Geschichte der Kirche
11 Eine besondere Ehre


„Eine besondere Ehre“, Kapitel 11 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019

Kapitel 11: „Eine besondere Ehre“

Kapitel 11

Eine besondere Ehre

Bild
Seite des Buches Mormon in hawaiianischer Sprache

Fast jeden Morgen hörte Ann Eliza Secrist ihren zweijährigen Sohn Moroni nach seinem Vater rufen. Bis zu ihrer Entbindung waren es nur noch Tage, und bis vor kurzem hatte sich ihr Mann Jacob selbst um den Jungen kümmern können. Am 15. September 1852 jedoch hatten sie und ihre drei kleinen Kinder vom Eingang ihres noch unfertigen Hauses in Salt Lake City aus zugesehen, wie Jacob mit seinem Gespann östlich der Stadt einen Hügel hinauffuhr. Oben angekommen, hatte er seinen Hut in ihre Richtung geschwenkt, ein letztes Mal auf die Stadt geblickt und war dann hinter der Kuppe verschwunden.1

Jacob gehörte zu der großen Schar von Missionaren, die bei der Konferenz im August 1852 berufen worden waren. Man hatte ihnen aufgetragen, so bald wie möglich aufzubrechen, und so hatte er sich achtzig Ältesten angeschlossen, von denen die meisten nach Großbritannien oder in andere europäische Länder reisten. Er und drei andere Missionare waren nach Deutschland berufen worden, wo er drei Jahre lang predigen sollte.2

Bisher meisterte Ann Eliza die Trennung von ihrem Mann so gut sie konnte. Die beiden waren in einem kleinen Ort im Osten des Landes zusammen aufgewachsen. Sie hatten sich ineinander verliebt, doch dann hatte Jacob in einem anderen Landesteil Arbeit gefunden, und so hatten sie einander lange Liebesbriefe geschrieben, während er fort war. 1842 hatten sie geheiratet, sich bald darauf der Kirche angeschlossen und waren dann mit den Heiligen in den Westen gezogen. Beide hatten ein starkes Zeugnis vom wiederhergestellten Evangelium, und Ann Eliza wollte sich über Jacobs Missionsberufung nicht beklagen. Allerdings verging die Zeit seit seiner Abreise nur langsam, und sie war sehr bedrückt.3

Dreizehn Tage nachdem ihr Mann sich auf den Weg gemacht hatte, brachte Ann Eliza einen schwarzhaarigen Jungen zur Welt. Am nächsten Tag schrieb sie Jacob. „Wir haben den Kleinen gewogen“, berichtete sie. „Zehneinhalb Pfund! Er hat aber noch keinen Namen. Wenn du einen Vorschlag hast, schreib ihn mir.“4

Ann Eliza konnte nur vermuten, wie lange es wohl dauern würde, bis Jacob die Nachricht überhaupt erhielt. Den größten Teil des Jahres erreichte die Post das Salzseetal nur sporadisch, und wenn im Winter die Postwege über die Prärie wegen des Schnees kaum noch passierbar waren, blieb sie ganz aus. Ann Eliza konnte also kaum erwarten, vor Anbruch des Frühlings von ihrem Mann zu hören.

Dennoch erhielt Ann Eliza kurz nach der Geburt ihres Sohnes einen Brief von Jacob, den er noch auf dem Weg in den Osten abgeschickt hatte. Beim Lesen erkannte sie gleich, dass ihr Brief noch nicht bei ihm angekommen war. Er berichtete, dass er die Familie in einem Traum gesehen habe. Die drei Kinder hätten auf dem Boden gespielt, und Ann Eliza hätte mit dem Neugeborenen im Bett gelegen.

Falls es ein Junge werden würde, schrieb Jacob, solle sie ihn doch Nephi nennen.

