Geschichte der Kirche
41 Schon so lange niedergehalten


„Schon so lange niedergehalten“, Kapitel 41 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020

Kapitel 41: „Schon so lange niedergehalten“

Kapitel 41

Schon so lange niedergehalten

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Richterhammer

Am Nachmittag des 25. Februars 1891 bereitete sich Jane Richards, Erste Ratgeberin in der Präsidentschaft der Frauenhilfsvereinigung, auf ihren Vortrag bei der ersten Konferenz des Nationalen Frauenrats in Washington vor. Zweieinhalb Tage lang hatte sie bei der Konferenz interessiert Frauen aus dem ganzen Land zugehört, die von ihrer Arbeit in den Bereichen Bildung, Wohltätigkeit, Sozialarbeit und Kultur berichteten. Nun war sie an der Reihe, und hunderte Zuhörerinnen waren gekommen, um zu erfahren, was die Heiligen der Letzten Tage wohl zu sagen hatten.1

Die Frauenhilfsvereinigung hatte sich in ihrer beinahe fünfzigjährigen Geschichte fast ausschließlich um das Wohl der Heiligen gekümmert. Zina Young, die Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung, war allerdings der festen Überzeugung, dass sich die Frauenorganisationen der Kirche mit anderen Gruppierungen zusammentun sollten, um für Anliegen wie das Frauenwahlrecht einzutreten. Die Mitarbeit im Nationalen Frauenrat bot den Führerinnen der Frauenhilfsvereinigung und der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen eine Gelegenheit, andere Frauen kennenzulernen, die ähnliche Werte und Ziele verfolgten, und mit ihnen zusammenzuarbeiten.2

Emmeline Wells hatte Jane ausgewählt, die Konferenz zu besuchen, weil sie Frauen schicken wollte, die gut gebildet und über die Belange der Frauen in Utah gut informiert waren. Auch sollten sie Mut besitzen – eine Eigenschaft, über die Jane ihrer Meinung nach in reichem Maße verfügte.

Emmeline, Sarah Kimball und weitere Führerinnen der Kirche begleiteten Jane nach Washington. Vor der Abreise segnete ein Apostel oder ein Mitglied der Ersten Präsidentschaft jede von ihnen und setzte sie dazu ein, ihre jeweilige Organisation zu vertreten.

Schon früher waren bekannte Frauen aus der Kirche nach Washington gereist, um sich für die Heiligen einzusetzen, doch dieses Mal war es anders. Sie kamen als Führerinnen von Frauenorganisationen, die von ihrer Arbeit berichten wollten – und zwar nicht nur in Utah, sondern auch an vielen anderen Orten, wo die Frauenhilfsvereinigung und die Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigung Junger Damen eingerichtet worden waren.3

Bevor Jane und die weiteren Vertreterinnen aus Utah dem Rat beiwohnen durften, hatte ein Komitee beraten, ob man sie überhaupt zulassen sollte. Die meisten Frauen im Komitee würdigten die Anstrengungen der Frauenhilfsvereinigung, das Frauenwahlrecht zu fördern, Frauen auf nationaler und internationaler Ebene zu organisieren und eine gute Beziehung zu bekannten Anführerinnen der nationalen Frauenbewegung aufzubauen.4 Eine Frau jedoch hatte Einwände gegen die Aufnahme, da sie glaubte, man wolle die Polygamie predigen.

Andere im Komitee hatten daraufhin die Heiligen in Schutz genommen und zum Beweis, dass man den Gesandten aus Utah vertrauen könne, das Manifest herangezogen. Letzten Endes hatte das Komitee einstimmig beschlossen, die Frauenhilfsvereinigung und die Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigung Junger Damen in den Rat aufzunehmen.5

Als Jane mit ihrem Vortrag an der Reihe war, fasste sie sich kurz. Sie erklärte den Anwesenden, dass es der Frauenhilfsvereinigung darum gehe, jedermann mit Nächstenliebe und gutem Willen zu begegnen und zu Frieden und Freude beizutragen. Auch dankte sie allen Frauen von überallher, die ähnliche Ansichten hatten.

