Geschichte der Kirche
38 Zu der von mir selbst bestimmten Zeit und auf meine Weise


„Zu der von mir selbst bestimmten Zeit und auf meine Weise“, Kapitel 38 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020

Kapitel 38: Zu der von mir selbst bestimmten Zeit und auf meine Weise

Kapitel 38

Zu der von mir selbst bestimmten Zeit und auf meine Weise

Bild
Zwei Männer in einem kleinen Segelboot

Anfang 1889 war es für Joseph Dean schwer, in Samoa Menschen zu finden, denen er das Evangelium verkünden konnte. Kurz nachdem er und seine Frau Florence im vergangenen Sommer auf der Insel Aunu‘u angekommen waren, war das Werk rasch vorangeschritten. Schon bald hatte es auf der Insel genügend Heilige gegeben, um einen Zweig mit einer Sonntagsschule und einer Frauenhilfsvereinigung zu gründen. Aus Salt Lake City waren außerdem neue Missionare entsandt worden, um Familie Dean und die Heiligen auf Samoa zu unterstützen.

Doch Samoa befand sich mitten in einem Bürgerkrieg. Verfeindete Gruppierungen rangen um die Vorherrschaft, und überall auf den Inseln brachen gefährliche Kampfhandlungen aus. Zu allem Übel stellte sich auch der König gegen die Kirche. Es kursierten Gerüchte, er habe es gesetzlich verboten, dass sich jemand den Heiligen der Letzten Tage anschließe, und jeder, der sich taufen ließe, käme ins Gefängnis. Infolgedessen wollten sich immer weniger Menschen taufen lassen.1

Nichtsdestotrotz bauten die samoanischen Heiligen ein Gemeindehaus. Sie deckten das Dach mit Kokosblättern und legten den Boden mit weißen Kieselsteinen und Muscheln aus. Florence Dean und Louisa Lee, die ebenfalls mit ihrem Mann in der Mission tätig war, hielten jeden Freitag eine Versammlung der Frauenhilfsvereinigung ab. Die Missionare kauften unterdessen ein kleines Segelboot, damit sie das Evangelium auch auf anderen samoanischen Inseln predigen konnten. Sie tauften das neue Boot auf den Namen Faa‘aliga, was auf Samoanisch „Offenbarung“ bedeutet.2

Ende 1888 waren Joseph, Florence, ihr kleiner Sohn und mehrere Missionare von Aunu‘u auf die größere Nachbarinsel Tutuila gezogen. Die Insel war jedoch nur dünn besiedelt, und die meisten Männer waren in den Krieg gezogen. Nur wenige interessierten sich für das Evangelium, und Joseph merkte bald, dass er und die anderen Missionare nicht mehr vorankamen. Er beschloss, zur Insel Upolu zu fahren und nach Apia zu gehen, das samoanische Handels- und Regierungszentrum.3

Auf Upolu wollte er sich an den amerikanischen Konsul wenden, um mit ihm über die angeblichen Drohungen des Königs gegenüber den Heiligen zu sprechen. Außerdem war er auf der Suche nach Ifopo, einem Mann, der vor etwa fünfundzwanzig Jahren von dem hawaiianischen Missionar Kimo Belio getauft worden war. Ifopo hatte Joseph bereits zweimal einen Brief geschrieben. Er brannte darauf, Missionare kennenzulernen, die ihm helfen konnten, die Kirche auf seiner Insel aufzubauen.4

Am 11. März setzten Joseph und seine beiden Begleiter, Edward Wood und Adelbert Beesley, am Abend die Segel zur Überfahrt nach Upolu. Die Strecke betrug gut hundert Kilometer. Sie wussten um die Gefahr, die drei unerfahrenen Seglern in einem kleinen Boot bei möglicherweise rauer See drohte. Doch Joseph hatte das Gefühl, der Herr wollte, dass sie die Reise unternahmen.