Da hatte Ann Eliza ihre Antwort! Sie nannte den Jungen Heber Nephi Secrist.5


Im Sommer 1852 erreichte der zwanzigjährige Johan Dorius den Distrikt Vendsyssel im Norden Dänemarks.6 Johan stammte aus Kopenhagen und hatte dort eine Schusterlehre gemacht. Jetzt aber hatte er sein Werkzeug beiseitegelegt, um in seiner Heimat eine Mission zu erfüllen. Zusammen mit seinem Vater Nicolai und seiner jüngeren Schwester Augusta hatte er sich, kurz nachdem die ersten Missionare in Dänemark angekommen waren, der Kirche angeschlossen. Sein älterer Bruder Carl hatte sich etwa ein Jahr später ebenfalls taufen lassen.7

Seitdem Peter Hansen und Erastus Snow die Mission eröffnet hatten, war die Kirche in Dänemark rasch gewachsen. Innerhalb von nur zwei Jahren nach ihrer Ankunft hatten sie das Buch Mormon in Dänisch veröffentlicht – es war die erste nicht englischsprachige Ausgabe des Buches – sowie eine Zeitung namens Skandinaviens Stjerne herausgegeben, die monatlich erschien. Inzwischen gab es in Dänemark über fünfhundert Mitglieder in zwölf Zweigen.8

Ane Sophie, Johans Mutter, verachtete allerdings die neue, unbeliebte Kirche, und weil sich ihr Mann dieser angeschlossen hatte, reichte sie die Scheidung ein. Etwa zu der Zeit, als sich Ane Sophie und Nicolai trennten, wurden Johan und weitere Neubekehrte berufen, in ihrem Land zu missionieren, während Augusta mit der ersten Gruppe skandinavischer Heiliger zur Sammlung in Zion aufbrach.9

Von Vendsyssel aus begab sich Johan südwärts in ein Dorf namens Bastholm, um sich dort mit anderen Heiligen zu treffen.10 Sie versammelten sich im Haus eines Mitglieds. Johan war vom Heiligen Geist erfüllt und sprach mit großer Freude zu den Versammelten. Da er in der Gegend schon gepredigt hatte, kannte er fast jeden im Raum.

Zur Mittagsstunde, kurz vor Ende der Versammlung, kam eine Meute Landarbeiter mit Arbeitsgeräten und Knüppeln bewaffnet ins Haus und lauerte am Eingang. Schon früher im Jahr hatten die Heiligen in Dänemark das Parlament um Schutz vor dem Pöbel ersucht, aber es wurde nichts unternommen. Die Neubekehrten in Schweden erlebten ähnlichen Widerstand, sodass manche Gläubige es vorzogen, sich in einem Gerbfass taufen zu lassen, um nicht bei einer Taufe im Fluss erwischt zu werden.11

Nach der Versammlung wollte Johan gehen und näherte sich der Tür. Der Pöbel rückte näher zusammen, und Johan spürte einen Stich am Bein. Er ignorierte den Schmerz und ging nach draußen, aber sofort packten ihn die Landarbeiter von hinten und schlugen ihm mit Knüppeln auf den Rücken. Ein brennender Schmerz durchfuhr ihn, als die Männer mit Stangen und scharfen Werkzeugen auf ihn eindroschen, bis seine Haut zerfetzt war und er blutete.

Irgendwie konnte Johan entkommen und floh zu einem Mitglied der Kirche namens Peter Jensen, der in der Nähe wohnte. Dort zogen ihm seine Freunde die zerrissene Kleidung aus, reinigten seine Wunden und legten ihn in ein Bett. Ein Mann salbte und segnete ihn, und eine ältere Dame hielt im Zimmer Wache. Anderthalb Stunden später jedoch hämmerten betrunkene Männer an die Tür. Die alte Frau sank auf die Knie und betete um Hilfe. „Bevor sie dir etwas antun, müssen sie an mir vorbei“, versicherte sie Johan.

Einen Augenblick später stürmten die Betrunkenen ins Zimmer. Die Frau wollte sie aufhalten, doch sie stießen sie gegen die Wand. Sie umzingelten das Bett und schlugen auf Johans wunden, zerschundenen Körper ein. Johann wollte gefasst bleiben und auch nicht das Bewusstsein verlieren und richtete seine Gedanken auf Gott. Doch die Männer ergriffen seine Arme und zerrten ihn aus dem Bett in die Nacht hinaus.12


Søren Thura kam gerade am Haus der Jensens vorbei, als er sah, wie der Pöbel Johan zu einem Fluss schleppte. Einige der Männer johlten und fluchten wie die Wilden. Andere grölten Lieder. Søren schritt auf sie zu und drängte sich zwischen sie. Ihr Atem roch schwer nach Alkohol. Søren blickte auf Johan. In seinem Nachthemd wirkte der junge Mann klein und schwächlich.