„In manchen Punkten mögen wir unterschiedlicher Meinung sein“, sagte sie, „aber wir alle haben das große Ziel, allen Menschen Gutes zu tun.“6

Während ihres Aufenthalts in Washington sprach Jane mit vielen über die Frauenhilfsvereinigung und die Heiligen. Sie bewunderte sowohl die Frauen, auf die sie traf, als auch deren Arbeit, und wünschte sich, sie hätte fünfhundert Exemplare des Manifests für diejenigen mitgenommen, die Fragen zur Mehrehe hatten. Vor der Heimreise lud sie viele ihrer neuen Bekanntschaften nach Utah ein.

Falls sie die Heiligen der Letzten Tage besser kennenlernen wollten, erklärte sie, sei es doch das Beste, einige Zeit unter ihnen zu verbringen.7


Im Winter fiel es Emily Grant immer schwerer, auf sich allein gestellt den eisigen, heulenden Wind in Colorado zu ertragen.8 Seitdem die Kirche das Manifest herausgebracht hatte, war die Beziehung zur Bundesregierung allmählich besser geworden. Die Verantwortlichen in Washington, darunter der Präsident, hatten kein Interesse mehr daran, den Heiligen das Wahlrecht zu entziehen oder die Tempel zu beschlagnahmen. Auch hatte der Oberste Gerichtshof entschieden, dass Kinder, die aus Mehrehen hervorgegangen waren, wieder Eigentum erben durften.

Dennoch blieben die Bundesgesetze gegen die Polygamie in Kraft. Nach wie vor erfolgten, wenn auch in geringerer Anzahl, Festnahmen wegen Polygamie und rechtswidriger Lebensgemeinschaft.9 In Manassa war Emily einigermaßen sicher, aber falls sie von dort fortging, konnte es bekannt werden, dass sie mit Heber Grant in Mehrehe lebte, und das konnte die ganze Familie in Gefahr bringen.10

Emilys Vater, Daniel Wells, verstarb im März 1891. Sie fuhr mit ihren Töchtern Dessie und Grace zur Beerdigung nach Salt Lake City, und Heber schlug vor, sie solle dorthin zurückziehen. Solange die Ehe geheim bleibe, man getrennte Häuser bewohne und nicht gemeinsam in der Öffentlichkeit auftrete, so meinte er, könne die Familie näher beieinander leben.11

Ihre Familie und Freunde wollten Emilys Rückkehr nach Salt Lake City gebührend feiern, aber sie zog es vor, von niemandem gesehen zu werden. „Mir reichen Besuche bei meinen Eltern und meinen Freunden, ohne dass ich irgendwo auffalle“, erklärte sie Heber.12 Sie zog zu ihrer Mutter, ein paar Häuserblocks von Heber entfernt, und kommunizierte mit ihm vor allem in Briefen. Es war nicht gerade das, was Emily sich gewünscht hatte, aber es war weitaus besser, als hunderte Kilometer weit weg zu wohnen.13

Im Frühjahr wurde Emilys und Hebers Tochter Dessie fünf. Bislang hatte Emily sich selbst „Mary Harris“, Heber „Onkel Eli“ und Dessie „Pattie Harris“ genannt, um sich und ihre Familie vor den Marshals zu schützen. Nun aber hatte sich die Lage gebessert. Emily und Heber konnten die Maskerade weitgehend aufgeben und verwendeten in ihren Briefen ihre richtigen Namen.