Nach einer unruhigen Segelfahrt durch die Nacht war schließlich Upolu in Sicht. Doch als sich die Missionare dem Ufer näherten, wurden sie von einer starken Windböe überrascht. Das Boot kenterte und lief sofort voll Wasser. Die Männer versuchten, sich an den Rudern, Kisten und Koffern festzuhalten, die nun auf den Wellen neben ihnen tanzten. Als sie knapp fünfhundert Meter entfernt ein anderes Boot entdeckten, schrien und pfiffen sie, bis es wendete.

Die Samoaner, die den Missionaren zu Hilfe kamen, verbrachten über eine Stunde damit, das Boot aufzurichten, in die Wellen zu tauchen, um die Segel und den Anker zu retten, und den Missionaren zu helfen, ihr Hab und Gut aus dem Wasser zu fischen. Joseph tat es leid, dass er kein Geld hatte, um die Männer für ihre Dienste zu entlohnen. Sie nahmen aber freundlich seinen Handschlag an, und er bat den Herrn, sie zu segnen.

Als Joseph und seine Begleiter endlich die Stadt Apia erreichten, waren sie erschöpft. Sie beteten und dankten Gott, dass er sie auf ihrem Weg beschützt hatte. An den folgenden Tagen machten sie sich auf die Suche nach dem amerikanischen Konsul und nach Ifopo.5


Lorena Larsen war neunundzwanzig, gerade nach Utah zurückgekehrt und mit ihrem vierten Kind schwanger. Ihr Mann Bent hatte kürzlich eine sechsmonatige Haftstrafe wegen rechtswidrigen Zusammenlebens verbüßt. Da Lorena eine weitere Ehefrau von Bent war, konnte ihre Schwangerschaft als Beweis dafür herangezogen werden, dass Bent abermals gegen das Gesetz verstoßen hatte. Um ihre Familie zu schützen, beschloss sie unterzutauchen.6

Zunächst fand Lorena Zuflucht als Tempelarbeiterin im Manti-Tempel. Der Tempel lag knapp hundert Kilometer von ihrem Heimatort Monroe in Utah entfernt, und ihre Gemeinde war gebeten worden, Tempelarbeiter zu stellen. Lorena zog nach Manti und diente eine Zeit lang im Tempel. Aber die Trennung von ihren Kindern, die sie in der Obhut von Bent und anderen Angehörigen zurückgelassen hatte, fiel ihr schwer. Nachdem sie fast eine Fehlgeburt erlitten hatte, wurde Lorena vom Tempelpräsidenten Daniel Wells aus ihren Diensten entlassen.7

Lorena und Bent beschlossen nun, für sie und ihre Kinder ein Haus in Redmond zu mieten, einer Ortschaft auf halbem Weg zwischen Monroe und Manti. Da überall Spitzel lauerten, musste Lorena ihre Identität geheim halten. Sie heiße jetzt Hannah Thompson, sagte sie ihren Kindern, und wenn ihr Vater zu Besuch komme, sollten sie ihn „Onkel Thompson“ nennen. Immer wieder betonte Lorena, wie wichtig es sei, ihre richtigen Namen nicht preiszugeben.8

Als die Familie in Redmond angekommen war, mied Lorena die Öffentlichkeit und verbrachte die meiste Zeit zuhause. Eines Nachmittags jedoch schloss sie sich einer Gruppe freundlicher Schwestern aus der Frauenhilfsvereinigung an. Diese erzählten Lorena, ihre zweijährige Tochter habe, als man sie nach ihrem Namen fragte, geantwortet: „Onkel Thompson“.

Die freundlichen Heiligen in Redmond kümmerten sich sogleich um Lorena und ihre Kinder. Am Ostersonntag fand sie vor ihrer Haustür einen Eimer frische Eier und ein Pfund Butter. Doch sie vermisste ihr Zuhause in Monroe. Sie war schwanger und allein, und es war jeden Tag eine Plackerei, sich an einem fremden Ort um ihre drei Kinder zu kümmern.9

