Generalkonferenz
Mehr von Jesus Christus in unserem Leben erkennen
Herbst-Generalkonferenz 2022


Mehr von Jesus Christus in unserem Leben erkennen

Der Erretter fordert uns auf, durch ihn auf unser Leben zu schauen, um mehr von ihm darin zu erkennen

Liebe Brüder und Schwestern, es erfüllt mich mit großer Demut, heute Vormittag vor Ihnen zu stehen. Ich fühle mich mit Ihnen verbunden und bin dankbar, mit Ihnen versammelt zu sein – wo auf der Welt wir uns auch befinden –, um Botschaften von Propheten, Aposteln, Sehern, Offenbarern und Führern im Reich Gottes zu hören. Im übertragenen Sinn sind wir wie das Volk zur Zeit König Benjamins: Wir schlagen unsere Zelte auf, mit dem offenen Eingang hin zum Propheten Gottes auf der Erde,1 Präsident Russell M. Nelson.

Soweit ich mich erinnern kann, war meine Sehkraft nie sonderlich gut, und um mein Sehvermögen zu verbessern, habe ich immer Kontaktlinsen gebraucht. Wenn ich morgens die Augen öffne, erscheint mir die Welt immer ganz diffus. Alles ist unscharf, verschwommen und verzerrt. Selbst mein lieber Mann erinnert mich eher an ein abstraktes Gemälde als an den geliebten, tröstlichen Menschen, der er in Wahrheit ist! Instinktiv greife ich also, bevor ich zu Tagesbeginn irgendetwas anderes mache, nach meiner Brille, denn sie hilft mir, meine Umgebung besser wahrzunehmen und viel schwungvoller durch den Tag zu kommen.

Im Lauf der Jahre ist mir bewusstgeworden, dass dieses Verhalten veranschaulicht, dass ich täglich von zweierlei abhängig bin: 1.) Ich benötige ein Hilfsmittel, damit ich die Welt um mich herum klar, scharf und so sehen kann, wie sie ist. 2.) Ich benötige greifbare Führung, damit mir beständig die richtige Richtung gewiesen wird. Diese einfache, routinemäßige Gewohnheit spiegelt für mich eine wichtige Beobachtung zu unserer Beziehung zu unserem Erretter Jesus Christus wider.

Unser Leben ist oft angefüllt mit Fragen, Sorgen, Druck und Chancen, und bei all dem können wir täglich auf die Liebe des Erretters zu uns persönlich und als seine Bundeskinder sowie auf seine Lehren und Gesetze zurückgreifen. Auf diese Stützen können wir uns verlassen, denn sie sind ein „Licht, das leuchtet[, uns] die Augen erleuchtet [und unser] Verständnis belebt“2. Wenn wir uns um die Segnungen des Geistes in unserem Leben bemühen, sind wir imstande, so wie Jakob es gesagt hat, etwas so zu sehen, „wie es wirklich ist [und] wie es wirklich sein wird“3.

Als Bundeskinder Gottes dürfen wir aus einem einzigartigen, reichhaltigen Angebot an Werkzeugen schöpfen, die Gott für uns bestimmt hat und die unser geistiges Sehvermögen verbessern sollen. Die Worte und Lehren Jesu Christi, wie sie in den heiligen Schriften und in den Botschaften seiner erwählten Propheten festgehalten sind, und sein Geist, den wir durch tägliches Beten, regelmäßigen Tempelbesuch und das wöchentliche heilige Abendmahl empfangen, können dazu beitragen, dass wir wieder Frieden verspüren und die unerlässliche Gabe des Erkennens erhalten. Diese bringt das Licht Christi und sein Verständnis in jeden Winkel unseres Lebens und in eine womöglich bewölkte Welt. Der Erretter kann zudem unser Kompass und unser Lotse sein, wenn wir sowohl durch die ruhigen als auch die turbulenten Wasser des Lebens steuern. Er kann den richtigen Weg, der uns zu unserem ewigen Bestimmungsort führt, klar zeigen. Was sollen wir nach seinem Willen also sehen und wohin sollen wir gehen?