An Dessies Geburtstag zog Emily ihr ein neues Kleid an, machte ihr Locken und band diese mit einer neuen blauen Schleife zusammen. „Jetzt bist du ja schon ein großes Mädchen“, sagte sie. „Deswegen verrate ich dir auch ein großes Geheimnis.“ Dann gab sie Dessie deren richtigen Namen bekannt und erklärte ihr, dass Onkel Eli in Wirklichkeit ihr Vater war.14

Kurz darauf erfuhr Dessie, dass zwei ihrer neuen Freundinnen, Rachel und Lutie, eigentlich ihre Schwestern waren – die Töchter ihres Vaters und seiner Frau Lucy. Eines Tages kam die zehnjährige Lutie mit ihrem gelben Pony Flaxy, das sie vor einen kleinen Wagen gespannt hatte, zu Emily. Sie wollte mit ihren Schwestern ausfahren. Emily wusste nicht, ob es sicher war, die Mädchen gehen zu lassen, sie gab dann aber nach. Dessie und Grace kletterten in das Wägelchen, das bald schon mit den Schwestern davonhüpfte.15

Emily war dankbar, endlich wieder daheim in Salt Lake City zu sein. Ihr gefiel es nicht, die Beziehung zu Heber geheim halten zu müssen, und sie wünschte, sie und ihre Familie könnten sich in der Stadt frei bewegen, wie es ihnen beliebte. Sie erkannte jedoch Gottes Hand darin, dass sie wieder bei ihrem Mann sein konnte, und war sich sicher, dass sie beide ihr Liebesglück genossen.

„Ich staune, dass ich das alles ausgehalten habe“, schrieb sie. „Und ich bete um die Kraft, auch das ertragen zu können, was noch auf mich zukommt.“16


Im Frühjahr feierte der neunzehnjährige John Widtsoe seinen Abschluss am Brigham Young College in Logan. Bei der Abschlussfeier würdigte man seine ausgezeichneten Leistungen in Rhetorik, Deutsch, Chemie, Algebra und Geometrie.17

Am College hatte John jede neue Erkenntnis mit Begeisterung in sich aufgesogen. Das College war noch recht neu, und es gab in der Bibliothek nicht viele Bücher. Auch das Labor war nicht gut ausgestattet. Außerdem hatten die Lehrkräfte keinen akademischen Abschluss, auch wenn sie einen hervorragenden Unterricht hielten und wussten, wie man einen Lernstoff vereinfacht und ihn einem Schüler gut vermittelt.

Joseph Tanner, der College-Direktor, war einst von Karl Mäser unterrichtet worden, dem prominenten Direktor der Brigham-Young-Akademie in Provo, der inzwischen die Aufsicht über drei Dutzend Schulen der Kirche führte. Joseph, der in Europa und im Nahen Osten Missionar gewesen war, erteilte auch Religionsunterricht. Darin wurden John und seine Studienkameraden über den Erlösungsplan und die Wiederherstellung des Evangeliums aufgeklärt. Theologie wurde zu einem von Johns Lieblingsfächern. Sie formte seinen Charakter und seine Lebenseinstellung und schärfte sein Gespür für den Unterschied zwischen Recht und Unrecht.18

Etwa zu der Zeit, als John seinen Abschluss machte, bot Joseph ihm an, sich ihm und einer Gruppe junger Heiliger der Letzten Tage anzuschließen und sich im Sommer an der Harvard-Universität einzuschreiben, der ältesten und angesehensten Universität im Land. Joseph lag viel daran, dass sich die Studenten eine erstklassige Bildung aneigneten und auf diese Weise die Unterrichtsqualität an den Schulen in Utah verbesserten.19

Harvard war genau das, was sich Johns Mutter Anna immer für ihn gewünscht hatte. Sie unterstützte sein Vorhaben, dort zu studieren, und war sich sicher, er werde hervorragende Leistungen erzielen. John nahm bei einer Bank einen Kredit auf, um die Studiengebühren bezahlen zu können. Außerdem erhielt er finanzielle Unterstützung von fünf Freunden der Familie, darunter Anthon Skanchy, der Missionar, der Anna in Norwegen getauft hatte.

Keinen Monat nach seinem Abschluss brach John nach Harvard auf. Kurze Zeit später handelte Anna ein Darlehen für das Haus aus, vermietete es und zog nach Salt Lake City. Dort gab es mehr Arbeit für sie und Osborne, ihren jüngeren Sohn, und sie konnten für die Familie sorgen und Johns Studium mitfinanzieren.

