Generalkonferenz
Der Umgang mit dem Thema psychische Gesundheit
Herbst-Generalkonferenz 2021


Der Umgang mit dem Thema psychische Gesundheit

Erlauben Sie mir, von einigen Beobachtungen zu erzählen, die ich gemacht habe, als meine Familie Prüfungen durchlebt hat

Wir haben als Familie reiche Segnungen genießen dürfen, während wir freudig den Weg der Bündnisse gehen, aber wir haben auch vor überaus hohen Bergen gestanden. Ich möchte über sehr persönliche Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen sprechen. Dazu gehören klinische Depressionen, schwere Angstzustände, bipolare Störungen, ADHS – und manchmal eine Kombination all dessen. Ich erzähle von diesen persönlichen Erfahrungen mit Einverständnis der Betroffenen.

Im Laufe meines Dienstes in der Kirche habe ich hunderte einzelne Mitglieder und Familien mit ähnlichen Erfahrungen kennengelernt. Manchmal frage ich mich, ob die verheerende Krankheit, die das Land bedeckt,1 wie es in den heiligen Schriften heißt, wohl auch psychische Erkrankungen umfasst. Sie bedecken die ganze Welt, jeden Kontinent und jede Kultur. Unter allen Menschen – jungen, alten, reichen und armen – gibt es Betroffene. Die Mitglieder der Kirche sind davon nicht ausgenommen.

Zugleich ist es Lehre der Kirche, dass wir danach streben sollen, wie Jesus Christus zu werden und in ihm vollkommen zu werden. Unsere Kinder singen: „Ich möchte so sein wie Jesus.“2 Wir sehnen herbei, vollkommen zu sein, so wie der Vater im Himmel und Jesus Christus vollkommen sind.3 Da psychische Erkrankungen nicht zu unserem Bild von Vollkommenheit passen, bleiben sie allzu oft ein Tabuthema. Infolgedessen gibt es zu viel Unwissen, zu viel stilles Leiden und zu viel Verzweiflung. Viele fühlen sich überfordert, da sie dem, was sie als die Maßstäbe betrachten, nicht gerecht werden, und nehmen daher fälschlich an, sie hätten keinen Platz in der Kirche.

Um einem solchen Trugschluss entgegenzuwirken, sollten wir bedenken, dass „der Erretter alle Kinder seines Vaters [liebt]. Er weiß ganz genau, wie sich die Schmerzen und inneren Kämpfe anfühlen, die viele Menschen bewältigen müssen, weil sie an den unterschiedlichsten Formen seelischer Erkrankungen leiden. Er erlitt ‚Schmerzen und Bedrängnisse und Versuchungen jeder Art‘, um ‚die Schmerzen und die Krankheiten seines Volkes auf sich [zu] nehmen‘ (Alma 7:11; Hervorhebung hinzugefügt; siehe auch Hebräer 4:15,16; 2 Nephi 9:21). Eben weil Christus all unsere Sorgen versteht, weiß er auch, wie er ‚die Zerschlagenen in Freiheit setze[n]‘ kann (Lukas 4:18; siehe auch Jesaja 49:13-16).“4 Herausforderungen deuten oft darauf hin, dass wir zusätzliche Hilfen und Unterstützung benötigen, und sind kein Zeichen von Charakterschwäche.

Erlauben Sie mir, von einigen Beobachtungen zu erzählen, die ich gemacht habe, als meine Familie Prüfungen durchlebt hat.

Erstens: Viele Menschen trauern mit uns; sie verurteilen uns nicht. Aufgrund schwerer Panikattacken, Angstzustände und Depressionen kehrte unser Sohn nach nur vier Wochen von seiner Mission nach Hause zurück. Für uns als Eltern war es schwierig, mit der Enttäuschung und Traurigkeit umzugehen, da wir so sehr dafür gebetet hatten, er möge Erfolg haben. Wie alle Eltern möchten wir, dass unsere Kinder erfolgreich und glücklich sind. Die Mission sollte ein wichtiger Meilenstein für unseren Sohn sein. Wir fragten uns auch, was andere wohl dachten.

