Frieden und Krieg
Ein paar Tage vor dem Weihnachtsfest 1832 suchten die Heiligen in Kirtland daheim vor der kalten, feuchten Luft Schutz und wärmten sich im Lichte ihres Kaminfeuers, als sie in ihrer Tageszeitung Painesville Telegraph alarmierende Neuigkeiten lasen. 1100 Kilometer südlich hatte die gesetzgebende Versammlung des US-Bundesstaats South Carolina die von der Bundesregierung der Vereinigten Staaten eingeführten Schutzzölle auf importierte Güter für null und nichtig erklärt. Dies führte zur sogenannten Nullifikationskrise, die das Recht der Bundesregierung anfocht, ihre Gesetze durchzusetzen. Krieg braute sich zusammen.1
Die Einfuhrzölle hatten vor allem die Hersteller in den Nordstaaten vor der Konkurrenz aus dem Ausland schützen sollen, die Farmer in den Südstaaten empfanden sie jedoch als ungerecht. Weshalb sollten sie mehr zahlen müssen, wenn diese Waren in ihrer Region überhaupt nicht hergestellt wurden?2 US-Präsident Andrew Jackson gab öffentlich bekannt, wenn sich South Carolina weigere, die Schutzzölle zu zahlen, sei dies als Aufstand zu sehen, der in Blutvergießen enden könne. Prompt bereitete sich South Carolina auf einen Krieg vor.3 Ein Kompromiss war nirgends in Sicht. In den Zeitungsartikeln, die die Heiligen in Kirtland lasen, ertönten die Kriegstrommeln: „Sollte auch nur ein Bajonett der Bundesregierung bedrohlich an unserer Grenze aufblitzen“, hieß es in einem Bericht, „dann führen zwei souveräne Staaten gegeneinander Krieg“.4
Die Offenbarung am 1. Weihnachtstag
Auch Joseph Smith verfolgte den Konflikt über die Zeitungen in Kirtland aufmerksam. In seinen geschichtlichen Aufzeichnungen machte er eine Bemerkung über die Bürger von South Carolina, die „ihren Staat als frei und unabhängig erklärten“, und hielt fest, dass sich Präsident Jackson „gegen diesen Aufstand öffentlich aussprach“.5 Anschließend fügte Joseph die sogenannte „Kriegsprophezeiung“ bei – eine Offenbarung, die er seinem Sekretär Frederick G. Williams am 25. Dezember 1832 diktiert hatte, nur wenige Tage nach den erschreckenden Nachrichten in den Kirtlander Zeitungen. Diese Offenbarung bildet heute Lehre und Bündnisse 87.
Präsident Jackson wird in dieser Kriegsprophezeiung nicht namentlich erwähnt, aber seine an Bedingungen geknüpften Ankündigungen schienen dadurch unabwendbar. Er hatte einen bewaffneten Konflikt vorhergesagt, sollte South Carolina weiterhin auf der eigenen Souveränität beharren. Laut Präsident Jackson hatte South Carolina durch sein Vorgehen erklärt: „Wir entstellen Frieden und Wohlstand, wir unterbinden freies Handeln, wir überschwemmen das fruchtbare Land mit Blut.“6 Sollte South Carolina jedoch nachgeben, konnte das Blutbad vermieden werden. Nahm man allerdings Joseph Smiths Prophezeiung, stand das Blutvergießen bereits fest. „Die Kriege, die in Kürze eintreten werden, die mit der Auflehnung von South Carolina anfangen“, so heißt es dort, „[werden] schließlich mit dem Tod und Elend vieler Seelen enden.“7 Eine friedliche Lösung gab es laut der Offenbarung also nicht.
