2002
Eine Brücke des Glaubens errichten
Januar 2002


Eine Brücke des Glaubens errichten

„Unser Erdenleben ist die Zeit, da der Mensch sich vorbereiten soll, Gott zu begegnen, indem er eine Brücke des Glaubens errichtet, die die Tür zu Unsterblichkeit und ewigem Leben öffnet.“

Im Büro einer großen Werbeagentur konnte man folgenden Spruch an der Wand lesen: „Die Menschen bauen zu viele Mauern und zu wenig Brücken“ (JCDecaux, Frankreich).

Tatsächlich werden Mauern normalerweise dazu errichtet, um zwei oder mehr Menschen räumlich, seelisch oder geistig voneinander zu trennen und um Hindernisse zu bilden. Sie werden errichtet, weil sie Verteidigung, Schutz oder Trennung darstellen. Manche Mauern sind dafür berühmt geworden: die Mauern Jerusalems, die Chinesische Mauer und die Berliner Mauer. Das Symbol „Mauer“ bzw. „Wand“ wird auch in unserem allgemeinen Sprachgebrauch verwendet, um Trennung auszudrücken, wie „eine Mauer des Schweigens“ oder „gegen eine Wand reden“.

Eine Brücke ist das Gegenteil einer Mauer. Brücken werden gebaut, um etwas zu verbinden und um Einheit zu schaffen. Sie werden gebaut, um Hindernisse zu überwinden. Manche Brücken sind auch berühmt geworden, wie die Seufzerbrücke, die Allenby-Brücke und viele andere. Wir verwenden den Begriff auch sprachlich, um Vereinigung oder Einheit auszudrücken, wie „eine Brücke schlagen“ oder „Unterschiede überbrücken“.

Wenn wir unser Erdenleben und das Ziel des Lebens so betrachten, wie es Alma ausgedrückt hat, dass nämlich „dieses Leben die Zeit [ist], da der Mensch sich vorbereiten soll, Gott zu begegnen“ (Alma 34:32), wie hilft uns dann der Herr, dieses Ziel zu erreichen? Indem er uns einfach hilft – um bei diesem Bild zu bleiben –, in unserem Leben eine Brücke des Glaubens zu bauen, auf der wir die Mauern des Unglaubens, der Gleichgültigkeit, der Angst oder der Sünde überwinden können. Unser Erdenleben ist die Zeit, da der Mensch sich vorbereiten soll, Gott zu begegnen, indem er eine Brücke des Glaubens errichtet, die die Tür zu Unsterblichkeit und ewigem Leben öffnet.

Wie errichten wir nun solch eine Brücke des Glaubens?

Als junger Mann lebte ich in der Stadt Namur in Belgien, die durch einen breiten Fluss von der benachbarten Stadt auf dem anderen Ufer getrennt war. Damals gab es zwischen den beiden Städten nur eine einzige Brücke. Sie stand auf den Überresten einer Brücke, die die römischen Eroberer vor vielen Jahrhunderten erbaut hatten. Inzwischen war sie für den Verkehr zu schmal geworden, und die vielen Pfeiler waren so niedrig, dass große Schiffe und Boote nicht hindurchfahren konnten. Man brauchte eine neue, breitere Brücke mit nur einem Pfeiler. Bald begannen an beiden Ufern die Arbeiten an den Fundamenten. In kurzer Zeit wuchsen riesige Metallarme von beiden Seiten aufeinander zu, die sich in der Mitte des Flusses treffen sollten. Ich war fasziniert von der Technik und fuhr fast jeden Tag mit dem Fahrrad hin, um mir anzuschauen, wie die Arbeit voranging. Endlich kam der Tag, an dem das stählerne Mittelstück die letzte Baulücke schloss. Zahllose Menschen beobachteten mit mir den schwierigen Vorgang, den letzten Schritt, der die beiden Teile verbinden und das erstmalige Überqueren der Brücke möglich machen sollte. Als es vollbracht war, applaudierten die Menschen, und die Arbeiter umarmten sich; das Hindernis, der Fluss, war überwunden.