Wir wussten nicht, dass die Rückkehr unseres Sohnes für ihn selbst noch unendlich viel niederschmetternder war. Denn er liebte den Herrn und wollte ihm dienen; und doch konnte er es nicht – aus Gründen, die für ihn schwer begreiflich waren. Schon bald war er ohne jede Hoffnung und wurde von tiefen Schuldgefühlen geplagt. Er fühlte sich nicht mehr angenommen, sondern geistig wie taub. Wiederkehrende Todesgedanken verzehrten ihn zusehends.

In diesem irrationalen Zustand dachte unser Sohn, der einzig verbleibende Ausweg sei, sich das Leben zu nehmen. Es bedurfte des Heiligen Geistes und einer Legion von Engeln auf beiden Seiten des Schleiers, um ihn zu retten.

Während er in dieser äußerst schwierigen Zeit um sein Leben kämpfte, scheuten unsere Familie, die Führer der Gemeinde, Mitglieder und Freunde keine Mühe, um uns zu unterstützen und sich unserer anzunehmen.

Nie zuvor war ich mit so viel Liebe überschüttet worden. Nie zuvor habe ich machtvoller und auf so persönliche Weise verspürt, was es heißt, diejenigen zu trösten, die des Trostes bedürfen. Unsere Familie wird für diese Überschüttung mit Liebe immer dankbar sein.

Die unzähligen Wunder, die diese Geschehnisse begleiteten, kann ich gar nicht beschreiben. Glücklicherweise hat unser Sohn überlebt, doch bedurfte es viel Zeit und viel medizinischer, therapeutischer und geistiger Betreuung, bis er gesund wurde und annehmen konnte, dass er geliebt, geschätzt und gebraucht wird.

Mir ist klar, dass nicht alle Fälle so ausgehen wie unserer. Ich fühle mit allen, die einen lieben Menschen viel zu früh verloren haben und nun mit Trauer, Schmerz und unbeantworteten Fragen zurückbleiben.

Weiter habe ich beobachtet, dass es für Eltern schwierig sein kann, die inneren Kämpfe ihrer Kinder zu erkennen. Wir müssen uns Wissen aneignen. Wie können wir den Unterschied zwischen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der normalen Entwicklung und Anzeichen für eine Erkrankung erkennen? Als Eltern haben wir den heiligen Auftrag, unseren Kindern zu helfen, die Herausforderungen des Lebens zu meistern; doch nur die wenigsten von uns sind Experten für psychische Gesundheit. Dennoch müssen wir uns um unsere Kinder kümmern, indem wir ihnen nahebringen, dass sie bei ihrem Bestreben, angemessene Erwartungen zu erfüllen, mit ihren aufrichtigen Bemühungen zufrieden sein können. Jeder von uns weiß aufgrund der eigenen Unzulänglichkeiten, dass geistiges Wachstum ein fortdauernder Vorgang ist.

Wir verstehen jetzt, dass es „für unser seelisches und mentales Wohlbefinden … kein einfaches Wundermittel [gibt]. Da wir in einer gefallenen Welt leben und einen unvollkommenen Körper haben, erleben wir Stress und Chaos. Zudem können etliche Faktoren dazu beitragen, dass sich psychische Erkrankungen ausbilden. Ungeachtet unseres mentalen und seelischen Wohlbefindens ist es immer besser, wenn wir uns auf unseren Fortschritt konzentrieren, anstatt auf unseren Unzulänglichkeiten herumzureiten.“5

Eines hat meiner Frau und mir immer geholfen: dem Herrn so nah wie möglich bleiben. Rückblickend erkennen wir heute, wie der Herr uns geduldig durch Zeiten großer Unsicherheit leitete. Sein Licht führte uns Schritt für Schritt durch die finstersten Stunden. Der Herr ließ uns erkennen, dass im ewigen Gefüge der Wert einer einzelnen Seele viel größer ist als jede irdische Aufgabe oder Leistung.

