Zum Gedenken an den Märtyrertod
Als sich Joseph und Hyrum Smith wegen einer Anhörung ins Gefängnis zu Carthage in Illinois aufmachten, vermutete kaum einer, dass die beiden ihr Haus zum letzten Mal verlassen sollten. Joseph war bereits ins Gefängnis geworfen und vom Pöbel misshandelt worden und hatte Morddrohungen erhalten, doch war er stets zurückgekehrt und hatte die Heiligen weiter angeführt. Auch Hyrum hatte mit den Heiligen Verfolgung erleiden müssen – und immer hatte er bereitwillig einen Neuanfang gewagt und nach vorn geschaut.
Aber am späten Nachmittag des 27. Junis 1844 stürmte ein Lynchmob das Gefängnis zu Carthage und ermordete die beiden.
Die Heiligen in Nauvoo waren von der Nachricht des gewaltsamen Todes der beiden Brüder entsetzt. An einem Tag hatten sie ihren Propheten und ihren Patriarchen verloren. Für viele waren Joseph und Hyrum außerdem Freunde und Vorbilder gewesen – Männer, die ihnen in der Not zur Seite gestanden und ihnen geholfen hatten. In den Tagen, Wochen und Monaten nach dem Märtyrertod rangen die Mitglieder damit, wie sie ihre Gefühle zu dieser Situation überhaupt beschreiben sollten. Gemeinsam mit weiteren schriftlichen Würdigungen an Joseph und Hyrum – etwa die, die als Abschnitt 135 des Buches Lehre und Bündnisse Teil des Kanons geworden ist – bilden ihre Briefe, Tagebucheinträge und Publikationen ein Zeugnis für die Mission der beiden Männer, die ihre Aufgaben treu bewältigt und ihr Zeugnis mit ihrem Blut besiegelt hatten.
Briefe
Viele Mitglieder aus Nauvoo hatten Freunde und Angehörige, die zur Zeit des Märtyrertods in weiter Ferne weilten. Nun standen sie vor der schwierigen Aufgabe, ihren Lieben die traurige Nachricht überbringen zu müssen.
„Ich kann gar nicht beschreiben, was uns gerade widerfahren ist“, schrieb Vilate Kimball ihrem Mann Heber, der sich im Osten der Vereinigten Staaten befand und Joseph Smiths Präsidentschaftskampagne unterstützte. „Möge Gott mich davor bewahren, jemals wieder so etwas miterleben zu müssen. … Jedes Herz ist von Kummer erfüllt, selbst die Straßen von Nauvoo scheinen zu trauern.“ Wie viele andere war auch sie besorgt, dass den Heiligen weiterhin Gewalt drohte. „Wo das enden wird“, warnte sie Heber, „weiß nur der Herr.“
Almira Mack Covey, eine Cousine der Brüder Smith, berichtete ihrer Familie in einem Brief, wie sie es erlebt hatte, als die Leichname von Joseph und Hyrum nach Nauvoo gebracht wurden. „Ihr könnt sicher besser beurteilen, wie wir uns gefühlt haben, als ich es schildern kann“, schrieb sie. „Ich kann nur sagen: Nicht ein trockenes Auge vermochte ich an diesem Tag in der großen Menschenschar auszumachen. Zwei Propheten des Herrn hingestreckt daniederliegen zu sehen, hätte selbst ein Herz aus Stein erweicht.“
Auch Sarah M. Kimball, eine Mitgründerin der Frauenhilfsvereinigung, hatte sich in der Menge befunden, als die Leichname in die Stadt zurückgebracht wurden. „Man sollte sich den Augenblick, als die leblosen Körper in Nauvoo empfangen wurden, wohl eher selbst vorstellen als beschreiben lassen“, schrieb sie einer Freundin. „Denn keine Feder könnte dieser Aufgabe würdevoll gerecht werden.“ Die Trauer der gesamten Stadt zu erfassen, wäre gar nicht möglich gewesen, aber Schwester Kimball versuchte, zumindest die Trauer einer Frau zu beschreiben. Am Tag nach der Ermordung besuchte sie Lucy Mack Smith und hielt deren zitternde Hand. Lucy Mack Smith schluchzte unentwegt und fragte: „Wie konnten sie meine armen Jungen umbringen? Wie konnten sie ihnen das Leben nehmen? Sie waren doch so kostbar!“