Dann hatte Lorena eines Nachts einen Traum. Sie sah ihren Rasen in Monroe, von wilden Büschen und Ranken überwuchert. Es schmerzte sie, dass alles so heruntergekommen aussah, und so begann sie sofort, das Unkraut zu jäten. Als Lorena an einer tiefen Wurzel zog, befand sie sich plötzlich neben einem wunderschönen Baum, der voll behangen war mit den herrlichsten Früchten, die sie je gesehen hatte. Sie hörte eine Stimme sagen: „Auch der Baum im Untergrund bringt erlesene Früchte hervor.“

Im Traum war Lorena von ihrer Familie umgeben. Ihre Kinder waren schon erwachsen. Sie kamen zu ihr und trugen Geschirr, Schalen und kleine Körbe. Gemeinsam füllten sie die Gefäße mit den köstlichen Früchten und reichten sie an eine Menschenmenge weiter, unter denen, wie Lorena erkannte, auch ihre Nachkommen waren.

Freude erfüllte Lorena, und sie erwachte voller Dankbarkeit.10


Bald nach der Ankunft in Apia trafen sich Joseph Dean und seine Begleiter mit dem amerikanischen Vizekonsul in Samoa, William Blacklock. Sie erkundigten sich, ob die Gerüchte über die Inhaftierung samoanischer Heiliger der Letzten Tage wahr seien. „Das ist nur ein Ablenkungsmanöver“, versicherte ihnen der Vizekonsul. Ein Vertrag zwischen den Konfliktparteien auf den Inseln gestehe den Menschen zu, Gott so zu verehren, wie es ihnen beliebte.11

Dennoch lag Kriegsgefahr über den Inseln. Sieben Kriegsschiffe waren im Hafen von Apia vor Anker gegangen: drei aus Deutschland, drei aus den Vereinigten Staaten und eines aus Großbritannien. Jede Nation war entschlossen, ihre Interessen im Pazifik zu verteidigen.12

Die Missionare wollten auf ihrer Suche nach Ifopo als Nächstes mit dem Boot zu seinem Dorf Salea‘aumua am östlichen Ende der Insel fahren.13 Doch dann braute sich über Apia ein Sturm zusammen. Der heulende Wind und die tosende Brandung zwangen Joseph und seine Begleiter, schnellstens Schutz zu suchen. Sie flüchteten auf den Dachboden einer Scheune, die einem ortsansässigen Ladenbesitzer gehörte. Als sie spürten, wie das marode Gebäude im herannahenden Sturm zu klappern anfing, befürchteten sie seinen Einsturz.

Allmählich wuchs sich der Sturm zu einem Wirbelsturm aus. Die Missionare standen an einem Fenster und beobachteten entsetzt, wie er die riesigen Kriegsschiffe im Hafen zurichtete. Ungeheure Wellen donnerten auf das Deck eines Schiffes herab und spülten einige Männer ins Meer hinaus. Auf einem anderen Schiff kletterten Matrosen die Masten und die Takelage empor und klammerten sich wie Spinnen an die Seile. Andere sprangen in den aufgewühlten Ozean und versuchten, in Sicherheit zu schwimmen. Die Schiffe waren bloß hundert Meter vom Ufer entfernt, aber man konnte nichts tun, um den Männern zu helfen. Joseph konnte nur um Erbarmen beten.14

Nach dem Sturm säumten Trümmer und Wrackteile der Kriegsschiffe den Strand. An die zweihundert Menschen waren umgekommen.15 Die Missionare hatten Zweifel, ob sie sich wieder auf See wagen sollten. In der Zeit der Wirbelstürme konnte jederzeit ohne Vorwarnung ein weiteres Unwetter aufkommen.16 Die Missionare schluckten jedoch ihre Angst hinunter und segelten nach Salea‘aumua, um endlich Ifopo zu finden.