Ich habe Ihnen dieses Ereignis seines symbolischen Wertes wegen erzählt. Die Brücke ist mehr als eine Brücke aus Metall. Sie symbolisiert die Brücke des Glaubens, die es uns, den Kindern des himmlischen Vaters, möglich macht, ihm wieder zu begegnen. Das Mittelstück der Brücke, der Schlussstein, steht für das Sühnopfer Jesu Christi, den Mittler, das Bindeglied zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit, die Verbindung zwischen dem natürlichen und dem geistigen Menschen, den Wechsel vom zeitlichen zum ewigen Leben. Nur durch ihn kann der Mensch mit dem himmlischen Vater versöhnt werden und die Mauern der Sünde und der Sterblichkeit überwinden – jene Hindernisse, die den geistigen und den zeitlichen Tod darstellen. Das Sühnopfer Jesu Christi steht im Mittelpunkt des Errettungsplans, des verheißenen Wiedersehens mit unserem himmlischen Vater, wie wir im Buch Mose nachlesen können: „Das ist der Plan der Errettung für alle Menschen, durch das Blut meines Einziggezeugten, der in der Mitte der Zeit kommen wird.“ (Mose 6:62.)

Die Liebe Gottes am anderen Ende der Brücke ist der Lohn für unseren Glauben an seinen Sohn Jesus Christus. „Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab.“ (Johannes 3:16.) Die größte aller Gaben Gottes ist das überragende Opfer seines Sohnes, sein Sühnopfer, das uns nicht nur Unsterblichkeit, sondern auch ewiges Leben gibt, sofern wir seine Gebote halten und bis ans Ende ausharren (siehe LuB 14:7).

Und während wir darangehen, eine Brücke des Glaubens zu bauen, müssen wir uns ein festes Zeugnis vom Vater, vom Sohn und von seinem Sühnopfer erarbeiten. Diese Brücke des Glaubens entscheidet, ob wir unserem himmlischen Vater wirklich wieder begegnen oder ob wir auf ewig von ihm getrennt bleiben, indem wir Mauern der Sünde errichten, die uns von seiner Liebe und Gnade trennen.

Die Gabe des Heiligen Geistes ist das Fundament der Brücke des Glaubens. Errettung kommt nur durch Jesus Christus und die gerechte Ausübung unseres Glaubens an ihn zustande, denn dadurch können wir von unseren Sünden umkehren und die Verordnungen der Errettung empfangen. Diese stellen das Brückengeländer dar. Wer auf die Stimme des Heiligen Geistes hört, erhält Gefühle und Eingebungen, mit deren Hilfe er die Widrigkeiten des Lebens bewältigen und rechtschaffene Entscheidungen treffen kann. Die Brücke zu überqueren ist vielleicht schwerer, als wir meinen. Eine Brücke hält dem Sturm nur stand, wenn sie auf starken Pfeilern ruht. Stürme – Glaubenskrisen wie etwa Tod, schwere Krankheit, Verlust der Arbeitsstelle oder der finanziellen Sicherheit – gehören zum Erdenleben. Manchmal verschlimmert sich eine Krise bis zu einem Punkt, an dem man sogar die Existenz Gottes und des Erretters infrage stellt. Wer in solchen Augenblicken darum fleht, dass sein Glaube gestärkt werde, erhält immer Antwort durch den Tröster, nämlich den Heiligen Geist, der „ein ständiger Begleiter … und ein unwandelbares Zepter der Rechtschaffenheit und Wahrheit“ ist (LuB 121:46).

Ja, durch tägliches glaubensvolles Ringen um den Einfluss des Heiligen Geistes, der uns an alles erinnern wird (siehe Johannes 14:26), können wir Lösungen für unsere täglichen Probleme finden. Ich möchte in diesem Zusammenhang vorlesen, was ein Neugetaufter vor vielen Jahren an Präsident Harold B. Lee geschrieben hat, nachdem dieser auf einer Pfahlkonferenz gesprochen hatte: „Während Sie sprachen, kam mir immer wieder ein Gedanke – dass es sich mit dem Leben eines Mitglieds der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage so verhält, als ginge man über eine Hängebrücke. Sie hängt zwischen der Geburt, als wir uns nämlich durch die Taufe der Kirche angeschlossen haben, und dem Tod, dem Übergang zum ewigen Leben, und führt über den unruhigen Fluss der Weltlichkeit und Sünde. Wenn man die Brücke betritt, gibt einem zunächst noch die Nähe der Taufe Sicherheit und Glauben, doch wenn man sich des Flusses dort unten und der weiten Strecke, die man zurücklegen muss, bewusst wird, weicht das Gefühl der Sicherheit gelegentlichen Zweifeln und Ängsten, wodurch man aus der Bahn des Betens, des Glaubens, der Liebe und Arbeit geworfen wird, durch die der stetige Fortschritt zustande kommt. Die Nebel des Zweifels und der Gleichgültigkeit ziehen auf und quälen Herz und Sinn und verhindern den Fortschritt und verringern das Empfindungsvermögen für die magnetische Kraft der Liebe, die über die Brücke strömt. An diesem Punkt hält man dann inne, fällt auf die Knie und verweilt, bis die Macht der Liebe neuen Glauben und neue Führung zur Überquerung schafft.“ (Conference Report, April 1965, Seite 15.)