Tagebücher
Andere Schreiber verinnerlichten das Geschehene in Tagebucheinträgen; sie hielten Details zu den Märtyrertoden fest und beschrieben, wie sie damit umgingen. Anders als bei Briefen, wo es um die akute Situation und Sorge geht, bieten Tagebucheinträge auch wichtige Aspekte für künftige Generationen. Sie verleihen der Tragödie auf geistiger Ebene einen Sinn, denn oftmals suchten die Heiligen in der Bibel nach einer ähnlichen Situation oder einer Erklärung, weshalb ihre Führer umgekommen waren. Viele verglichen die Ermordung mit biblischen Geschehnissen – von dem Mord an Abel bis zur Kreuzigung Jesu Christi. Oft sahen sie Joseph und Hyrum unter den Märtyrern, „die hingeschlachet worden waren wegen des Wortes Gottes und wegen des Zeugnisses, das sie abgelegt hatten“, wie es in der Offenbarung des Johannes heißt. Daher glaubten sie auch, dass sich die beiden Brüder nun unter denjenigen befanden, die im Himmel flehten: „Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rächen?“
Auch Joseph Fielding widmete aufgrund der Geschehnisse in Carthage etliche Seiten seines Tagebuchs dem Leben, der Mission und dem Tod Joseph Smiths. Fielding schrieb, nie habe er etwas Ergreifenderes erblickt als die Ankunft der beiden Leichname. „Schon oft habe ich von den Märtyrern aus alter Zeit gelesen“, schrieb Fielding und erklärte, nun sei er selbst ein Zeuge für „zwei der größten Männer, die die Wahrheit, die sie innehatten und lehrten, mit ihrem Blut besiegelt haben“. Letzten Endes, so war er überzeugt, würden sich Joseph und Hyrum zu Recht „an die Seite derer reihen, die für Jesus Christus gestorben sind“.
Fielding erlangte jedoch nicht nur Verständnis, weil er auf die Märtyrer aus alter Zeit zurückblickte, sondern er schaute auch nach vorn auf die Zukunft des Werkes des Herrn. „Joseph und Hyrum haben alles gegeben“, schrieb er. „Sie legten die Grundlage für das große Werk der Letzten Tage.“ Fielding war fest überzeugt, dass das Werk, für das Joseph und Hyrum gelebt hatten und gestorben waren, auf dieser Grundlage „von den zwölf Aposteln vollendet werden [könne], die in allem unterwiesen worden sind, was das Reich Gottes auf Erden betrifft“.
Zina Huntington Jacobs, eine der Frauen, die an Joseph Smith gesiegelt worden waren, schrieb über den Schock, den sie beim Anblick „der leblosen, stummen Körper der beiden Märtyrer“ erlitt. „Nie hätte mein Herz geahnt, dass meine Augen einst etwas derart Schreckliches sehen würden“, fügte sie hinzu. In ihrem Tagebuch berichtete sie, welchen Verlust der Märtyrertod der Männer für deren Familie und Umfeld, ja, für die Menschheit und die Kirche bedeutete. Sie bezeichnete Joseph und Hyrum nicht nur als „den Propheten beziehungsweise den Patriarchen der Kirche der Heiligen der Letzten Tage“, sondern auch als „gütige Ehemänner“, „liebevolle Väter“, „ehrbare Staatsbürger“ und „Freunde der Menschheit“.
