1990–1999
„Ihr sollt an heiliger Stätte stehen”
Oktober 1994


„Ihr sollt an heiliger Stätte stehen”

Der Tempel ist der Schlüssel zur Errettung, … ein Ort der Danksagung, der Unterweisung und des Verstehens von allem.

Eine Nacht vor beinahe drei Jahrzehnten werde ich nie vergessen. Patricia und ich waren seit zwei Jahren verheiratet. Wir wohnten in einer kleinen Doppelhaushälfte am Nordstrand von Oahu. Ich war als Infanterie-Offizier einer Einheit zugeteilt, die in der Schofield-Kaserne auf Hawaii lag. Unsere Brigade war zum Krieg in Vietnam abkommandiert worden. Das Flugzeug sollte kurz nach Mitternacht abgehen, und ein guter Freund - ein Mitglied der Kirche - wollte mich um 11 Uhr nachts zum Flughafen bringen.

Während dieses ganzen langen Abends saßen Pat und ich Hand in Hand auf dem Sofa unseres winzigen Wohnzimmers; wir sahen zu, wie die Zeiger der Uhr sich langsam auf die schicksalsschwere Stunde zubewegten, und lauschten dem sanften Rauschen der Wellen am Strand. Das Ticken der Uhr erschien uns wie ein Metronom der Sterblichkeit, und schmerzlich empfanden wir sein Ticken gegen das gedämpfte Rauschen des ewigen Meeres. Dann war es Zeit, Abschied zu nehmen. An der Haustür nahm ich meine Frau in den Arm und küßte sie ein letztes Mal; dann war ich auf dem Weg. Als ich die Tür hinter mir schloß, fragte ich mich, ob ich meinen Schatz in diesem Leben

wohl zum letzten Mal gesehen hatte. Für mich war wirklich finstere Nacht.

Schweigend fuhren mein Freund und ich durch die dunklen Zuckerrohrfelder und Ananasplantagen von Oahu. Mir zersprang schier das Herz. Als wir an Schofield vorbeifuhren, schoß irgendwo eine Infanterie-Einheit auf Nachtmanöver eine Leuchtkugel ab. Augenblicklich drang heller Glanz durch die tiefe Dunkelheit, und mir schien, als entzündete sie eine geistige Flamme in der Finsternis, die meine Seele umfing. Von diesem traurigsten aller Tage wurden meine Gedanken fortgezogen, hin zum allerglücklichsten: Zu dem schönen Dezembertag, an dem Pat und ich in den heiligen Tempel gingen und aneinander gesiegelt wurden, und zwar nicht nur für dieses Leben, sondern für alle Ewigkeit. Ich dachte an die ewigen Bündnisse, die wir eingegangen waren. Wie ein Sonnenaufgang wurde mir klar: ganz gleich, was die Ungewisse Zukunft bringen würde - Pat gehörte auf immer zu mir. Vom Flughafen aus rief ich Pat an. Mit neuer Hoffnung und einem Frieden, der dem Glauben und Verstehen entspringt, sprachen wir miteinander, lachten leise und sagten einander dann noch einmal Lebewohl. Es war erst Mitternacht, doch für mich ging bereits die Sonne auf.

An einem anderen Ort zu einer anderen Zeit begann die Sonne über dem sterblichen Leben des Erretters unterzugehen, als er zum letzten Mal den Tempel in Jerusalem verließ. Während er mit seinen Jüngern den Ölberg emporstieg, prophezeite er von den umwälzenden Ereignissen, die der Zerstörung Jerusalems und seinem Zweiten Kommen vorausgehen sollten. Dann gab er seinen Jüngern, und zwar denen aus alter wie denen aus neuer Zeit, die folgende ernste Ermahnung:

„Dann sollt ihr an heiliger Stätte stehen; wer das liest - möge er es verstehen.” (JST - Matthäus 1:12, Hervorhebung hinzugefügt; siehe auch Matthäus 24:15.) Durch die Offenbarungen der Letzten Tage können wir verstehen. Sie lehren uns heute, daß inmitten von Streit, Katastrophen und Seuchen zwei Reiche heftig um die Seelen der Menschen ringen, nämlich Zion und Babylon. Mehr als nur einmal werden wir aufgefordert, „an heiligen Stätten zu stehen”, die Schutz vor den Lebensstürmen der Letzten Tage bieten. (LuB 45:32; siehe auch LuB 87:8; 101:16-23.) Die erste unter diesen heiligen Stätten, und der Schlüssel zu allen anderen, ist der Tempel des Herrn.