Noch einmal: Wenn wir uns Wissen über psychische Erkrankungen aneignen, bereiten wir uns darauf vor, uns selbst und anderen im Ernstfall zu helfen. Offene und ehrliche Gespräche miteinander tragen dazu bei, dass dieses wichtige Thema so viel Aufmerksamkeit erhält, wie es verdient. Schließlich geht ja Information Inspiration und Offenbarung voraus. Von diesen nur allzu oft unsichtbaren Herausforderungen kann ein jeder betroffen sein, und wenn wir davorstehen, erscheinen sie unüberwindlich.

Mit als Erstes müssen wir erkennen, dass wir ganz gewiss nicht allein sind. Ich bitte Sie, sich mit dem Thema „Seelische und geistige Gesundheit“ in der Rubrik „Hilfe fürs Leben“ in der App Archiv Kirchenliteratur zu befassen. Informiert zu sein führt zu mehr Verständnis, mehr Akzeptanz, mehr Mitgefühl und mehr Liebe. Das Ausmaß von Leid kann dadurch verringert werden. Zugleich hilft es uns, gesunde Erwartungen zu entwickeln und gut damit umzugehen sowie gesunde Beziehungen zu pflegen.

Meine letzte Beobachtung: Wir müssen stets übereinander wachen. Wir müssen einander lieben und dürfen einander nicht verurteilen – vor allem, wenn unsere Erwartungen nicht sofort erfüllt werden. Wir müssen unseren Kindern und Jugendlichen helfen, die Liebe Jesu Christi zu verspüren, selbst wenn es ihnen schwerfällt, sich selbst zu lieben. Elder Orson F. Whitney, der dem Kollegium der Zwölf Apostel angehörte, hat uns Eltern geraten, wie wir Kindern, die zu kämpfen haben, helfen können: „Betet für eure … Kinder; haltet sie mit eurem Glauben fest.“6

Ich habe oft darüber nachgedacht, was es bedeutet, sie mit Glauben festzuhalten. Ich glaube, dass dazu einfache gute Taten gehören, die von Liebe, Sanftmut, Güte und Achtung getragen sind. Es bedeutet, unseren Kindern zuzugestehen, sich im eigenen Tempo zu entwickeln, sowie Zeugnis abzulegen, damit sie die Liebe des Erretters spüren können. Es bedeutet, dass wir mehr an sie und weniger an uns oder andere denken. Das bedeutet für gewöhnlich, weniger zu reden und viel, viel mehr zuzuhören. Wir müssen sie lieben, stärken und für ihre Bemühungen, erfolgreich und Gott treu zu sein, oft loben. Schließlich müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um ihnen nahe zu bleiben – genauso wie wir Gott nahe bleiben.

Allen, die persönlich von einer psychischen Erkrankung betroffen sind, sage ich: Halten Sie an Ihren Bündnissen fest, auch wenn Sie vielleicht gegenwärtig die Liebe Gottes nicht spüren. Tun Sie alles, was in Ihrer Macht liegt, und stehen Sie dann ruhig, „um die Errettung Gottes zu sehen und dass sein Arm offenbar werde“7.

Ich bezeuge, dass Jesus Christus unser Erretter ist. Er kennt uns. Er liebt uns und er wird auf uns warten. Als unsere Familie diese Schwierigkeiten durchlebt hat, habe ich erkannt, wie nahe er uns tatsächlich ist. Seine Verheißungen sind wahr:

Nur Mut, ich bin bei dir, o fürchte dich nicht,

denn ich bin dein Gott, der auf dein Wohl erpicht.

Ich stärke dich hilfreich und gebe dir Halt,

ich trage dich in meiner allmächtgen Hand.

Wir wissen, wie fest unser Felsen ist. Mögen wir daher stets freudig verkünden:

Mein Herz, das an Jesus sich lehnt mit Vertraun,

kann sicher auf deine Verheißungen baun;

und mag alle Hölle auch gegen mich sein:

Du lässest mich nimmer, … o nimmer allein.8

Im Namen Jesu Christi. Amen.