Die Männer erkannten Søren sofort. Er war Reservist der dänischen Kavallerie und in Bastholm als gut gestählter Sportler bekannt. Die Männer nahmen an, er wolle sich ihnen anschließen, und erklärten ihm, sie hätten einen „Mormonenprediger“ geschnappt, den sie in den Fluss werfen wollten. „Diesem Mormonenpriester zeigen wir, wie eine Taufe aussieht“, höhnten sie.

„Lasst ihn gehen“, sagte Søren. „Ich übernehme den Jungen, und keiner von euch Feiglingen soll es wagen, mich davon abzuhalten.“ Søren war ein ganzes Stück größer und viel stärker als die meisten, und so ließen sie den Missionar zu Boden fallen, schlugen noch ein paar Mal auf ihn ein und machten sich dann aus dem Staub.13

Søren brachte Johan zurück ins Haus der Jensens. Am nächsten Tag kam er wieder, um nachzusehen, wie es ihm ging. Johan war überzeugt, dass Gott Søren zu seiner Rettung geschickt hatte. „Gottes Volk hat in alten Zeiten Ähnliches erleiden müssen“, versicherte er. „Solche Züchtigungen sollen uns vor dem Herrn demütig machen.“

Søren war von Johans Botschaft berührt, und er kehrte Tag für Tag zurück, um mit dem jungen Mann über dessen Mission und das wiederhergestellte Evangelium zu sprechen.14


Während sich Johan von dem Überfall erholte, überquerte seine vierzehnjährige Schwester Augusta in einem Wagenzug mit etwa einhundert Heiligen, die ebenfalls ausgewandert waren, die Rocky Mountains. Der Weg war sandig und von den vielen Trecks, die in den vergangenen fünf Jahren ins Salzseetal gezogen waren, ausgetreten. Doch obwohl er so klar vor ihnen lag, waren sie beunruhigt, was sie erwartete. Der Herbst war in die Prärie eingezogen, und während eisige Winde über das Flachland fegten, sanken die Temperaturen und es wurde fast unerträglich kalt.

Zu allem Übel wurden auch noch die Ochsen müde, und die Heiligen hatten ihr letztes Mehl aufgebraucht und mussten einen Reiter vorausschicken, der den Proviant aufstocken sollte. Sie schleppten sich mit leerem Magen vorwärts, ungewiss, wann Hilfe eintreffen würde. Es waren noch fast zweihundertfünfzig Kilometer bis Salt Lake City, und der steilste Abschnitt der Reise stand ihnen noch bevor.15

Augusta und ihre Freunde liefen dem Wagenzug oft weit voraus und warteten dann, bis sie wieder eingeholt wurden. Unterwegs mussten sie an ihre Heimat denken, die sie zurückgelassen hatten. Die achtundzwanzig Dänen in der Abteilung hatten die Schiffsreise in die Vereinigten Staaten gemeinsam mit Erastus Snow unternommen, aber dieser war vor ihnen nach Salt Lake City aufgebrochen, während Augusta und die übrige Abteilung mit einem anderen Wagenzug folgten. Die meisten Auswanderer aus Skandinavien, auch Augusta selbst, sprachen so gut wie kein Englisch. Morgens und abends jedoch gesellten sie sich zu den englischsprachigen Heiligen, um mit ihnen zu beten und zu singen.16

Bislang hatte sich die Reise nach Salt Lake City als anstrengender und länger entpuppt, als Augusta erwartet hatte. Wenn sie hörte, wie sich die Amerikaner in der ihr unverständlichen Sprache unterhielten, wurde ihr bewusst, wie wenig sie eigentlich über ihre neue Heimat wusste. Noch dazu hatte sie Heimweh. Neben ihren beiden Brüdern Carl und Johan hatte sie auch drei jüngere Schwestern – Caroline, Rebekke und Nicolena. Sie wünschte sich, dass ihr die ganze Familie eines Tages nach Zion folgte. Doch konnte das wirklich jemals geschehen, zumal nach der Scheidung ihrer Eltern?17

Augusta musste sich mit kargen Mahlzeiten begnügen, während der Wagenzug über hohe Bergrücken, durch tiefe Schluchten und über schmale Gebirgsbäche weiter in den Westen zog. Am Eingang zum Echo Canyon, gut sechzig Kilometer vor Salt Lake City, entdeckten ein paar Frauen in der Abteilung den Mann, den sie vorausgeschickt hatten, um Proviant zu besorgen. Bald erreichte ein Wagen gefüllt mit Brot, Mehl und Keksen die Abteilung, und die Hauptleute verteilten die Lebensmittel an die erleichterten Heiligen.18