Die Ermordung Josephs und Hyrums war für sie ein Beweis für die Schlechtigkeit der Welt. Sie flehte in ihrem Tagebuch darum, dass Gott einst „das unschuldig vergossene Blut“ würdigen werde, und fragte: „Wie lange müssen die Witwen trauern und die Waisen weinen, bevor du auf Erden Vergeltung übst und der Schlechtigkeit Einhalt gebietest?“ Am 4. Juli, etwa eine Woche nach dem Märtyrertod, wies Schwester Jacobs darauf hin, dass dies der Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten war, und stellte das amerikanische Versprechen von Freiheit und Gerechtigkeit den brutalen Morden an den beiden Brüdern gegenüber. Sie schrieb: „Das einst edle Banner der Freiheit ist gefallen. Das stolze Land der Freiheit ist nun mit unschuldigem Blut befleckt.“
William Clayton, ein britischer Einwanderer und einer von Joseph Smiths Sekretären, befragte Willard Richards, John Taylor und weitere Augenzeugen und verfasste daraufhin in seinem Tagebuch einen sehr detaillierten Bericht über den Tod Josephs und Hyrums. Nachdem sich Clayton die Beweislage vor Augen geführt hatte, schob er die Schuld an den Morden vor allem Regierungsvertretern zu, darunter Thomas Ford, dem Gouverneur des Bundesstaates Illinois. „Er hatte sein Wort und das Wort des Staates gegeben, dass man sie vor jeder Gefahr schützen werde“, bemerkte Clayton. Dennoch hatte sich die Miliz, die Joseph und Hyrum beschützen sollte, mit dem Pöbel verbündet. Wie Zina Jacobs sah auch Clayton einen Gegensatz zwischen dem amerikanischen Ideal der Religionsfreiheit und der Lebenswirklichkeit der Heiligen. „Die Freiheit ist uns entronnen“, schrieb er. Er merkte nüchtern an, es werde am 4. Juli „keine öffentlichen Feierlichkeiten in Nauvoo“ geben. Claytons Glaube an sein Land war erschüttert – also wandte er sich Gott zu. „Von dir erhoffen wir uns Gerechtigkeit“, schrieb er.
Gedichte
Ein paar Heilige der Letzten Tage beschrieben im Kirchenblatt Times and Seasons in Form von Gedichten, wie sie mit der Situation umgingen, unter anderem versierte Dichter wie Eliza R. Snow, William W. Phelps, John Taylor und Parley P. Pratt, aber auch unbekannte Mitglieder der Kirche. Jeder Schreiber spiegelte andere Emotionen wider. In der Versdichtung „Preiset den Mann“ beschrieb William W. Phelps Josephs Vermächtnis und die Arbeit, die nun auf der anderen Seite des Schleiers auf ihn wartete. In dem Gedicht „O Give Me Back My Prophet Dear“ brachte John Taylor seine Sehnsucht zum Ausdruck, die er nach dem Verlust der beiden geliebten Brüder und Führer verspürte. Diese beiden und auch weitere Gedichte wurden als Liedtexte veröffentlicht, die man zu bekannten Melodien singen konnte; ein paar wurden sogar ins Gesangbuch der Kirche aufgenommen und werden auch heute noch gesungen.
Viele Dichter brachten ihre Trauer und Entrüstung angesichts der Morde zum Ausdruck, zogen aber auch einen Vergleich zu Märtyrern aus alter Zeit – sogar zu Jesus Christus. In der Ausgabe der Times and Seasons vom 1. Juli 1844, in der auch die Ermordung kundgetan wurde, schrieb Eliza R. Snow in einem Gedicht:
Zion trauert in großer Seelennot:
Der Prophet und der Patriarch sind tot!
Nichts Schwärzeres auf dieser Welt geschah
seit der Gräueltat einst auf Golgota.
Vereint im Leben, vereint am End,
eine stärkere Freundschaft niemand kennt;
bis zum Tode wahrten sie Treue und Mut,
Leitartikel
Während viele Heilige ihre Gefühle zur Tragödie in Briefen, Tagebucheinträgen und Gedichten zu Papier brachten, fühlten sich auch die Führer und Vertreter der Kirche verpflichtet, in Leitartikeln vom Tod der Brüder zu berichten und dazu Stellung zu nehmen. Auf diese Weise wollten sie alle Heiligen auf den neuesten Stand bringen und ihnen Trost zusprechen. Am 1. Juli setzten die Apostel Willard Richards und John Taylor, die beim Angriff des Pöbels bei den Brüdern im Gefängnis zu Carthage gewesen waren, ihren Namen unter ein Schreiben von William W. Phelps, dem Herausgeber der Times and Seasons. Darin baten