Generalkonferenz
Das höchste Gut
Herbst-Generalkonferenz 2021


Das höchste Gut

Jeder von uns muss zu Christus kommen, und zwar mit entschiedener Hingabe an das Evangelium

Die Bibel berichtet von einem reichen jungen Mann, der auf Jesus zuläuft, vor ihm auf die Knie fällt und den Meister ganz aufrichtig fragt: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ Jesus zählt etliche Gebote auf. Der Mann erwidert, diese Gebote habe er von Jugend an treu befolgt. Da fordert Jesus ihn auf, all sein Hab und Gut zu verkaufen, den Erlös den Armen zu geben, sein Kreuz auf sich zu nehmen und ihm nachzufolgen. Von dieser klaren Anweisung bekommt der junge Mann – trotz seiner teuren Sandalen – kalte Füße, und er geht traurig weg, weil er, wie es in der Schrift heißt, „ein großes Vermögen“ besitzt.1

Vordergründig dient diese Geschichte als Mahnung, Reichtum nicht zum Selbstzweck werden zu lassen und an die Bedürftigen zu denken. Aber im tieferen Sinn geht es hier um etwas anderes, nämlich darum, ob wir uns unserer Pflicht vor Gott mit ganzem Herzen und uneingeschränkt hingeben. Reichtum hin oder her: Jeder von uns muss zu Christus kommen, und zwar mit der gleichen entschiedenen Hingabe an dessen Evangelium, wie sie von diesem jungen Mann erwartet wurde. Die heutige Jugend sagt dazu wohl, dass wir „voll dabei“ sein müssen.2

Der Schriftsteller C. S. Lewis lässt Jesus das in seiner charakteristischen, ausdrucksstarken Sprache so ausdrücken: „Ich will nicht deine Zeit, dein Geld oder deine Arbeit. Ich will dich. Halbheiten sind sinnlos. Ich will nicht hier einen Zweig abschneiden und dort einen anderen, ich will den ganzen Baum abhauen. Ich will den Zahn weder ausbohren noch ihn überkronen noch ihn plombieren. Ich will ihn ziehen. Ja, übergib mir dein natürliches Selbst. Ich will dir dafür ein neues Selbst geben. Ja, ich will dir mich selbst geben: Mein eigener Wille soll deiner werden.“3

Alle, die bei dieser Generalkonferenz sprechen, werden auf die eine oder andere Weise das sagen, was Christus dem reichen jungen Mann sagte: „Komm zu deinem Erretter. Komm mit allem, was dich ausmacht, mit ganzem Herzen. Nimm dein Kreuz auf dich, so schwer es auch sein mag, und folge ihm nach.“4 Die Redner werden dies sagen, weil sie wissen, dass es im Reich Gottes keine halben Sachen gibt – kein Aufhören mittendrin, keinen Blick zurück. Den Männern, die um die Erlaubnis baten, erst den verstorbenen Vater zu beerdigen oder sich zumindest von Angehörigen zu verabschieden, entgegnete Jesus mit einer unmissverständlichen Aufforderung. „Überlasst das anderen“, sagte er. „Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.“5 Wenn Schwieriges von uns verlangt wird, vielleicht sogar etwas, was unseren innigsten Herzenswünschen zuwiderläuft, sollten wir daran denken, dass wir gelobt haben, der Sache Christi die Treue zu halten, und dass wir in unserem Leben diesem Ziel alles unterordnen müssen. Obwohl Jesaja uns versichert, wir erhielten die Errettung „ohne Geld und ohne Bezahlung“6 – und dem ist auch so –, müssen wir uns darauf einstellen, um es mit T. S. Eliot zu sagen, „nicht weniger als alles“7 dafür hinzugeben.

Natürlich haben wir alle Gewohnheiten, Fehler oder persönliche Gründe, die uns davon abhalten könnten, geistig in diesem Werk voll und ganz aufzugehen. Aber Gott ist unser Vater und außergewöhnlich gut darin, Sünden zu vergeben und zu vergessen, von denen wir abgelassen haben. Schließlich muss er es bei uns ja oft genug üben. Auf jeden Fall ist göttliche Hilfe für jeden von uns in jedem Moment zur Hand, in dem wir spüren, dass wir unser Verhalten ändern müssen. Gott verwandelte das Herz des Saul.8 Ezechiel rief das gesamte alte Israel auf, seine Vergangenheit abzulegen und sich „ein neues Herz und einen neuen Geist“9 zu schaffen. Alma forderte eine „mächtige Wandlung“10, wodurch die Seele weit wird, und Jesus selbst lehrte, dass man das Reich Gottes nur zu sehen bekommt, wenn man von neuem geboren wird11. Die Möglichkeit, sich ändern und auf einer höheren Ebene leben zu können, zählte offenbar schon immer zu den Gaben, die Gott denen zukommen lässt, die danach streben.