Ein paar Tage später kam der Wagenzug im Salzseetal an. Erastus Snow begrüßte die Heiligen aus Dänemark und lud sie zu sich nach Hause ein, wo er ihnen Rosinenbrot und Reis zum Abendessen servierte. Augusta hatte das Gefühl, noch nie etwas Köstlicheres verzehrt zu haben, nachdem sie monatelang kaum mehr als trockenes Brot und Büffelfleisch gegessen hatte.19


Am 8. November 1852 schlug George Q. Cannon sein kleines braunes Tagebuch auf. „Bin eifrig am Schreiben“, notierte er. Den ganzen Tag lang hatte er bei Jonathan und Kitty Napela an einem Tisch gehockt und das Buch Mormon ins Hawaiianische übertragen. Nun dachte er über sein Tagewerk nach und bat den Herrn um Hilfe bei der Fertigstellung seines Projekts.

„Ich betrachte dies als eine besondere Ehre“, sinnierte George in seinem Tagebuch. „Ich könnte vor Freude jubeln, während ich schreibe, und mein Herz brennt und schwillt in mir, wenn ich über die herrlichen Grundsätze nachdenke, die ich darin finde.“20

Als George im März 1851 Jonathan Napela kennenlernte, konnte er nicht ahnen, wie wichtig dieser einmal für das Werk des Herrn in Hawaii sein sollte. Erst im Januar 1852 – fast ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung – war Napela bereit, sich taufen zu lassen.21 Napela wusste, dass das wiederhergestellte Evangelium wahr war, aber viele aus seinem Heimatort und die ortsansässige protestantische Kirche stellten sich gegen ihn, was ihn davon abhielt, sich sofort der Kirche anzuschließen. George hatte derweil Erfolg auf Maui und gründete dort vier Zweige, nachdem sich viele Insulaner hatten taufen lassen.22

Beflügelt durch Napelas Zuspruch und Unterstützung hatte George kurz nach dessen Taufe mit der Übersetzung des Buches Mormon begonnen. Stunde um Stunde befasste sich George ausgiebig mit den einzelnen Abschnitten des Buches und gab sein Bestes, eine Übersetzung ins Hawaiianische zu Papier zu bringen. Dann las er Napela vor, was er aufgeschrieben hatte, und ließ ihn die Übersetzung ausbessern. Napela war ein hochgebildeter Anwalt und daher hervorragend geeignet, George mit seiner komplexen Muttersprache vertraut zu machen. Auch mit den Grundsätzen des Evangeliums hatte er sich eingehend beschäftigt und er erfasste Wahrheit schnell und intuitiv.

Zunächst war ihre Arbeit nur langsam vorangegangen, aber ihr Wunsch, die Hawaiianer an der Botschaft des Buches Mormon teilhaben zu lassen, war ein großer Ansporn. Schon bald verspürten sie, wie der Heilige Geist auf ihnen ruhte, und kamen mit dem Buch schneller voran – sogar bei Abschnitten mit schwer verständlichen Lehren und Gedanken. Außerdem verbesserte George sein Hawaiianisch täglich, da Napela ihm neue Wörter und Wendungen beibrachte.23

Am 11. November übergaben ein paar Missionare, die auf einer anderen Insel tätig waren, George drei Briefe sowie sieben Ausgaben der Deseret News aus Utah. George konnte es kaum erwarten, Neuigkeiten aus der Heimat zu erfahren, und las die Briefe und Zeitungen, sobald sich die Gelegenheit ergab. In einem Brief erfuhr er, dass der Apostel Orson Pratt den Heiligen die Offenbarung zur Mehrehe kundgetan und öffentlich davon gepredigt hatte. Die Nachricht überraschte ihn nicht.

„Damit habe ich gerechnet“, schrieb er in sein Tagebuch. „Ich denke, es kommt zur rechten Zeit.“24

In einem anderen Brief las er, dass die Führer der Kirche von der Übersetzung des Buches Mormon erfahren hatten und das Projekt guthießen. Im dritten Brief stand, dass der Apostel John Taylor, sein Onkel, vor kurzem von seiner Mission in Frankreich zurückgekehrt war und sich wünschte, dass George ebenfalls heimkehrte. Auch Elizabeth Hoagland, die junge Frau, die George vor seiner Mission umworben hatte, wartete auf seine Rückkehr. Willard Richards von der Ersten Präsidentschaft bat George jedoch, sich zu überlegen, ob er nicht lieber vor seiner Heimkehr die Übersetzung fertigstellen wolle.