Anna schrieb John häufig. „Vermutlich wirst du auf viele kleine Schwierigkeiten stoßen und anfangs ein paar Enttäuschungen erleben“, warnte sie ihn in einem ihrer Briefe. „All dies kann dir aber einmal sehr nützlich sein.

Gott ist bei dir, und er segnet dich mit doppelt so viel, wie du dir vorzustellen oder was du zu erbitten wagst“, verhieß sie. „Knie einfach zur gegebenen Zeit und wann auch immer dir danach zumute ist im Gebet vor dem Herrn nieder, mit dankbarem und demütigem Herzen.“20


In Salt Lake City hielt sich Joseph F. Smith weiterhin versteckt, auch wenn inzwischen weniger Gefahr drohte, dass man ihn festnahm und strafrechtlich verfolgte. Anders als bei Heber Grant wusste man von Joseph, dass er in Mehrehe lebte, und sein Amt in der Ersten Präsidentschaft hatte ihn längst zur Zielscheibe der Marshals der Bundesregierung gemacht.

Unter der Woche besuchte Joseph seine Frauen und Kinder erst nach Anbruch der Dunkelheit und kehrte dann in sein Büro im Gardo House zurück, wo er übernachtete. Am Wochenende riskierte er längere Besuche und blieb auch nachtsüber bei seiner Familie, wobei er jedes Wochenende eine andere seiner fünf Frauen besuchte.21 Wie ein Sträfling auf der Flucht leben zu müssen, war entmutigend. „Bis der Herr mich auf eine Weise befreit, die jetzt noch nicht abzusehen ist, bin ich dazu verdammt, mich noch einige Zeit versteckt zu halten“, schrieb er seiner Tante Mercy Thompson.22

Im Juni 1891 schrieb Joseph an Benjamin Harrison, den Präsidenten der Vereinigten Staaten, und bat um Begnadigung – den Erlass aller strafrechtlichen Anschuldigungen gegen ihn. Da sich das Klima zwischen der Kirche und der Regierung besserte, war Joseph zuversichtlich, er könne begnadigt werden.23

Mit seinem Gesuch auf Begnadigung versprach Joseph allerdings nicht, seine Frauen im Stich zu lassen. Im Manifest wurde nicht vorgegeben, wie sich Heilige verhalten sollten, die schon in einer Mehrehe lebten. Wilford Woodruff hatte den Pfahlpräsidentschaften und den Generalautoritäten aber intern mitgeteilt, wie die Worte auszulegen seien. „Das Manifest bezieht sich lediglich auf künftige Eheschließungen und wirkt sich auf bereits bestehende Gegebenheiten nicht aus“, sagte er. „Ich habe mich nicht dafür ausgesprochen und könnte und wollte es auch gar nicht, dass ihr eure Frauen und Kinder im Stich lasst. So etwas wäre mit eurer Ehre unvereinbar.“24

Nichtsdestotrotz löste der eine oder andere seine Mehrehe auf und trennte sich von seinen weiteren Frauen. Die meisten setzten das Manifest jedoch auf weniger drastische Weise um. So unterstützten einige Männer ihre weiteren Familien so gut es ging finanziell und seelisch, lebten aber nicht mit ihnen zusammen. Andere wiederum führten weiterhin ein Zusammenleben, als hätte sich nichts geändert, auch wenn dies strafrechtliche Verfolgung und eine Gefängnisstrafe nach sich ziehen konnte.