Liebe Freunde, zum gegenwärtigen Zeitpunkt finden wir allerlei Spaltungen samt weiterer Aufspaltungen vor, Gruppen samt Untergruppen, sogenannte „Digital Tribes“ sowie politische Identitäten, und das alles gepaart mit Feindseligkeit in Hülle und Fülle. Sollten wir uns nicht fragen, ob wir unser Leben nicht entschlossen in einer, wie Präsident Russell M. Nelson es ausgedrückt hat, „erhabeneren und heiligeren Weise“12 führen wollen? Wir täten gut daran, uns dabei an die im Buch Mormon beschriebene, äußerst bemerkenswerte Zeit zu erinnern, in der die Menschen ebendiese Frage bejahten:

„Und es begab sich: Es gab unter allem Volk im ganzen Land keinen Streit … wegen der Gottesliebe, die dem Volk im Herzen wohnte. …

Und es gab weder Neid noch Streit … noch irgendeine Art von Ausschweifungen; und gewiss konnte es kein glücklicheres Volk unter allem Volk geben, was von der Hand Gottes erschaffen worden war.

Es gab weder Räuber noch Mörder noch gab es Lamaniten noch sonst irgendwelche -iten; sondern alle waren eins, die Kinder Christi und Erben des Reiches Gottes.

Und wie gesegnet waren sie!13

Was also ist der Schlüssel zu einem solchen zufriedenen, glücklichen Leben? Die Lösung ist in diese Worte gebettet: „Gottesliebe, die dem Volk im Herzen wohnte“14. Prägt die Gottesliebe unser eigenes Leben, unsere Beziehungen zueinander und letztlich unsere Einstellung der gesamten Menschheit gegenüber, dann verblassen althergebrachte Abgrenzungen, Schubladendenken und künstliche Spaltungen – und der Frieden wächst. Genau das ist in unserem Beispiel aus dem Buch Mormon geschehen. Es gab keine Lamaniten, Jakobiten, Josephiten oder Zoramiten mehr. Es gab überhaupt keine „-iten“ mehr. Die Menschen hatten eine gemeinsame überweltliche Identität angenommen. Sie alle, so heißt es, waren nun als „die Kinder Christi“15 bekannt.

Natürlich sprechen wir hier von dem ersten großen Gebot, das der Menschheit gegeben wurde: Gott von ganzem Herzen zu lieben, ohne Vorbehalt oder Einschränkung, also mit ganzem Herzen, aller Macht, unserem ganzen Denken und aller Kraft.16 Diese Gottesliebe ist das erste große Gebot im Universum. Doch die wichtigste und oberste Wahrheit im Universum ist, dass Gott uns genau auf diese Weise liebt – von ganzem Herzen, ohne Vorbehalt oder Einschränkung, mit seinem ganzen Herzen, all seiner Macht, seinem ganzen Denken und all seiner Kraft. Treffen diese erhabenen Kräfte aus seinem Herzen und aus unserem ungehindert aufeinander, kommt es zu einer wahren Explosion geistiger und moralischer Macht. Dann wird die Menschheit, wie Teilhard de Chardin schrieb, „zum zweiten Mal in der Weltgeschichte das Feuer entdeckt haben“17.

Nur dann – und wirklich nur dann! – können wir das zweite große Gebot auf eine Weise einhalten, die nicht oberflächlich oder belanglos ist. Wenn wir Gott so sehr lieben, dass wir versuchen, ihm ganz und gar treu zu sein, wird er uns die Fähigkeit, die Belastbarkeit, den Willen und die Möglichkeit geben, unseren Nächsten und uns selbst zu lieben. Vielleicht können wir dann wieder ausrufen: „Es [konnte] kein glücklicheres Volk unter allem Volk geben, was von der Hand Gottes erschaffen worden war.“18

Brüder und Schwestern, ich bete darum, dass wir dort Erfolg haben, wo der reiche junge Mann gescheitert ist, dass wir das Kreuz Christi auf uns nehmen, was es uns auch abverlangen mag und ganz gleich, was wir zu regeln haben oder was es uns kostet. Ich gebe Zeugnis: Wenn wir geloben, Christus nachzufolgen, stoßen wir entlang des Weges auf die eine oder andere Weise auf eine Dornenkrone und ein unerbittliches römisches Kreuz. Ganz gleich, wie wohlhabend unser junger Mann war: Es reichte nicht, um sich von einer Konfrontation mit diesen Symbolen freizukaufen. Auch wir können das nicht. Angesichts dessen, dass wir damit gesegnet werden, das höchste aller Güter zu empfangen – die Gabe des ewigen Lebens –, ist es nicht zu viel von uns verlangt, den Kurs zu halten und dem Hohepriester unseres Bekenntnisses, unserem Leitstern, Fürsprecher und König nachzufolgen. Wie der eher weniger bekannte Amaleki in alter Zeit bezeuge auch ich, dass jeder Einzelne von uns Christus seine „ganze Seele als Opfer dar[bringen]“19 muss. In einem Lied wird diese entschlossene, unerschütterliche Hingabe wie folgt beschrieben:

Lob dem Berg, auf dem ich stehe,

Berg der Liebe immerdar. …

Nimm mein ganzes Herz als Siegel,

bis vor dir ich steh fürwahr.20

Im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.