George wusste, dass er ein treuer Missionar gewesen war. Aus einem jungen Mann, der an Heimweh gelitten und kaum den Mund aufbekommen hatte, war ein überzeugender Prediger und Missionar geworden. Falls er sich nun auf den Heimweg machte, konnte ihm keiner vorwerfen, er hätte seine Berufung, die der Herr ihm aufgetragen hatte, nicht groß gemacht.

Andererseits war er überzeugt, dass die Vorfahren der Hawaiianer darum gebetet hatten, dass ihre Nachkommen von den Segnungen des Evangeliums erfahren und sie erlangen könnten. Er sehnte sich danach, sich mit seinen hawaiianischen Brüdern und Schwestern im celestialen Reich zu freuen. Wie konnte er da Hawaii verlassen, ehe er die Übersetzung fertiggestellt hatte?25 Er wollte bleiben und seine Arbeit vollenden.

Nachdem George ein paar Tage später den Vormittag mit den Heiligen auf Maui verbracht hatte, sann er über Gottes Güte nach, und Freude und unbeschreibliches Glück erfüllten ihn.

„Meine Zunge und meine Worte sind viel zu schwach, um die Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die ich empfinde, wenn ich über das Werk des Herrn nachsinne“, erklärte er in seinem Tagebuch. „O dass ich meine Zunge, meine Zeit, meine Talente, ja, alles, was ich besitze, seiner Ehre und Herrlichkeit weihen möge, um seinen Namen zu verherrlichen und seine Eigenschaften überall dort kundzutun, wohin mein Weg mich auch führen möge.“26


Im Herbst wurden Johan Dorius und weitere Missionare aus Dänemark dazu berufen, das Evangelium in Norwegen zu verkündigen. Wie Dänemark gewährte auch Norwegen Christen, die nicht der Staatskirche angehörten, ein gewisses Maß an Religionsfreiheit. Aber in Büchern und Zeitungen hatte man die Norweger über zehn Jahre lang vor den Heiligen der Letzten Tage gewarnt und die Öffentlichkeit gegen die Kirche aufgebracht.27

Eines Tages hielten Johan und sein Missionsgefährte in einem kleinen Haus in der Nähe von Fredrikstad eine Versammlung ab. Die Anwesenden sangen das Lied „Der Geist aus den Höhen“, und anschließend erläuterte Johan den Ursprung der Kirche und verkündete, Gott habe sich der Menschheit erneut offenbart. Als er fertig war, verlangte eine junge Frau von ihm, die Wahrheit seiner Worte anhand der Bibel zu beweisen. Das tat er, und sie war von seinen Ausführungen beeindruckt.28

Zwei Tage später machten Johan und sein Gefährte abends außerhalb von Fredrikstad an einem Gasthaus Halt. Die Wirtin fragte die beiden jungen Männer, wer sie seien, und sie stellten sich als Missionare der Heiligen der Letzten Tage vor. Die Wirtin zögerte. Kreisbeamte hatten ihr streng untersagt, Heilige der Letzten Tage zu beherbergen.

Als sich die Missionare mit ihr unterhielten, trat aus einem Nebenzimmer ein Polizist hervor und verlangte nach Johans Pass. „Der ist in Fredrikstad“, erklärte Johan.

„Sie sind verhaftet“, sagte der Polizist und wandte sich dann an Johans Gefährten, um sich dessen Pass zeigen zu lassen. Dieser konnte ihn ebenso wenig vorzeigen, und so verhaftete der Polizist auch ihn und führte die beiden in ein Zimmer, wo sie verhört werden sollten. Zu ihrer Überraschung befanden sich in dem Raum etliche norwegische Heilige – Frauen und Männer –, die man ebenfalls festgenommen hatte. Unter ihnen waren auch einige dänische Missionare; einer von ihnen wurde schon seit zwei Wochen festgehalten.29

Seit Neuestem nahm man dort in der Gegend Missionare und weitere Mitglieder der Kirche einfach fest und verhörte sie. Viele Norweger misstrauten den Heiligen zutiefst und waren überzeugt, ihr Glaube an das Buch Mormon schließe sie von dem gesetzlich gewährten Schutz der Religionsfreiheit aus.