Als sie ankamen, ruderte ihnen ein Häuflein Samoaner zur Begrüßung entgegen. Einer der Männer stellte sich als Ifopo vor. Zwei Jahrzehnte lang war er seinem Zeugnis vom wiederhergestellten Evangelium treu geblieben. Die ganze Zeit hatte er unter der Ungewissheit gelitten, ob jemals neue Missionare auf seine Insel kommen würden. Doch nun waren Joseph und seine Begleiter eingetroffen, und das galt es zu feiern. Ifopo stellte ihnen seine Frau Matalita vor, und zusammen genossen sie ein Festmahl mit Spanferkel und frischem Obst.17

In den nächsten Tagen lernten die Missionare auch Ifopos Freunde und Nachbarn kennen. Bei einer Versammlung kamen hundert Menschen zusammen, um Joseph sprechen zu hören. Der Heilige Geist war machtvoll zu spüren. Die Zuhörer hatten aufrichtiges Interesse und waren begierig, mehr über das Evangelium zu erfahren.

Eines Nachmittags gingen Ifopo und die Missionare zu einem nahegelegenen Bach. Zwar war Ifopo bereits getauft, doch da seither so viele Jahre vergangen waren, bat er darum, erneut getauft zu werden. Joseph watete mit seinem neuen Freund ins Wasser und tauchte ihn unter. Danach kniete Ifopo am Ufer nieder und die Missionare bestätigten ihn als Mitglied der Kirche.

Einige Tage später drehte der Wind, sodass Joseph und seine Begleiter die Heimfahrt nach Tutuila antreten konnten. Ifopo begleitete sie bis hinter das Riff, um ihnen den Weg zu zeigen. Als es an der Zeit war, sich zu verabschieden, drückte er seine Nase gegen die Nase jedes der beiden Missionare – ein samoanischer Abschiedskuss.18


Im Frühjahr 1889 wollte Lorena Larsens Ehemann Bent den Marshals der Bundesregierung entkommen, indem er sich nach Colorado absetzte, wo man relativ sicher war. In diesem Nachbarstaat galt das Edmunds-Tucker-Gesetz nicht. Seine erste Frau Julia konnte bei ihren Angehörigen in Monroe bleiben. Bent wollte, dass Lorena und ihre Kinder bei ihrem Bruder in Utah blieben, bis er in Colorado so weit war, dass sie nachkommen konnten.19

Lorena gefiel dieser Plan nicht. Sie erinnerte Bent daran, dass ihr Bruder arm war und ihre Schwägerin vor kurzem Typhus gehabt hatte. Sie waren nicht in der Lage, Lorena und ihren Kindern zu helfen. Außerdem befand sich Lorena in den letzten Monaten ihrer Schwangerschaft und wollte ihren Mann an ihrer Seite haben.

Bent lenkte ein, und so brachen Lorena und ihre Kinder schon bald mit ihm nach Colorado auf. Der Weg zog sich über achthundert Kilometer hin und führte durch Wüsten und über Berge. Es war ein wildes Gelände. Die Männer, denen sie unterwegs begegneten, machten oft einen gefährlichen Eindruck. An einer Stelle sammelte sich das einzige verfügbare Wasser in Löchern in den felsigen Berghängen. Während Bent Wasser holen ging, steuerte Lorena den Wagen langsam durch den Canyon und rief regelmäßig Bents Namen, damit sie ihn auf keinen Fall in der Dunkelheit verlor.

Lorena war dankbar, als sie mit ihrer Familie endlich in Sanford in Colorado ankam und sich dort der kleinen Gemeinschaft der Heiligen anschließen konnte. Als die Wehen einsetzten, war sie immer noch sehr geschwächt von der Reise. Die Geburt war so schwierig, dass man um ihr Leben fürchtete. Lorenas Sohn Enoch wurde am 22. August geboren. Die Hebamme meinte, es sei das größte Baby gewesen, dem sie in den letzten sechsundzwanzig Jahren auf die Welt geholfen habe.20

Mittlerweile wurden die gegen die Kirche gerichteten Gesetze und Maßnahmen zu einer immer größeren Belastung für Familien wie die Larsens. Selbst Heilige, die nicht in Mehrehe lebten, waren davon betroffen.

