Generalkonferenz
Christus heilt, was zerbrochen ist
Frühjahrs-Generalkonferenz 2022


Christus heilt, was zerbrochen ist

Jesus Christus kann die zerbrochene Beziehung zu Gott oder zu einem Menschen heilen und auch das, was in uns selbst zerbrochen ist

Vor ein paar Jahren fragte mein damals achtjähriger Neffe William unseren ältesten Sohn Briton bei einem Familientreffen, ob er mit ihm Ball spielen wolle. Begeistert antwortete Briton: „Klar! Sehr gern sogar!“ Nachdem sie eine ganze Weile gespielt hatten, entglitt Briton der Ball, und er zerbrach versehentlich einen der uralten Blumentöpfe seiner Großeltern.

Briton war schrecklich bedrückt. Als er die Scherben aufhob, ging William zu seinem Cousin hinüber und klopfte ihm liebevoll auf den Rücken. Tröstend sagte er ihm: „Mach dir keine Sorgen, Briton. Als ich bei Oma und Opa etwas kaputt gemacht habe, hat Oma den Arm um mich gelegt und gesagt: ,Ist schon in Ordnung, William. Du bist ja erst fünf.‘“

Worauf Briton entgegnete: „Aber William, ich bin schon 23!“

Den heiligen Schriften entnehmen wir viel darüber, wie uns der Erretter Jesus Christus hilft, konstruktiv mit dem umzugehen, was in unserem Leben zerbricht – ganz gleich, wie alt wir sind. Er kann die zerbrochene Beziehung zu Gott oder zu einem Menschen heilen und auch das, was in uns selbst zerbrochen ist.

Die zerbrochene Beziehung zu Gott

Als der Heiland gerade im Tempel lehrte, brachten die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Frau zu ihm. Wir kennen nicht ihre ganze Geschichte, nur dass sie „beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt“1 wurde. Oftmals geben die Schriften nur einen kleinen Ausschnitt aus einem Menschenleben wieder, und auf dieser Grundlage sind wir dann geneigt, ihn lobend hochzuhalten oder aber zu verurteilen. Das Leben eines Menschen lässt sich jedoch nicht an einer einzigen Sternstunde oder einem einzigen bedauernswerten Tiefpunkt vor aller Augen festmachen. Die Begebenheiten aus den Schriften wollen uns stattdessen vor Augen führen, dass Jesus Christus damals die Antwort war und auch heute noch die Antwort ist. Er kennt unsere gesamte Geschichte und weiß genau, worunter wir leiden und was unsere Fähigkeiten und Schwachstellen sind.

Die Antwort Christi an diese kostbare Tochter Gottes war: „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“2 Statt „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ hätte er das auch so formulieren können: „Geh und ändere dich!“ Der Erretter forderte sie auf, umzukehren – also ihr Verhalten, ihren Umgang, ihr Selbstwertgefühl und ihr Herz zu ändern.

Dank Christus kann aus dem Entschluss „Geh und ändere dich“ auch ein „Geh und werde heil“ werden – ist er doch die Quelle der Heilung all dessen, was in unserem Leben zerbrochen ist. Als der große Mittler und Fürsprecher beim Vater heiligt Christus zerbrochene Beziehungen und stellt sie wieder her – allen voran unsere Beziehung zu Gott.

Aus der Übersetzung durch Joseph Smith geht hervor, dass die Frau damals dem Rat des Erretters tatsächlich gefolgt ist und ihr Leben geändert hat: „Und die Frau pries Gott von jener Stunde an und glaubte an seinen Namen.“3 Bedauerlicherweise kennen wir weder ihren Namen noch weitere Einzelheiten aus ihrer späteren Geschichte. Sie muss jedenfalls große Entschlossenheit sowie Demut und Glauben an Jesus Christus gehabt haben, um derart umzukehren und sich zu ändern. Wir wissen aber, dass es eine Frau war, die „an seinen Namen [glaubte]“ im Bewusstsein, dass sie sich nicht außerhalb der Reichweite seines unbegrenzten und ewigen Opfers befand.

Die zerbrochene Beziehung zu einem Menschen

In Lukas, Kapitel 15 findet sich ein Gleichnis von einem Mann, der zwei Söhne hatte. Der Jüngere verlangte von seinem Vater sein Erbteil, zog in ein fernes Land und verschleuderte sein Vermögen dort mit seinem zügellosen Lebensstil.4

„Als er alles durchgebracht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er begann Not zu leiden.

Da ging er zu einem Bürger des Landes und drängte sich ihm auf; der schickte ihn aufs Feld zum Schweinehüten.

Er hätte gern seinen Hunger mit den Futterschoten gestillt, die die Schweine fraßen; aber niemand gab ihm davon.

Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot im Überfluss, ich aber komme hier vor Hunger um.

Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt.

Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner!

Dann brach er auf und ging zu seinem Vater. Der Vater sah ihn schon von Weitem kommen und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“5

Dass der Vater seinem Sohn entgegenlief, ist in meinen Augen eine ganz starke Aussage. Die Kränkung, die der Sohn seinem Vater zugefügt hatte, saß sicherlich tief. Und vielleicht war der Vater durch das Verhalten seines Sohnes auch ernsthaft in Verlegenheit gebracht worden.