Außerdem hatten einige Norweger gehört, dass die Mitglieder der Kirche in den Vereinigten Staaten die Mehrehe praktizierten. Sie sahen in den Heiligen Unruhestifter, die die traditionellen Ansichten und Werte der Norweger verderben wollten. Durch Festnahmen und Verhöre wollten die Behörden aufdecken, dass die Heiligen der Letzten Tage gar keine Christen waren, und damit die Ausbreitung der neuen Religion verhindern.30

Man verfrachtete Johan bald nach Fredrikstad und sperrte ihn mit vier anderen Missionaren, darunter Christian Larsen, ein Führer der Kirche aus Norwegen, ins Gefängnis. Der Gefängniswärter und seine Familie behandelten die Missionare freundlich und gestatteten ihnen, zu beten, zu lesen und zu schreiben, zu singen und über das Evangelium zu sprechen. Das Gefängnis verlassen durfte jedoch keiner.31

Etliche Wochen später vernahmen ein Kreisrichter und weitere Beamte ein paar der Missionare. Der Richter behandelte die Männer wie Kriminelle, hörte ihnen kaum zu und verweigerte ihnen das Wort, als sie erklären wollten, dass ihre Botschaft mit dem Christentum und der Bibel im Einklang war.

„Aus welchem Grund sind Sie in dieses Land gekommen?“, wollte man von Christian wissen.

„Um das wahre Evangelium Jesu Christi zu verkünden“, erwiderte Christian.

„Würden Sie nach Dänemark zurückkehren, wenn man Sie wieder freiließe?“

„Nicht bis Gott mich durch seine Diener entlässt, die mich hergesandt haben.“

„Verzichten Sie darauf, weiterhin zu predigen und zu taufen?“

„Nur wenn Sie oder einer Ihrer Priester mich davon überzeugen, dass unsere Lehre und unser Glaube nicht mit den Lehren Christi übereinstimmen“, erklärte Christian. „Denn ich will Errettung erlangen und den Willen Gottes tun.“

„Mit Ihnen zu debattieren wäre eine Zumutung für unsere Priester“, entgegnete der leitende Vernehmungsbeamte. „Und nun verbiete ich Ihnen, noch weitere Seelen mit Ihren falschen Lehren in die Irre zu führen.“32

Während Johan und die Missionare auf ihren Gerichtstermin warteten, teilten sie sich eine Zelle mit einem gewissen Johan Andreas Jensen. Er war als Kapitän zur See gefahren, war sehr religiös und hatte seine irdischen Besitztümer den Armen überlassen und begonnen, auf der Straße zu predigen und zur Umkehr aufzurufen. Seine Begeisterung, das Wort Gottes zu verkünden, ging so weit, dass er sogar Oskar I., dem König von Schweden und Norwegen, seine Glaubensansichten hatte vortragen wollen, aber trotz mehrerer Anläufe war ihm eine Audienz verweigert worden. Entmutigt hatte Jensen den König als „hochrangigen Sünder“ bezeichnet, woraufhin man ihn prompt festgenommen und ins Gefängnis geworfen hatte.

Bald schon sprachen die Missionare mit Jensen über das wiederhergestellte Evangelium. Zunächst war der Kapitän an der Botschaft gar nicht interessiert, betete jedoch für die Missionare, und sie beteten für ihn. Als ihm die Missionare eines Tages Zeugnis ablegten, war plötzlich jeder in der Zelle von Freude erfüllt. Jensen begann zu schluchzen, und sein Gesicht leuchtete förmlich. Er verkündete, er wisse, dass das wiederhergestellte Evangelium wahr sei.

Die Missionare baten das Gericht um eine zeitweilige Entlassung für Jensen, damit er sich taufen lassen konnte, aber ihr Antrag wurde abgelehnt. Jensen versicherte den Missionaren jedoch, er werde sich taufen lassen, sobald man ihn aus dem Gefängnis entließ.33

„Es brachte uns alle dazu, Gott demütig zu danken, ja, es war wahrhaft ein herrlicher Tag für uns“, schrieb Johan in sein Tagebuch. „Wir sangen und priesen Gott für seine Güte.“34