In Idaho hatte die gesetzgebende Versammlung des Territoriums ein Gesetz verabschiedet, das jedem Wahlberechtigten einen Eid abverlangte, dass er keiner Kirche angehörte, die die Polygamie lehrte oder unterstützte. Dabei war es unerheblich, ob die Wahlberechtigten selbst in Mehrehe lebten oder nicht. Dadurch wurden praktisch alle Mitglieder der Kirche in Idaho – fast ein Viertel der Bevölkerung – daran gehindert, zu wählen oder ein Amt zu übernehmen. Auch Einwanderer, die der Kirche angehörten, befanden sich im Nachteil, da Regierungsbeamte und Richter ihnen die Einbürgerung verwehrten.

Fälle, bei denen wegen der Rechtmäßigkeit solcher Maßnahmen Berufung eingelegt wurde, durchliefen die Gerichte der Vereinigten Staaten, da sich aber die öffentliche Meinung entschieden gegen die Kirche richtete, wurden nur selten Urteile zugunsten der Kirche gefällt. Die Anwälte der Kirche hatten jedoch die Rechtmäßigkeit des Edmunds-Tucker-Gesetzes kurz nach der Verabschiedung durch den Kongress angefochten, und die Heiligen waren zuversichtlich, dass der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten es aufheben würde. Das Gericht hatte unlängst begonnen, den Fall zu verhandeln. Noch hatte es kein Urteil gefällt, sodass die Heiligen im Ungewissen blieben.21

Lorena war klar, dass selbst an einem so abgeschiedenen Ort wie Sanford ein Riss durch ihre Familie und die Kirche gehen und Angst herrschen würde, solange der Staat den Heiligen ihr Recht auf freie Religionsausübung verwehrte.22


Während die Larsens und andere Mitglieder der Kirche untertauchten, um ihre Familien zu schützen und weiter nach ihrer Religion zu leben, suchte die Erste Präsidentschaft nach neuen Wegen, die Religionsfreiheit der Heiligen zu verteidigen. Wilford Woodruff war entschlossen, Verbündete in Washington zu gewinnen, um eines Tages die Anerkennung Utahs als Bundesstaat zu erreichen. Deshalb redete er den Zeitungsherausgebern, die Heilige der Letzten Tage waren, gut zu, die Regierung in ihren Veröffentlichungen nicht länger anzugreifen. Er forderte die Führer der Kirche auf, nicht mehr öffentlich über die Mehrehe zu sprechen, um die Kritiker in der Regierung nicht zu reizen. Außerdem hatte er den Präsidenten des Logan-Tempels aufgefordert, im Haus des Herrn keine neuen Mehrehen zu schließen.23

Infolge dieser neuen Richtlinien gingen immer weniger Heilige eine Mehrehe ein. Einige hofften jedoch nach wie vor, den Grundsatz weiterhin so leben zu können, wie er bisher gelehrt worden war. Diesen Heiligen wurde meist empfohlen, nach Mexiko oder Kanada zu ziehen, wo die Kirche im Stillen weiterhin solche Eheschließungen vollzog und nicht von der Regierung der Vereinigten Staaten belangt werden konnte. Gelegentlich wurden aber auch noch im Territorium Utah Mehrehen geschlossen.24

Im September 1889 besuchten Wilford Woodruff und George Q. Cannon die Heiligen nördlich von Salt Lake City. Sie kamen mit einem Pfahlpräsidenten zusammen, der fragte, ob er jemandem, der eine Mehrehe eingehen wollte, einen Tempelschein ausstellen dürfe.

Wilford antwortete auf die Frage des Pfahlpräsidenten nicht sofort. Stattdessen erinnerte er ihn daran, dass den Heiligen einst geboten worden war, einen Tempel im Kreis Jackson in Missouri zu bauen, und dass sie dann gezwungen waren, diesen Plan aufzugeben, als der Widerstand zu groß wurde. Der Herr hatte das Opfer der Heiligen dennoch angenommen. Die Folgen davon, dass der Tempel nicht gebaut worden war, hatten die Menschen zu tragen, die den Bau verhindert hatten.