Unser Prophet hat gesagt, dass unser Blick „fest auf den Erretter und sein Evangelium gerichtet sein“ muss und dass es unserer Anstrengung bedarf, „in jedem Gedanken auf den Erretter zu blicken“4. Außerdem hat Präsident Nelson verheißen: „Nichts trägt mehr dazu bei, dass der Geist mit uns ist, als den Blick fest auf Jesus Christus zu richten. … Er wird Sie in Ihrem Leben führen und leiten, wenn Sie sich Zeit für ihn nehmen – und zwar an jedem einzelnen Tag.“5 Liebe Freunde, Jesus Christus ist sowohl das Ziel, das wir im Blick haben, als auch der Zweck unserer Bestimmung. Der Erretter möchte uns helfen, festen Schrittes weiterhin in die richtige Richtung zu gehen, und fordert uns daher auf, durch ihn auf unser Leben zu schauen, um mehr von ihm darin zu erkennen. Durch mein Studium des Alten Testaments habe ich mehr über diese konkrete Aufforderung erfahren.

Das Gesetz des Mose wurde den damaligen Israeliten ja als vorbereitendes Evangelium gegeben; es sollte das Volk für eine höhere Bündnisbeziehung zu Gott durch Jesus Christus bereitmachen.6 Das Gesetz – reich an Symbolik, wodurch die Gläubigen nach dem Kommen und dem Sühnopfer Jesu Christi Ausschau hielten7 – sollte dem Volk Israel helfen, den Blick auf den Erretter zu richten und zu diesem Zweck beständig Glauben an ihn, sein Opfer und seine Gesetze und Gebote auszuüben.8 Dadurch sollten sie ein größeres Verständnis von ihrem Erlöser erlangen.

Das Gottesvolk in alter Zeit war, so wie wir es heute sind, aufgefordert, durch ihn auf ihr Leben zu schauen, um mehr von ihm darin zu erkennen. Doch als der Erretter dann auf Erden wirkte, hatten die Israeliten Christus bei ihren Bräuchen aus den Augen verloren. Sie hatten ihn beiseitegeschoben und dem Gesetz unbefugterweise Gepflogenheiten hinzugefügt, die bar jeder lehrreichen Symbolik waren und nicht auf die wahre und einzige Quelle ihrer Errettung und Erlösung hindeuteten – auf Jesus Christus.9

Die Alltagswelt der Israeliten war nunmehr ohne Anhaltspunkt und verworren. In diesem Zustand glaubten die Kinder Israel, die Bräuche und Rituale des Gesetzes seien der Weg zur persönlichen Errettung. Sie reduzierten das Gesetz des Mose zum Teil auf ein Regelwerk zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung.10 Dies erforderte, dass der Erretter den Fokus und die Klarheit seines Evangeliums wiederherstellen musste.

Letztendlich verwarf ein Großteil der Israeliten seine Botschaft, ja, man beschuldigte den Erretter sogar – ihn, der das Gesetz doch gegeben und verkündet hatte, er sei „das Gesetz und das Licht“11 –, es zu brechen. Als Jesus in der Bergpredigt über das Gesetz des Mose sprach, erklärte er jedoch: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen.“12 Durch sein ewiges Sühnopfer schließlich schaffte der Erretter die Vorschriften, Gesetze und zeremoniellen Bräuche ab, an die sich das Volk Israel damals hielt. Durch sein letztes Opfer fand eine Verlagerung statt: von Brandopfern hin zu einem reuigen Herzen und einem zerknirschten Geist13, die wir darbringen sollen, von der heiligen Handlung des Opferns zur heiligen Handlung des Abendmahls.

Präsident M. Russell Ballard hat einmal zu diesem Thema gesagt: „Das Opfern hat sich sozusagen von der Gabe auf den Geber verlagert.“14 Wenn wir dem Erretter unser Opfer bringen, ist dies gleichzeitig die Aufforderung, mehr von Jesus Christus in unserem Leben zu erkennen, indem wir demütig unseren Willen dem Herrn unterwerfen und damit anerkennen und begreifen, dass er sich ja dem Willen des Vaters voll und ganz unterwirft. Wenn wir unseren Blick unverwandt auf Jesus Christus richten, erkennen und begreifen wir, dass er die einzige Quelle und der einzige Weg ist, Vergebung und Erlösung zu erlangen, ja, selbst ewiges Leben und Erhöhung.