Letztendlich ist die Brücke des Glaubens nur dann vollständig, wenn sie Eltern und Kinder verbindet und sie in dem Ziel vereint, eine ewige Familie zu werden. Diese Brücke des Glaubens soll die Generationen verbinden, damit sie eins werden, so wie der Vater und der Sohn eins sind – eins in der Absicht, ewiges Leben zu erlangen. Damit das gelingt, sind uns Gebote gegeben worden. Zum einen sollen die Kinder Vater und Mutter ehren, zum andern sollen die Eltern ihre Kinder lehren, „untadelig vor dem Herrn zu wandeln“ (LuB 68:28). Ich möchte das anhand eines Beispiels veranschaulichen.

Während des Zweiten Weltkriegs war ich ein kleiner Junge. Mein Land war angegriffen worden, und Gefahren lauerten an jeder Ecke. Meine Mutter gab mir eine unvergessliche, eine eindrucksvolle Lektion über Vertrauen und Einigkeit. Sie machte mich auf die Gefahren des Krieges aufmerksam und sagte einfach: „Vertraue meinem Wort und folge mir; höre auf meine Stimme. Wenn du das tust, werde ich dich so gut beschützen, wie ich es nur kann.“ Ich hörte auf meine Mutter, weil ich sie liebte und ihr vertraute.

Kurze Zeit später begann die Schule, und das war für mich eine weitere Brücke, die ich überqueren musste. Um mich auf die neue Erfahrung vorzubereiten, nämlich von Zuhause fortzugehen, sagte mir meine Mutter, ich solle auf meine Lehrer hören und ihnen gehorchen. Wieder vertraute ich dem Rat meiner Mutter. Ich beschloss, meinen Lehrern und den neuen Regeln zu gehorchen. Deshalb wurde die Schule für mich zu einer Brücke des Wissens statt zu einer Mauer der Unwissenheit. Diese Lektion über Vertrauen und Einigkeit trug wesentlich dazu bei, dass ich mit meinen Eltern, Angehörigen und Lehrern eins wurde. Sie ermöglichte es mir später, mit meinem Erretter eins zu werden, indem ich mich taufen ließ und mich der Kirche anschloss. Sie erinnerte mich, als ich dann Ehemann, Vater und Großvater wurde, daran, weiterhin Vertrauen und Einigkeit innerhalb der Familie zu fördern, indem ich die Bündnisse des Tempels hielt. Präsident Hinckley hat gesagt: „Im Tempel geht es um Belange der Unsterblichkeit. Er ist eine Brücke zwischen diesem und dem nächsten Leben.“ (Stand a Little Taller, [2001], Seite 6.)

In unserer Zeit ist es so einfach, sich abzugrenzen, indem wir in zeitlicher oder in geistiger Hinsicht und sogar in Bezug auf die Familie oder Religion Mauern errichten. Bauen wir stattdessen lieber mehr Brücken des Glaubens und der Versöhnung, und leben wir im Frieden, nicht „wie die Welt ihn gibt“, sondern wie ihn Jesus Christus, der Sohn Gottes gibt (Johannes 14:27). Er ist die Brücke des Glaubens, die zur Ewigkeit führt.

Ich bezeuge, dass Jesus der Messias ist. In ihn und in sein Evangelium der Errettung setze ich mein Vertrauen, dass ich eines Tages wieder mit ihm vereint sein werde. Im Namen Jesu Christi. Amen.