„Genauso verhält es sich mit dieser Nation“, erklärte Wilford. „Die Folgen dieser Angelegenheit müssen diejenigen tragen, die diesen Kurs eingeschlagen haben, um zu verhindern, dass wir dieses Gebot befolgen.“

Dann beantwortete er die Frage des Pfahlpräsidenten direkt. „Ich habe den Eindruck, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht angebracht ist, in unserem Territorium irgendeine Ehe dieser Art zu schließen“, erklärte er. Dann machte er eine Handbewegung in Richtung George und fügte hinzu: „Hier ist Präsident Cannon. Er kann dir sagen, wie er darüber denkt.“

George war sprachlos. Nie zuvor hatte Wilford so deutlich Stellung bezogen – und er war sich nicht sicher, ob er mit ihm einer Meinung war. Sollte die Kirche aufhören, im Territorium Utah Mehrehen zu schließen? Anders als Wilford war er noch nicht so weit, das beantworten zu können. Also ließ er die Frage offen und ging zu anderen Themen über.

Doch später, als George das Gespräch in seinem Tagebuch festhielt, rang er weiter mit Wilfords Aussage. „Für mich ist das eine überaus ernste Frage“, notierte er, „und es ist meines Wissens das erste Mal, dass jemand, der die Schlüssel innehat, etwas Derartiges geäußert hat.“25


Während die Fragen nach dem zukünftigen Kurs der Kirche zunehmend dringlicher wurden, veröffentlichte Susa Gates im Oktober 1889 die erste Ausgabe des Young Woman’s Journal.

Susa hatte mit dem Aufbau der Zeitschrift begonnen, nachdem Jacob und sie Anfang des Jahres nach Utah zurückgekehrt waren. Ihre Schwester Maria Dougall, Ratgeberin in der Präsidentschaft der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen, hatte die jungen Damen des Pfahls Salt Lake im Juni ermuntert, die neue Zeitschrift zu unterstützen und Beiträge dafür zu verfassen. Einige Monate später druckten mehrere Zeitungen die Ankündigung der bevorstehenden Veröffentlichung.26

Susa hatte auch mehrere Autorinnen unter den Heiligen der Letzten Tage gebeten, ihre Gedichte und Prosa an die Zeitschrift zu schicken. Seit Jahren hatten Heilige mit schriftstellerischem Talent an ihren Fähigkeiten gefeilt und ihre Werke in von der Kirche unterstützten Zeitungen und Zeitschriften wie dem Woman’s Exponent, dem Juvenile Instructor oder dem Contributor veröffentlicht. In Europa verfassten Mitglieder der Kirche auch Beiträge für den Millennial Star der britischen Mission, den Skandinaviens Stjerne und den Nordstjarnan der skandinavischen Mission sowie den Stern der schweizerisch-deutschen Mission.27

Die Heiligen bezeichneten dieses Schriftgut manchmal auch als „heimische Literatur“, was an die von Brigham Young geförderte heimische Industrie erinnerte – die eigene Herstellung von Produkten wie Zucker, Eisen oder Seide. 1888 hatte Bischof Orson Whitney in einer Predigt die Jugend der Kirche aufgefordert, mehr heimische Literatur zu verfassen, um die großen schriftstellerischen Talente unter den Heiligen ans Licht zu bringen und für das wiederhergestellte Evangelium Jesu Christi Zeugnis abzulegen.

„Schreibt für Zeitungen, schreibt für Zeitschriften – vor allem für unsere eigenen Veröffentlichungen“, hatte er sie eindringlich gebeten. „Schreibt selbst Bücher, die nicht nur euch und dem Land und den Menschen, die euch hervorgebracht haben, zur Ehre gereichen, sondern auch der Menschheit ein wohltuender Segen sind.“28

In der ersten Ausgabe des Young Woman’s Journal veröffentlichte Susa Beiträge von einigen der bekanntesten Schriftstellerinnen der Kirche, darunter Josephine Spencer, Ruby Lamont, Lula Greene Richards, M. A. Y. Greenhalgh sowie die Schwestern Lu Dalton und Ellen Jakeman. Sie nahm auch eigene schriftstellerische Arbeiten darin auf, einen Brief der Präsidentschaft der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen sowie eine Kolumne zum Thema Gesundheit und Hygiene von Romania Pratt.29