Joseph seinerseits war entschlossen, sich so um seine Familie zu kümmern, wie er es immer getan hatte. Er war überzeugt, sich auf diese Weise sowohl an das Manifest zu halten als auch an das Gesetz, das ein rechtswidriges Zusammenleben untersagte.25

Anfang September erfuhr Joseph in einem Zeitungsartikel, dass Präsident Harrison ihn begnadigt hatte. Bis er dies schriftlich vorliegen hatte, wollte er sich aber nicht zu früh freuen oder gar wieder öffentlich auftreten. „Die wogende Flut der Ereignisse hat mich schon so lange niedergehalten, dass Freiheit in jeglicher Form wie eine Erweckung von den Toten oder eine Neugeburt sein wird“, schrieb er einem Freund in einem Brief. „Neue Erfahrungen werden auf mich warten, und ich muss alles von Neuem erlernen.“26

Wenig später erhielt er die Begnadigung schriftlich. Voller Dankbarkeit hoffte Joseph nun, seine Begnadigung werde dazu führen, dass man alle Heiligen, die vor Erlass des Manifests die Mehrehe eingegangen waren, begnadigen würde. Er wusste aber auch, dass eine solche Begnadigung die Staatsgewalt nicht daran hindern würde, neue Anklagevorwürfe gegen die Männer zu erheben, die weiterhin mit Frauen zusammenlebten, mit denen sie seit langer Zeit verheiratet waren. Joseph beschloss, auf der sicheren Seite zu bleiben und im Büro der Ersten Präsidentschaft zu übernachten, aber weiterhin seine Kinder zu unterweisen und für seine große Familie zu sorgen. Er bekam mit seinen fünf Frauen auch noch weitere Kinder.27

Am Sonntag, nachdem Joseph begnadigt worden war, besuchte er die Sonntagsschule der Gemeinde 16 in Salt Lake City. Dort sprach er im Unterricht zu den Kindern und anschließend mit etlichen alten Freunden und Bekannten. Später besuchte er eine Versammlung im Tabernakel, wo man ihn um eine Ansprache bat.

Als Joseph auf die Heiligen blickte, wurde er beinahe von seinen Gefühlen übermannt. „Über sieben Jahre ist es schon her, seitdem ich das Vorrecht hatte, hier im Tabernakel vor den versammelten Mitgliedern zu stehen“, sagte er. Während seiner Abwesenheit habe sich so viel verändert, dass er sich wie ein Kind fühle, das lange nicht zu Hause gewesen sei.

Er legte für die Wiederherstellung Zeugnis ab und sagte, dies sei das Werk des Herrn. „Ich danke Gott, dem ewigen Vater, dass mir dieses Zeugnis in Herz und Seele gegeben wurde“, verkündete er, „denn es schenkt mir Licht, Hoffnung, Freude und Trost, und das kann mir kein Mensch geben oder wegnehmen.“

Auch betete er darum, Gott möge den Heiligen helfen, vor dem Herrn und vor dem Gesetz richtig und ehrenhaft zu handeln. „Wir müssen so, wie wir sind, inmitten dieser Welt leben“, sagte er. „Wir müssen aus den Umständen, in die wir hineinversetzt werden, das Beste machen. Dies verlangt der Herr von den Heiligen der Letzten Tage.“28


Kurz nachdem Joseph F. Smith begnadigt worden war, verkündete Wilford Woodruff, es sei der Sinn und Wille Gottes, dass die Heiligen den Tempel fertigstellten. Vor zwei Jahren war das Gebäude mit einem Dach versehen worden, weswegen die Zimmerleute und weitere Handwerker rund ums Jahr ihre Arbeit verrichten konnten. Dennoch war an der Fassade noch viel zu tun. Unter anderem sollte dem höchsten Turm des Tempels, dem in der Mitte, eine große Engelsstatue aufgesetzt werden. Cyrus Dallin, ein renommierter Künstler, der in Utah aufgewachsen war und in den Oststaaten und in Paris eine umfassende künstlerische Ausbildung genossen hatte, sollte die Statue gestalten.

