne, sobald sie dafür bereit waren, auf diese Schule zu schicken, selbst wenn dies bedeutete, dass John dann nicht mehr arbeiten gehen konnte. So mancher teilte ihre Ansicht nicht und meinte, sie dürfe der Bildung nicht den Vorrang vor körperlicher Arbeit einräumen, doch sie war überzeugt, dass den Verstand zu schulen genauso wichtig sei wie den Körper zu schulen.19

Anna war es auch ein Anliegen, dass ihre Söhne an den Programmen und Versammlungen der Kirche teilnahmen. Sonntags gingen sie zur Abendmahlsversammlung und zur Sonntagsschule. Osborne besuchte unter der Woche die Primarvereinigung seiner Gemeinde, und John besuchte die Versammlungen des Aaronischen Priestertums, die montagabends stattfanden. Er hatte als Diakon für die Witwen Holz gehackt und sich an der Instandhaltung des Pfahl-Tabernakels beteiligt, in dem die Versammlungen der Gemeinde abgehalten wurden. Nun war er Priester. Jeden Monat kam er mit der Bischofschaft und anderen Priestern zusammen und besuchte als „Gemeindelehrer“ einige Familien. Außerdem gehörte er der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Männer an.

Anna besuchte jeden Donnerstag die Versammlungen der Frauenhilfsvereinigung. Die Heiligen in Logan kamen zwar aus unterschiedlichen Teilen der Vereinigten Staaten und aus verschiedenen Ländern Europas, doch ihr Glaube an das wiederhergestellte Evangelium verband sie miteinander. In den Versammlungen der Frauenhilfsvereinigung war es nicht weiter ungewöhnlich, wenn eine Frau in ihrer Muttersprache eine Ansprache hielt oder Zeugnis gab und eine andere für sie dolmetschte. Nach einem Jahr in Logan lernte Anna schließlich Englisch, aber da so viele Heilige aus Skandinavien in der Gegend lebten, hatte sie nach wie vor oftmals die Gelegenheit, Norwegisch zu sprechen.20

In den Versammlungen der Kirche erfuhr Anna mehr über das wiederhergestellte Evangelium und begriff so manches nun besser. In Norwegen hatte sie nie jemand auf das Wort der Weisheit aufmerksam gemacht. Sie trank also in Utah weiterhin Kaffee und Tee, besonders wenn sie bis spät in die Nacht hinein arbeiten musste. Zwei Monate lang gelang es ihr nicht, diese Getränke aufzugeben. Doch eines Tages trat sie resolut an den Vorratsschrank, nahm Kaffee und Tee heraus und warf alles ins Feuer.

„Nie wieder“, sagte sie sich.21

Anna und ihre Söhne beteiligten sich außerdem an der Tempelarbeit. Sie und John waren zugegen gewesen, als Präsident Taylor 1884 den Logan-Tempel geweiht hatte. Ein paar Jahre später wurde John im Tempel stellvertretend für seinen Vater, John Widtsoe Sr., getauft und konfirmiert. Am selben Tag wurden er und Osborne auch noch für weitere verstorbene Verwandte getauft und konfirmiert, darunter ihre Großväter und Urgroßväter. Anna und ihre Schwester Petroline besuchten anschließend ebenfalls den Tempel und empfingen ihr Endowment. Bei einem weiteren Tempelbesuch ließ sich Anna stellvertretend für ihre Mutter und weitere Verwandte taufen und konfirmieren.