Im ersten Leitartikel für die Zeitschrift äußerte Susa die Hoffnung, dass in weiteren Ausgaben schon bald Artikel von jungen Damen aus der gesamten Kirche erscheinen würden. „Denkt daran, liebe Mädchen, dies ist eure Zeitschrift“, schrieb sie. „Lasst uns ihren Einfluss von Kanada bis Mexiko, von London bis zu den Sandwich-Inseln ausweiten.“30


Noch im Herbst verweigerte ein Bundesrichter in Utah mehreren europäischen Einwanderern die US-Staatsbürgerschaft, weil sie Heilige der Letzten Tage und somit nach Ansicht des Richters den Vereinigten Staaten gegenüber nicht loyal waren. Während der Anhörungen behaupteten Mitglieder, die sich von der Kirche abgewandt hatten, die Heiligen legten in ihren Tempeln regierungsfeindliche Eide ab. Bezirksstaatsanwälte zitierten ferner Predigten aus Zeiten, in denen sich die Führer der Kirche vehement gegen korrupte Regierungsbeamte und gegen diejenigen gewandt hatten, die der Kirche den Rücken gekehrt hatten. Solche Predigten sowie weitere Lehren der Kirche über die letzten Tage und das Reich Gottes wurden als Beweise dafür ausgelegt, dass die Heiligen die Staatsgewalt missachteten.31

Wilford und anderen Führern der Kirche war klar, dass sie auf diese Unterstellungen reagieren mussten. Allerdings würde es schwierig werden, auf Aussagen im Zusammenhang mit dem Tempel einzugehen, da die Heiligen ja feierlich gelobt hatten, nichts über die Tempelzeremonien preiszugeben.32

Ende November traf sich Wilford mit Anwälten, die den Führern der Kirche rieten, dem Gericht weitere Auskünfte über den Tempel zu geben. Sie empfahlen ihm auch, eine offizielle Mitteilung herauszugeben, dass die Kirche keine Mehrehen mehr schließe. Wilford war sich nicht sicher, ob er dem Rat der Anwälte folgen sollte. Waren solche Maßnahmen wirklich notwendig, nur um die Feinde der Kirche zu besänftigen? Er benötigte Zeit, um herauszufinden, was Gottes Wille war.33

Die Nacht war bereits angebrochen, als die Anwälte Wilford verließen. Viele Stunden lang dachte er nach und betete um Anleitung, was zu tun sei.34 Wilford und die Heiligen waren 1847 ins Salzseetal gezogen, um Zion erneut aufrichten und Gottes Kinder im Frieden und in der Sicherheit der Grenzen Zions sammeln zu können. Jetzt, mehr als vierzig Jahre später, rissen Gegner der Kirche Familien auseinander, entzogen Bürgern ihr Wahlrecht, erdachten Hindernisse für die Einwanderung und die Sammlung und verweigerten Menschen das Recht auf Staatsbürgerschaft, nur weil sie der Kirche angehörten.

Schon bald konnten die Heiligen noch mehr verlieren – sogar die Tempel! Was würde dann aus dem Werk der Erlösung und Erhöhung der Kinder Gottes auf beiden Seiten des Schleiers werden?

Als Wilford betete, antwortete ihm der Herr. „Ich, Jesus Christus, der Erretter der Welt, bin mitten unter euch“, sprach er. „Alles, was ich in Bezug auf die Generation, der ihr angehört, offenbart und verheißen und angeordnet habe, wird geschehen, und keine Macht wird meine Hand zurückhalten.“

Der Erretter sagte Wilford zwar nicht, was genau er tun sollte, versprach aber, dass alles gut ausgehen würde, wenn die Heiligen dem Heiligen Geist folgten.

„Habt Vertrauen in Gott“, sagte der Erretter. „Er wird euch nicht im Stich lassen. Ich, der Herr, werde meine Heiligen zu der von mir selbst bestimmten Zeit und auf meine Weise aus der Herrschaft der Schlechten befreien.“35