Ich, die ich den Weg des Evangeliums schon lange gehe, habe viele getroffen, die in meinem Verhalten, meinen Bräuchen und Entscheidungen Veränderungen bemerkten, nachdem ich mich der Kirche angeschlossen hatte. Was sie da sahen, ließ sie neugierig nach dem „Warum“ fragen: Warum hatte ich mich entschieden, mich taufen zu lassen und mich genau dieser Gruppe von Gläubigen, nämlich der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, anzuschließen? Warum nahm ich am Sabbat von bestimmten Bräuchen Abstand? Warum hielt ich treu das Wort der Weisheit? Warum las ich das Buch Mormon? Warum glaubte ich an die Lehren der neuzeitlichen Propheten und Apostel und lebte danach? Warum besuchte ich die wöchentlichen Versammlungen der Kirche? Warum lud ich andere ein, „zu kommen und zu sehen, zu kommen und zu helfen, … zu kommen und zu bleiben15 und zu kommen und dazuzugehören?16

Damals war ich angesichts dieser Fragen überfordert und, ehrlich gesagt, klangen manche auch eher wie eine Anschuldigung. Doch als ich damit rang, wieso man mich so löchern musste, wurde mir klar, dass solch bohrende Fragen eigentlich die erste Aufforderung an mich waren, nach einer geistigen Brille zu greifen und sie aufzusetzen. So konnte ich nämlich klarer sehen und erkennen, was mich motivierte, mich an die Bräuche und Maßstäbe des Evangeliums zu halten, und dies verfestigen. Was war die Quelle meines Zeugnisses? Führte ich nur „äußerlich[e] Verrichtungen“ aus, ohne es zuzulassen, dass diese Bräuche, die ja mit Gottes Gesetzen verknüpft sind, auch meinen „Glauben an Christus … stärken“17 und zeigen, dass ich weiß, dass Jesus Christus beim Ausüben meiner Religion die einzige Kraftquelle ist?

Weil ich mich eifrig anstrengte, in jedem Gedanken und jeder Tat auf Jesus Christus zu blicken und nach ihm zu suchen, wurden mir die Augen erleuchtet und mein Verständnis wurde belebt und ich erkannte, dass Jesus Christus mir zurief, ich solle zu ihm kommen.18 Ich weiß noch, dass die Missionare, als ich jung und selbst noch frisch in der Kirche war, mich fragten, ob ich dabei sein könne, wenn sie mit einer Gruppe Mädchen, die etwa in meinem Alter waren, über das Evangelium sprachen. Eines Abends, als wir zuhause bei einem dieser Mädchen saßen, wurde ich freundlich gefragt, warum ich denn glaube. Dies traf mich mitten ins Herz und ich konnte ihnen Zeugnis geben – jetzt mit einem tieferen Verständnis davon, wie der Herr die geistigen Beweggründe sieht, die ich als seine Jüngerin habe. Dies hat mein Zeugnis seither noch weiter veredelt.

Damals habe ich, wie ich jetzt weiß, gelernt, dass unser Erretter, Jesus Christus, unseren Fuß jede Woche ins Gemeindehaus lenkt, damit wir von seinem Abendmahl nehmen, zum Haus des Herrn, damit wir Bündnisse mit ihm eingehen, zu den heiligen Schriften und den Lehren der Propheten, damit wir von seinen Worten lernen. Er lenkt unseren Mund, damit wir für ihn Zeugnis geben, unsere Hände, damit wir andere so erheben und ihnen dienen, wie er sie erheben und ihnen dienen würde, unsere Augen, damit wir die Welt und einander so sehen, wie er es tut – wie sie „wirklich [sind und] wirklich sein [werden]“19. Wenn wir zulassen, dass er uns in allem lenkt, empfangen wir ein Zeugnis davon, dass alles „darauf hin[deutet], dass es einen Gott gibt“20, denn dort, wo wir nach ihm suchen, werden wir ihn finden21 – an jedem einzelnen Tag. Dies bezeuge ich im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.