Anfang Oktober einigten sich ein paar Dutzend Beamte der Kirche darauf, einen Spendenaufruf über einhunderttausend Dollar für den Bau zu erlassen, auch wenn die Fertigstellung des Gebäudes vermutlich mehr kosten würde.29 Ungefähr zu dieser Zeit beantragten die Erste Präsidentschaft und einige Apostel außerdem die Rückgabe von Kircheneigentum im Wert von vierhunderttausend Dollar, das die Regierung nach dem Edmunds-Tucker-Gesetz beschlagnahmt hatte.30

Die Erstattung des beschlagnahmten Eigentums würde die finanzielle Belastung der Heiligen erheblich verringern, andererseits aber auch erfordern, dass Mitglieder der Ersten Präsidentschaft und der Zwölf sich einer Anhörung stellten und sich vor Anwälten der Regierung dazu äußerten, inwieweit die Kirche der Verpflichtung nachkam, die Gesetze gegen die Polygamie einzuhalten.31

In den Wochen vor der Anhörung gingen die Anwälte der Kirche mit der Ersten Präsidentschaft und Mitgliedern des Kollegiums der Zwölf etwaige Fragen durch, die die Staatsanwälte ihnen stellen könnten. Einige Apostel waren besorgt, was sie auf Fragen über den zukünftigen Umgang der Kirche mit der Mehrehe antworten sollten. War es ein für allemal damit vorbei oder handelte es sich bei dem Manifest um eine vorübergehende Maßnahme? Was sollten sie antworten, wenn man fragte, ob ein Mann weiterhin bei seinen weiteren Frauen leben und für sie sorgen sollte?

Von ihren Antworten hing es ab, ob die Führer der Kirche das Vertrauen der Regierung verloren oder ob sie bei den Heiligen Verwirrung auslösten, wenn nicht gar Anstoß erregten.32

Am 19. Oktober 1891, dem Tag der Anhörung, befragte Charles Varian, ein Anwalt der Regierung, Wilford mehrere Stunden lang.33 Seine Fragen zielten darauf ab, dass Wilford den Standpunkt der Kirche zur Mehrehe und den Zweck des Manifests erläuterte. Wilford wiederum war daran gelegen, den Anwälten ehrlich zu antworten, ohne sich über den Stand bestehender Mehrehen klar zu äußern.

Nach Beginn der Anhörung fragte Charles Wilford, was das Manifest für diejenigen, die bereits in Mehrehe lebten, bedeute. Erwartete man, dass sie als Ehepaar keinen weiteren Umgang miteinander pflegten?

Wilford beantwortete die Frage nicht direkt. „Ich hatte die Absicht, das Thema mit der Proklamation erschöpfend zu behandeln“, sagte er, „um den Gesetzen des Landes vollständig gerecht zu werden.“ Er wusste, dass die Heiligen, die in Mehrehe lebten, mit Gott heilige Bündnisse eingegangen waren, und dass er keinesfalls von ihnen verlangen konnte, ihre Ehegelübde zu brechen. Dennoch war jeder selbst dafür verantwortlich, die Landesgesetze einzuhalten, wie es ihm sein Gewissen gebot.34

„Gibt es diese Erklärung denn einzig und allein wegen dieser Gesetze?“, fragte Charles, um einzuschätzen, wie aufrichtig die Beweggründe für das Manifest waren.

„Als man mich zum Präsidenten der Kirche ernannte, machte ich mir meine Gedanken zu dieser Frage“, erwiderte Wilford. „Und mit der Zeit stellte sich bei mir die Gewissheit ein, in dieser Kirche müsse die Mehrehe aufhören.“

Dann erläuterte Wilford, dass die Gesetze gegen die Polygamie nicht nur den kleinen Anteil Heiliger bestrafte, die in Mehrehe lebten, sondern auch die zehntausenden Heiligen, bei denen dies nicht der Fall war. „Auf dieser Grundlage habe ich das Manifest herausgegeben – unter Inspiration, wie ich meine“, erklärte er.35

„Warum haben Sie das Manifest Ihrer Kirche nicht als Offenbarung kundgetan, sondern als persönlichen Ratschlag?“, wollte Charles wissen.

„Ich sehe das so: Inspiration ist Offenbarung“, meinte Wilford. „Beides stammt von derselben Quelle. Ich denke nicht, dass man die Worte ‚so spricht der Herr‘ immer hinzufügen muss.“

Als Nächstes fragte Charles, ob das Manifest unmittelbar auf die Schwierigkeiten zurückzuführen sei, die das Gesetz den Heiligen bereitet habe.