Der Logan-Tempel war ihr kostbar geworden. Die Himmel schienen am Tag der Weihung offen gewesen zu sein – eine Belohnung für all die Opfer, die sie gebracht hatte, um nach Zion zu gelangen.22


Eliza Snows Gesundheitszustand verschlechterte sich ab 1887 zusehends. Die bekannte Dichterin und Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung war mittlerweile dreiundachtzig Jahre alt und hatte viele Heilige ihrer Generation überlebt. Ihr war bewusst, dass ihr Ende nahte. „Ob ich gehe oder bleibe, entscheide nicht ich“, erklärte sie ihren Freundinnen. „Ich bin jedenfalls gewillt zu sterben oder zu bleiben, wie es der Vater im Himmel bestimmt. Ich bin in seiner Hand.“

Im Laufe des Jahres ließ ihr Befinden weiter nach. Zina Young und weitere gute Freundinnen wichen ihr nicht von der Seite. Am 4. Dezember 1887 um zehn Uhr vormittags besuchte der Patriarch John Smith sie an ihrem Krankenbett im Lion House in Salt Lake City. Er wollte wissen, ob sie ihn denn erkenne, und sie lächelte. „Natürlich“, antwortete sie. John gab ihr einen Segen, und sie bedankte sich. Ihr Bruder Lorenzo war bei ihr, als sie früh am nächsten Morgen friedlich entschlief.23

Als Leiterin der Frauen in der Kirche hatte Eliza in fast jeder Siedlung des Territoriums Frauenhilfsvereinigungen, Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigungen Junger Damen sowie Primarvereinigungen gegründet und begleitet. Mehr als dreißig Jahre lang hatte sie im Endowment House auch den Vorsitz über die Tempelarbeit der Frauen geführt. In all diesen Funktionen hatte Eliza Frauen dafür begeistert, ihre Talente zum Einsatz zu bringen und an Gottes Werk, die gesamte Menschheit zu erretten, mitzuwirken.

„Jede von uns hat die Aufgabe, eine Heilige zu werden“, hatte sie den Frauen einst verkündet. „Wir werden merken, dass wir zu wichtigen Aufgaben berufen sind. Keine ist davon ausgenommen. Keine Schwester lebt so abgeschieden oder hat einen so eng begrenzten Wirkungskreis, dass sie nicht eine ganze Menge für den Aufbau des Gottesreiches auf Erden tun könnte.“24

In der Zeitschrift Woman’s Exponent pries Emmeline Wells in der Ausgabe vom 15. Dezember Eliza als „Auserwählte“ und „Zions Dichterin“. „Schwester Eliza ist in allen Ämtern, die sie innehatte, stets mutig, stark und unerschrocken aufgetreten“, schrieb Emmeline. „Die Töchter Zions sollten ihrer beispielhaften Klugheit nacheifern und in ihre Fußstapfen treten.“25


Im darauffolgenden April wurde Elizas Freundin Zina Young als neue Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung bestätigt. Wie Eliza war auch Zina eine weitere Frau sowohl von Joseph Smith als auch von Brigham Young gewesen.26 Als Eliza 1880 Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung geworden war, hatte sie Zina als Ratgeberin ausgewählt. Über die Jahre hatten die beiden Frauen Seite an Seite gearbeitet, waren im Auftrag des Herrn gereist und waren gemeinsam alt geworden.27

Zina war dafür bekannt, dass sie sich liebevoll um jeden Einzelnen kümmerte und beeindruckende geistige Gaben besaß. Jahrelang war sie der Deseret Silk Association, einem Genossenschaftsprojekt der Frauenhilfsvereinigung, vorgestanden. Sie war aber auch eine erfahrene Hebamme und zudem Vizepräsidentin des Deseret Hospital, eines Krankenhauses der Frauenhilfsvereinigung in Salt Lake City. Auch wenn sie die neue Berufung mit einigem Herzklopfen annahm, war sie fest entschlossen, der Frauenhilfsvereinigung zu weiteren Erfolgen zu verhelfen, wie Eliza es getan hatte.28

Kurz nachdem Zina diese Berufung erhalten hatte, reiste sie nach Kanada, um ihre einzige Tochter, Zina Presendia Card, zu besuchen. John Taylor hatte noch vor seinem Tod Zina Presendias Ehemann Charles damit beauftragt, im kanadischen Exil für Heilige, die in Mehrehe lebten, eine Siedlung zu gründen.29 Zuvor hatten eine Erkrankung und das Winterwetter einen Besuch Zinas bei ihrer Tochter vereitelt. Doch Zina Presendia erwartete ein Kind, und Zina wollte unbedingt an ihrer Seite sein.30