Die Worte Zion und Tempel gehören zusammen. Im August 1833, als die Heiligen versuchten, im Kreis Jackson in Missouri ein geographisches Zion zu errichten, wurde dem Propheten Joseph Smith geboten, dem Herrn ein Haus zu bauen, und zwar „für die Errettung Zions” (LuB 97:12). Der Tempel ist der Schlüssel zur Errettung, denn er ist ein Ort der Danksagung, der Unterweisung und des Verstehens von allem (siehe LuB 97:12-14). Dann kommt die folgende herrliche Verheißung für diejenigen, die rein und würdig in den Tempel gehen: „Ja, und meine Gegenwart wird da sein, denn ich werde dorthin kommen; und alle, die im Herzen rein sind und dorthin kommen, werden Gott sehen. … Darum … laßt Zion sich freuen denn Zion, das ist:, DIE IM HERZEN REIN SIND’; darum laßt Zion sich freuen, während alle Schlechten trauern.” (LuB 97:16,21; Hervorhebungen hinzugefügt.) Für Zion, also diejenigen, die im Herzen rein sind, sind im Tempel die Schlüssel, die heilige Stätten erschließen, ja, Stätten des Frohlockens, während die Menschen in den Gassen Babylons zu trauern verdammt sind.

Noch zweimal während der turbulenten Jahre des Vietnamkrieges mußte ich meiner lieben Frau Lebewohl sagen. Jahre später standen wir beieinander und sagten Lebewohl, als einer unserer Söhne mit fünf Jahren die Schwelle zwischen dieser und der nächsten Welt überschritt. Und noch später hießen wir eine behinderte Tochter in diesem Leben willkommen. Das Leben hat uns vor Aufgaben gestellt, wie es das mit jedem Menschen tut. Im Laufe der Jahre habe ich jedoch die weise Einsicht eines Freundes schätzen gelernt; er ist Patriarch und Siegeler im Tempel. Er sagte: „Lance, die Freude, die ich empfinde, ist mehr als nur die Anwesenheit im Tempel. Der Tempel ist in mir! Wenn ich den Tempel verlasse, dann begleitet mich sein Friede.”

So kann es jedem rechtschaffenen Menschen gehen. Wenn wir den Tempel so oft besuchen, wie Zeit und Entfernung es gestatten, dann ist der Tempel in uns. Dann stehen wir ungeachtet aller Wechselfälle des Lebens immer an einer heiligen Stätte. Vom Haus des Herrn geht ein Aufruf an alle, die Zion angehören wollen: „Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs. Er zeigt uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen.” ( Jesaja 2:3.)

Als unser Pfahl an der Weihung des San-Diego-Tempels teilnahm, kam ich ein paar Minuten vor der Zeit in den Celestialen Raum; meine Tochter und einer meiner Söhne waren bei mir. Mein liebe Pat leitete den Chor. Wie von Engeln begleitet übten sie ein bekanntes Lied der Kirche, ein Lied, das wir vor wenigen Augenblicken hier gesungen haben:

Hoch auf des Berges Höhn sieht man das

Banner wehn, ihr Völker, schaut hinauf, laß alle Welt es

sehn!

In Zions Land, in Gottes Hand, laßt auf des Berges Höhn das Banner wehn! (Gesangbuch, Nr. 28.)

Unsere Blicke trafen sich. Für einen Augenblick war ich wieder in der Zeit vor all den Prüfungen und den schmerzlichen Erfahrungen, an jenem wundervollen Tag, als wir gemeinsam in das Haus des Herrn gingen. Ich zog meine Kinder an mich. Und in diesem Augenblick erfüllte ein wunderbares, celestiales Gefühl meine Brust. Ich wußte, ich war an einer heiligen Stätte. Ich fühlte wieder den Frieden, den ich vor vielen Jahren in einer finsteren Nacht empfunden hatte - und wieder freute ich mich. Im Namen Jesu Christi. Amen.