Nicht zum ersten Mal ging es in einer Offenbarung Joseph Smiths um Zerstörung. Der Herr hatte bereits vor Zeiten gewarnt, da Hungersnot, Seuchen und Stürme über die Bewohner der Erde hereinbrechen sollten.8 Da in den Offenbarungen viel Zerstörung für die Zeit vor dem Zweiten Kommen des Herrn angekündigt wurde und in den Offenbarungen immer wieder von Zerstörung die Rede war, schlossen viele Mitglieder der Kirche daraus, das Zweite Kommen stünde unmittelbar bevor.9
Die Erwartung, dass das Zweite Kommen nicht fern sei, wurde durch Lehre und Bündnisse 87 noch verstärkt. In anderen Offenbarungen wurde kein konkreter Zeitpunkt und Ort für die Zerstörung genannt. Dort heißt es lediglich: „Ehe dieser große Tag kommt“ (also das Zweite Kommen), käme es zu Zerstörung, und zwar unter „alle[n] Nationen“.10 Man werde „in euren eigenen Ländern“ und „in fremden Ländern“ von Kriegen und Kriegsgerüchten hören.11 Im Gegensatz dazu ging es in Lehre und Bündnisse 87 um Zerstörung an bestimmten, bekannten Orten aufgrund bestimmter Ereignisse: Der Aufstand in South Carolina wurde schließlich spezifisch erwähnt. In dem Konflikt ging es um mehr als einen Krieg zwischen zwei Staaten. Auch würden sich unterdrückte Gruppen – „Sklaven“ und „die Überreste“ – gegen ihre Sklavenhalter und Herren auflehnen.12
Der Verweis auf die Sklaven rückte Lehre und Bündnisse 87 direkt in die Auseinandersetzung um die Macht der US-Regierung. Im Vorfeld der Krise hatte South Carolina nämlich behauptet, die Schutzzölle der Bundesregierung zielten bewusst darauf ab, die vornehmlich im amerikanischen Süden auf Sklavenarbeit gründende Landwirtschaft zu untergraben. Die Staaten, die von den Schutzzöllen profitieren würden, darunter auch Ohio, hatten nämlich die Sklaverei für illegal erklärt. In der Kriegsprophezeiung von Joseph Smith wurde diese geopolitische Spaltung angesprochen und mit dem Krieg verbunden, der unweigerlich folgen sollte: „Die Südstaaten werden sich gegen die Nordstaaten abspalten, und die Südstaaten werden andere Nationen anrufen, ja, die Nation Großbritannien.“13 Damals, 1832, war Europas Textilindustrie auf die Baumwolle aus den Südstaaten der USA angewiesen. Großbritannien war also ein denkbarer Verbündeter in der Sache South Carolinas.
Abwendung der Krise
Zur großen Überraschung aller endete die Nullifikationskrise jedoch, kaum dass sie begonnen hatte. Im Februar 1833 leitete Präsident Jackson einen Kompromiss in die Wege. Er senkte die Schutzzölle und setzte damit die Rechte der Bundesregierung durch, kam aber auch den Forderungen der Abtrünnigen entgegen, die auf die Rechte ihres Bundesstaates pochten. Die Krise wurde abgewendet, Frieden kehrte wieder ein, und Präsident Jackson sonnte sich in seinem wohl größten Triumph als US-Präsident.14
Jeder, abgesehen von den ärgsten Unruhestiftern, freute sich über die friedliche Lösung. Als Nachfolger Christi lag Joseph Smith Frieden und Kompromissbereitschaft am Herzen, und er freute sich auf die Wiederkehr des Fürsten des Friedens und dessen tausendjährige Friedensherrschaft. Die schlimmen Vorhersagen in der Kriegsprophezeiung waren ja offenbar direkt mit den gegenwärtigen Ereignissen verknüpft, und das muss Joseph verwundert haben. Es hatte keinen Tod und kein Elend vieler Seelen gegeben. Zwar spaltete die Frage der Sklaverei die Südstaaten nach wie vor von den Nordstaaten, doch hatten sich weder die Sklaven gegen ihre Herren aufgelehnt noch hatte South Carolina Großbritannien um Hilfe gebeten.15 Wer 1833 eine Erfüllung der Offenbarung erwartete, wurde enttäuscht.
Joseph Smith schien hinsichtlich der Verbreitung seiner Kriegsprophezeiung Zurückhaltung an den Tag zu legen. Schon vor Abwendung der Krise hatte er zu einem Zeitungsredakteur gesagt: „[Ich bin sicher], dass nicht viele Jahre vergehen, bevor die Vereinigten Staaten ein solches Blutvergießen erleben, wie es in der Geschichte unseres Landes noch nicht stattgefunden hat.“16 Genauer äußerte er sich dazu jedoch nicht, und wenn er sich äußerte oder eine Predigt hielt, erwähnte er South Carolina nicht. Als die Offenbarungen 1835 zusammengestellt und veröffentlicht werden sollten, behielt Joseph Smith Lehre und Bündnisse 87 zurück. Nach dem friedlichen Ende der Nullifikationskrise schien es besser, die Offenbarung zu Josephs Lebzeiten nicht mehr zu erwähnen.17
Was vorangegangene Offenbarungen betraf, hatte Joseph keinerlei Zweifel. Die Stimme Gottes hatte durch ihn gesprochen, und diese Worte hatten sich erfüllt. Er muss sich gefragt haben, ob diese Offenbarung etwa eine falsche Prophezeiung war. Und falls die Prophezeiung stimmte, was erwartete Gott von Joseph jetzt, da, zumindest vorläufig, Frieden eingekehrt war?
Heilige Stätten
Lehre und Bündnisse 87 führte bei Joseph Smith nicht zu einer radikalen Veränderung seiner Lebenseinstellung. Er versteckte sich nicht in einem Schutzbunker oder verschwand aus der Öffentlichkeit und wartete das Ende aller Dinge ab. Schon vor Präsident Jacksons erfolgreicher Abwendung der Krise, als ein Krieg noch wahrscheinlich war, eröffnete Joseph in aller Ruhe eine Schule für Älteste, die sich bald als Missionare in die Welt aufmachen sollten. Die von Joseph so bezeichnete „Schule der Propheten“ bestand aus einer Gruppe männlicher Mitglieder der Kirche, die regelmäßig in Newel K. