2016
Eine zweite Chance
April 2016


Stimmen von Heiligen der Letzten Tage

Eine zweite Chance

Kaylee Baldwin, Arizona

Bild
violin

Als ich ihm das erste Mal begegnete, hatte ich meine Geige dabei.

Er schlurfte zu mir herüber, als ich, den hin- und herschwingenden Geigenkasten in der Hand, in den Speisesaal ging.

„Geige“, sagte er, als er näher kam.

„Ja“, erwiderte ich.

Ich hatte mich noch nie mit jemandem unterhalten, der eine Behinderung hatte, und wusste nicht recht, was ich sonst sagen sollte. Er folgte mir an meinen Tisch, setzte sich neben mich und deutete auf meinen Geigenkasten.

„Geige“, sagte er noch einmal.

Ich öffnete den Kasten, und seine Augen leuchteten auf. Ziemlich grob zupfte er an den Saiten. Mir wurde angst und bange bei der Vorstellung, gleich könne eine Saite reißen. Deshalb schloss ich den Geigenkasten vorsichtig wieder. Er umarmte mich heftig, bevor er ging.

Von da an sah ich ihn häufig.

Immer wenn er mich sah, schlang er die Arme um meine Schultern und küsste mich oben auf den Kopf.

Die restliche Zeit an der Highschool wich ich ihm aus, sobald ich ihn kommen sah. Wenn er mich ausfindig machte und mich mit seinen Umarmungen und nassen Küssen bedrängte, tolerierte ich es für ein paar Sekunden mit einem gezwungenen Lächeln und ging dann ohne ein Wort weg.

„O nein“, murmelte ich, als ich ihn bei meinem letzten Orchesterkonzert an der Highschool sah. Nach dem Konzert stand ich mit meinen Freunden draußen vor dem Konzertsaal, und er schlängelte sich zu mir durch.

Meine Freunde wichen zurück, als er mit einem Grinsen und weit ausgestreckten Armen auf mich zukam.

„William!“

Ich drehte mich um und sah eine Frau auf uns zulaufen.

„Entschuldigung“, sagte sie und nahm seinen Arm. „William liebt die Geige. Er hat mich bekniet, ihn heute Abend zu diesem Konzert zu bringen. Gehen wir, Schatz.“

Bis zu diesem Augenblick war mir nicht bewusst gewesen, dass ich nicht einmal seinen Namen gekannt hatte. Seit zwei Jahren kannte ich William, aber ich verwendete so viel Zeit darauf, ihm aus dem Weg zu gehen, dass ich nie den Versuch unternommen hatte, ihn näher kennenzulernen. Ich schaute William und seiner Mutter nach und war zutiefst beschämt.

Jahre später, als ich bereits verheiratet war, brachte ich einen kleinen Jungen mit Downsyndrom zur Welt, den wir Spencer nannten. Wenn ich meinen Sohn betrachtete, wanderten meine Gedanken oft zu William, und ich fragte mich, ob Spencer wohl ähnliche Erfahrungen machen würde. Würden die Menschen ihm aus dem Weg gehen, weil er sie zu oft küsste oder zu heftig umarmte? Würden Gleichaltrige sich wegen seiner Behinderung in seiner Gegenwart unwohl fühlen?

Als Spencer vier Monate alt war, hatten wir einen Termin im Krankenhaus. Gerade als ich ihn aus dem Auto holte, sah ich zwei Leute aus dem Krankenhaus kommen. Ich konnte kaum glauben, dass es William und seine Mutter waren.

„William!“, rief ich mit klopfendem Herzen, als wir näher kamen.

„Hallo!“ Er trottete über den Parkplatz, ein breites Grinsen erhellte sein Gesicht. Er streckte die Hand aus, packte meine und schüttelte sie begeistert.

„Wie geht‘s dir?“, fragte ich ihn.

„Geige“, sagte er, und seine Augen leuchteten.

Geige. Er konnte sich an mich erinnern! „Ja“, brachte ich mit einem Lachen unter Tränen hervor. „Ich habe Geige gespielt.“

Während wir miteinander redeten, dankte ich dem Vater im Himmel im Stillen für seine liebevolle Barmherzigkeit. Er wusste ja, wie sehr ich mir gewünscht hatte, William noch einmal wiederzusehen. Ich bin dankbar, dass Gott zu mir herunterschaute – einer jungen Mutter, die sich wegen der gesundheitlichen Probleme ihres Sohnes überfordert fühlte und sich Sorgen um seine Zukunft machte – und mir eine Erfahrung schenkte, die mir zeigte, dass er auf uns achtet.