sie die Heiligen der Letzten Tage eindringlich, „den Glauben, der ihnen in den Letzten Tagen überbracht worden war, zu bewahren“. Auch sie reihten Joseph und Hyrum unter die vielen Märtyrer aus der Bibel ein. Die drei Männer erklärten den Mitgliedern der Kirche: „Der Mord an Abel, die Ermordung Hunderter, das rechtschaffene Blut aller heiligen Propheten von Abel bis Joseph – all dies ist mit dem vollkommenen Blut des Sohnes Gottes als scharlachrotes Zeichen der Sündenvergebung begossen und bringt nunmehr aller Menschheit Gewissheit, dass die Sache gerecht ist und vorangehen wird. Gesegnet sind diejenigen, die treu bis ans Ende ausharren!“
In der darauffolgenden Ausgabe der Times and Seasons veröffentlichte Phelps einen längeren Leitartikel über die Morde. Darin enthalten waren auch die Worte, die Joseph gesprochen hatte, bevor er nach Carthage aufgebrochen war: „Ich gehe wie ein Lamm zum Schlachten, aber ich bin so ruhig wie ein Sommermorgen; mein Gewissen ist frei von Schuld gegenüber Gott und gegenüber allen Menschen. Ich werde unschuldig sterben.“ Phelps berichtete außerdem: „Joseph letzter Ausruf lautete: ,O Herr, mein Gott!‘“ Zur etwa gleichen Zeit wie Phelps’ Leitartikel schrieb auch Willard Richards einen ausführlichen Bericht über die Morde. Darin wurden erstmals die letzten Worte Hyrums genannt: „Ich bin des Todes!“ Richards’ Bericht wurde am 24. Juli 1844 in der Tageszeitung von Nauvoo veröffentlicht.
Das Buch Lehre und Bündnisse
Viele Außenstehende mutmaßten, nach der Ermordung Josephs und Hyrums würde die Kirche nun zerfallen – doch trotz ihres Todes ging das Werk der Kirche voran. In den letzten beiden Lebensjahren Josephs hatten die Führer der Kirche an einer neuen Ausgabe des Buches Lehre und Bündnisse gearbeitet und kurz vor dem Tod von Joseph und Hyrum bekanntgegeben, die Ausgabe werde Mitte Juli 1844 erscheinen.
Trotz der Unruhe vor und nach den Geschehnissen im Gefängnis zu Carthage wurde die Veröffentlichung nur zeitweilig aufgeschoben. Bereits kurz nach dem Märtyrertod beschloss man, die Ausgabe zu drucken, jedoch einen abschließenden Abschnitt hinzuzufügen, damit das Buch mit einer Stellungnahme zum Tod der beiden endete. Diese Stellungnahme wurde vermutlich im Juli oder August verfasst, die Ausgabe bereits im September gedruckt und vertrieben. Man betitelte die Stellungnahme als „Der Märtyrertod von Joseph Smith und Hyrum Smith“; mittlerweile ist sie Teil des Schriftenkanons und bildet Lehre und Bündnisse 135.
Bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts vermuten Kommentatoren und Führer der Kirche, dass die Stellungnahme von John Taylor verfasst wurde, damals Apostel und Leiter der Druckerei. Allerdings wurde ihm dieser Abschnitt zu Lebzeiten nie zugeschrieben; möglicherweise wurde die Stellungnahme auch von Richards oder Phelps verfasst oder von jemand anders, der regelmäßig über die Druckerei in Nauvoo Artikel veröffentlichte. Aber unabhängig davon, wer der Verfasser nun war, beruhte die Stellungnahme ohnehin vor allem auf den Augenzeugenberichten von Taylor und Richards und enthielt Zitate aus Leitartikeln und Schreiben der Kirche, an denen die beiden beteiligt gewesen waren. Wie in diesen bereits veröffentlichten Berichten ging es auch in der Stellungnahme vor allem um den Märtyrertod, um Unschuld und um das Strafgericht Gottes – Themen, die auch in den privaten Niederschriften der Mitglieder immer wieder zum Vorschein kamen.
Der Band war zwar noch nicht gedruckt, jedoch schon gesetzt; damit die Stellungnahme also hineinpasste, mussten die Drucker sie in einer weitaus kleineren Schriftgröße als den übrigen Band setzen und auf den anderthalb leeren Seiten zwischen dem vorherigen Abschnitt und dem Stichwortverzeichnis unterbringen. Damit stach die Stellungnahme aus dem Buch Lehre und Bündnisse geradezu heraus, verbreitete sich schnell und wurde viel zitiert. Heute gilt sie als offizieller Nachruf auf Joseph Smith und seinen Bruder Hyrum.