Als Zina in Cardston, der neuen Siedlung in Kanada, ankam, fingen gerade die Wildblumen zu blühen an. Der Ort schien inmitten von Wiesen mit Gräsern, die sich im Wind wiegten, geradezu wie geschaffen, ebenfalls zu erblühen.31

Zina fiel auch auf, dass ihre Tochter trotz der Strapazen der vergangenen Jahre aufgeblüht war. Presendia war mit vierundzwanzig Jahren Witwe geworden und hatte ihre beiden Söhne einige Jahre lang alleine aufgezogen. Schließlich war der Jüngere, Tommy, im Alter von sieben Jahren an Diphtherie gestorben. Drei Jahre danach hatte sie Charles geheiratet, als weitere Ehefrau.32

Zina Presendia war das Leben im Grenzland nicht gewohnt, doch sie hatte sich in ihrer kleinen Blockhütte ein gemütliches Zuhause geschaffen. Die nur roh behauenen Balken im Inneren des Blockhauses hatte sie mit weichem Flanell ausgekleidet, den sie selbst hergestellt hatte. Jedes Zimmer war in einem anderen Farbton gehalten. Im Frühjahr stellte sie so oft wie möglich einen Strauß frischer Feldblumen auf den Esszimmertisch.33

Zina Young blieb etwa drei Monate in Cardston und kam dort auch regelmäßig mit der Frauenhilfsvereinigung zusammen. Am 11. Juni sagte sie den Frauen, Cardston sei eigens für die Heiligen Gottes zurückbehalten worden. Unter den Leuten dort herrsche große Einigkeit, betonte sie, und der Herr halte für sie große Segnungen bereit.34

Am Tag nach dieser Versammlung setzten bei Zina Presendia die Wehen ein. Zina stand ihrer Tochter sowohl als Hebamme als auch als Mutter zur Seite. Nach nur drei Stunden Wehen gebar Zina Presendia ein gesundes, kräftiges Mädchen – ihre erste Tochter.

Mutter, Großmutter und Urgroßmutter hatten allesamt Zina geheißen. Was lag daher näher, als dem Kind ebenfalls den Namen Zina zu geben?35


Schon bevor Samuela Manoas Brief in Salt Lake City ankam, hatte der Heilige Geist die Führer der Kirche dazu inspiriert, die missionarischen Bestrebungen in Samoa auszubauen. Anfang 1887 hatte Apostel Franklin Richards den einunddreißigjährigen Joseph Dean und dessen Frau Florence auf Mission nach Hawaii berufen. Bei der Einsetzung hatte er sie angewiesen, das Evangelium auch auf weiteren Inseln im Pazifik, einschließlich Samoa, zu verbreiten.36

Joseph wurde teilweise auch deswegen zu den Pazifikinseln entsandt, damit er und seine Familie vor den Marshals geschützt waren. Zehn Jahre zuvor hatte er bereits mit seiner ersten Frau Sally eine Mission in Hawaii erfüllt. Nach seiner Rückkehr auf das Festland der Vereinigten Staaten hatte er als weitere Ehefrau Florence geheiratet und war später wegen rechtswidriger Lebensgemeinschaft eine Zeit lang im Gefängnis gewesen. Die Strafverfolger waren ihm jedoch nach wie vor auf den Fersen, bis er und Florence schließlich nach Hawaii gingen. Sally blieb mit den fünf gemeinsamen Kindern in Salt Lake City.37

Einige Monate nach seiner Ankunft in Hawaii schrieb Joseph an Samuela, der ihm rasch antwortete und ihn liebend gern im Missionswerk unterstützen wollte.38 Im Mai 1888, einige Monate nachdem Florence einen Jungen zur Welt gebracht hatte, den seine Eltern Jasper nannten, teilte Joseph Samuela brieflich mit, er werde im folgenden Monat mit seiner Familie nach Samoa kommen. Bald darauf veranstalteten Susa und Jacob Gates für die Deans ein Abschiedsfest, und Joseph, Florence und ihr Neugeborener machten sich auf den Weg nach Samoa.39

Das erste Stück der gut dreitausend Kilometer langen Reise verlief ohne besondere Vorkommnisse, doch der Kapitän ihres Dampfschiffes hatte nicht die Absicht, die Insel Aunu‘u anzusteuern, auf der Samuela wohnte. Stattdessen ging er vor der Insel Tutuila vor Anker, gut dreißig Kilometer westlich von Aunu‘u.