„Der Herr verlangt, wie er es schon oft getan hat, dass sein Volk ein Werk verrichtet, und es kann dieses nicht ausführen, wenn gewisse Umstände es daran hindern“, erklärte Wilford. „Darauf beruht – verstehen Sie mich bitte recht – meines Erachtens der Standpunkt, den wir heute einnehmen.“36


Am Tag nach der Anhörung veröffentlichten die Deseret News und weitere Zeitungen vor Ort Abschriften von Wilfords Aussage vor Gericht.37 Einige jedoch verstanden nicht, dass es dem Propheten darum ging, die Bedeutung des Manifests möglichst vorsichtig darzustellen. Sie deuteten seine Worte fälschlicherweise dahingehend, dass er von den Männern, die in Mehrehe lebten, erwarte, ihre weiteren Ehefrauen zu verlassen.38

„Diese Verlautbarung von ihm als dem Präsidenten der Kirche hat bei den Leuten Unbehagen hervorgerufen“, schrieb ein Mann aus St. George. „Manche meinen, er habe die Offenbarung über die Mehrehe samt ihren Bündnissen und Verpflichtungen aufgehoben.“ Für ein paar Männer war seine Aussage sogar eine willkommene Ausrede dafür, ihre weiteren Familien zu verlassen.39

In persönlichen Gesprächen räumte Wilford zwar ein, sich vage geäußert zu haben, beharrte aber darauf, dass er die Fragen des Anwalts nicht anders habe beantworten können. Außerdem bekräftigte er den Zwölf Aposteln gegenüber, dass jeder Mann, der seine Frauen und Kinder wegen des Manifests im Stich ließ oder vernachlässigte, nicht würdig war, der Kirche anzugehören.40

Wilford verurteilte nicht, dass Männer wie Joseph F. Smith und George Q. Cannon weiterhin mit ihren weiteren Frauen Kinder bekamen. Er war jedoch überzeugt, ein Mann könne das Gesetz und auch seine Bündnisse einhalten, indem er von seinen weiteren Familien getrennt lebte, sich aber nach wie vor um deren Wohlergehen kümmerte. Wilford selbst lebte offiziell mit seiner Frau Emma zusammen, sorgte aber noch immer für seine anderen Frauen Sarah und Delight und die gemeinsamen Kinder.41

Als Wilford erfuhr, dass sich manche fragten, ob er die Kirche in die Irre führe, beschloss er, sich erneut zu der Angelegenheit zu äußern. Bei einer Pfahlkonferenz in Logan bestätigte er, dass viele Heilige mit der Änderung ihre Schwierigkeiten hatten. Dann fragte er, ob es klüger sei, ungeachtet der Konsequenzen weiterhin Mehrehen zu schließen, oder ob man sich an die Landesgesetze halten solle, damit die Heiligen die Segnungen des Tempels empfangen konnten und nicht ins Gefängnis gesperrt wurden.

„Wenn wir nicht damit aufgehört hätten, hätten alle heiligen Handlungen im ganzen Land Zion aufgehört“, erklärte er. „Verwirrung hätte in ganz Israel geherrscht, und viele Männer wären zu Gefangenen geworden. Dieses Unheil wäre über die ganze Kirche gekommen, und dann wären wir gezwungen worden, mit der Ausübung aufzuhören.

Und noch etwas möchte ich sagen“, fügte Wilford hinzu. „Ich hätte alle Tempel aus unseren Händen geben müssen, hätte selbst ins Gefängnis gehen müssen und hätte jeden anderen Mann dorthin gehen lassen müssen, wenn nicht der Gott des Himmels mir geboten hätte zu tun, was ich getan habe. Als die Stunde kam, da mir geboten wurde, das zu tun, war mir alles klar. Ich ging vor den Herrn und ich schrieb nieder, was der Herr mich schreiben hieß.“42