Warum hatte der Vater also nicht gewartet, bis sein Sohn sich entschuldigte? Warum nicht auf ein Wort zur Wiedergutmachung und Versöhnung warten, ehe er selbst Vergebungsbereitschaft und Liebe an den Tag legt? Darüber habe ich viel nachgedacht.

Der Herr lehrt uns, dass das Gebot zu vergeben für alle gilt: „Ich, der Herr, vergebe, wem ich vergeben will, aber von euch wird verlangt, dass ihr allen Menschen vergebt.“6 Vergebungsbereitschaft kann uns enorm viel Mut und Demut kosten. Und manchmal brauchen wir auch Zeit. Uns wird abverlangt, dass wir unseren Glauben und unser Vertrauen in den Herrn setzen und Verantwortung für den Zustand unseres Herzens übernehmen, denn das spiegelt den Stellenwert und die Stärke unserer Entscheidungsfreiheit wider.

Mit seiner Schilderung des Vaters im Gleichnis vom verlorenen Sohn betont der Erretter, dass Vergebung eines der edelsten Geschenke ist, die wir einander und vor allem uns selbst machen können. Es ist nicht immer leicht, unser Herz durch Vergebungsbereitschaft zu entlasten, aber durch die helfende Macht Jesu Christi wird es möglich.

Das, was in uns selbst zerbrochen ist

In Apostelgeschichte, Kapitel 3 wurde ein Mann „herbeigetragen, der von Geburt an gelähmt war. Man setzte ihn täglich an das Tor des Tempels, das man die Schöne Pforte nennt; dort sollte er bei denen, die in den Tempel gingen, um Almosen betteln.“7

Der lahme Bettler „war über vierzig Jahre alt“8 und hatte sein ganzes Leben in einem scheinbar nicht endenden Zustand der Entbehrung und des Wartens zugebracht, denn er war auf die Großzügigkeit anderer angewiesen.

Als er eines Tages „Petrus und Johannes in den Tempel gehen sah, bat er sie um ein Almosen.

Petrus und Johannes blickten ihn an und Petrus sagte: Sieh uns an!

Da wandte er sich ihnen zu und erwartete, etwas von ihnen zu bekommen.

Petrus aber sagte: Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, steh auf und geh umher!

Und er fasste ihn an der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich kam Kraft in seine Füße und Gelenke;

er sprang auf, konnte stehen und ging umher. Dann ging er mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott.“9

Wir erleben oftmals, dass wir wie der gelähmte Bettler am Tor des Tempels geduldig – oder manchmal auch ungeduldig – „auf den Herrn hoffen [und warten]“10. Wir hoffen und warten darauf, körperlich oder seelisch geheilt zu werden. Wir hoffen und warten auf Antworten, die uns tief im Innersten zufriedenstellen. Wir hoffen und warten auf ein Wunder.

Auf den Herrn zu hoffen und zu warten, kann uns an heilige Stätten tragen, wo wir veredelt und geläutert werden und den Erretter dabei auf höchst persönliche Weise kennenlernen. Doch möglicherweise stellen wir uns dort, während wir auf den Herrn warten, auch die Frage: „O Gott, wo bist du?“11 Diese Stätte spiritueller Beharrlichkeit verlangt uns ab, dass wir Glauben an Christus ausüben und uns immer wieder von Neuem bewusst für ihn entscheiden. Ich kenne solche Stätten und weiß, was es heißt, derart zu hoffen und zu warten.

Unzählige Stunden habe ich in einer Einrichtung für Krebskranke verbracht und Seite an Seite mit vielen gelitten, die sich ebenfalls nach Heilung sehnten. Einige sind noch am Leben, andere nicht. Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass die Befreiung von Prüfungen für jeden von uns anders ausfällt und dass wir uns daher weniger auf die Art der Befreiung konzentrieren sollten und mehr auf den Befreier selbst. Unser Augenmerk sollte immer Jesus Christus gelten!

Glauben an Christus auszuüben bedeutet, nicht nur auf Gottes Willen zu vertrauen, sondern auch auf seinen Zeitplan. Denn er weiß genau, was wir brauchen und wann wir es brauchen. Wenn wir uns dem Willen des Herrn fügen, erhalten wir am Ende wesentlich mehr als das, was wir uns gewünscht haben.

Meine lieben Freunde, bei jedem gibt es etwas, was zerbrochen ist und ausgebessert, instand gesetzt oder geheilt werden muss. Wenn wir uns dem Erretter zuwenden, Herz und Sinn auf ihn ausrichten und umkehren, kommt er zu uns „mit Heilung in seinen Flügeln“12, legt liebevoll den Arm um uns und sagt: „Ist schon in Ordnung. Du bist ja erst 5 – oder 16, 23, 48, 64 oder 91. Gemeinsam bekommen wir das hin!“

Ich bezeuge, dass sich nichts im Leben, was zerbrochen ist, jenseits der heilenden, erlösenden und helfenden Macht Jesu Christi befindet. Im heiligen Namen dessen, der die Macht hat zu heilen, nämlich Jesus Christus. Amen.