Joseph kannte auf Tutuila niemanden und hielt daher unter denen, die sich zur Ankunft des Schiffs eingefunden hatten, unruhig Ausschau nach einem Mann in leitender Position. Als er jemanden erblickte, der das Sagen zu haben schien, streckte er ihm die Hand entgegen und sagte auf Samoanisch eines der wenigen Wörter, die er kannte: „Talofa!“

Überrascht erwiderte der Mann Josephs Gruß. Joseph versuchte ihm daraufhin klarzumachen, wohin er mit seiner Familie wollte. Er sprach nur Hawaiianisch, betonte dabei aber die Wörter „Aunu‘u“ und „Manoa“.

Die Augen des Mannes leuchteten plötzlich auf. „Du Manoas Freund?“, erkundigte er sich auf Englisch.

„Ja“, antwortete Joseph erleichtert.

Der Mann hieß Tanihiili. Er war von Samuela geschickt worden und sollte Joseph und dessen Familie ausfindig machen und sicher nach Aunu‘u geleiten. Der Mann brachte sie zu einem kleinen offenen Boot, dessen Besatzung aus zwölf Samoanern bestand. Nachdem die Deans an Bord gegangen waren, griffen zehn Mann zu den Rudern, während zwei Wasser aus dem Boot schöpften. Tanihiili saß am Steuer. Die Ruderer mussten gegen heftige Windböen ankämpfen, doch Tanihiili lenkte das Boot gekonnt über bedrohliche Wellenkämme, bis sie sicher im Hafen von Aunu‘u anlangten.

Samuela Manoa wartete mit seiner Frau Fasopo bereits am Ufer auf Joseph, Florence und Jasper. Samuela war ein hagerer, gebrechlicher Mann, erheblich älter als Joseph. Tränen liefen über sein wettergegerbtes Gesicht, als er das Ehepaar auf Hawaiianisch begrüßte. „Ich fühle mich unendlich gesegnet, dass Gott uns zusammengeführt hat und dass ich hier in Samoa seinen bewährten Diener treffen darf“, sagte er.

Fasopo nahm Florence bei der Hand und führte sie zu ihrem Häuschen, das aus drei Zimmern bestand und in dem sie nun alle wohnen sollten. Seine erste Predigt in Samoa hielt Joseph am Sonntag darauf in einem Raum voll neugieriger Nachbarn. Er sprach Hawaiianisch, und Samuela dolmetschte. Am nächsten Tag taufte Joseph Samuela erneut und konfirmierte ihn, wie es die Heiligen damals gelegentlich taten, um ihre Bündnisse zu erneuern.

Unter denen, die die heilige Handlung beobachteten, war auch eine Frau namens Malaea. Bewegt vom Heiligen Geist, bat sie Joseph, sie ebenfalls zu taufen. Dieser hatte seine nasse Taufkleidung bereits wegen der Konfirmierung abgelegt, doch er zog sich wieder um und stieg zurück ins Wasser.

In den folgenden Wochen ließen sich vierzehn weitere Samoaner taufen. Hoffnungsvoll und energiegeladen schrieb Joseph am 7. Juli an Wilford Woodruff: „Ich hatte das Gefühl, ich solle im Namen des Herrn prophezeien, dass Tausende hier die Wahrheit annehmen werden“, berichtete er. „Dies ist heute mein Zeugnis, und ich denke, ich werde dessen Erfüllung miterleben.“40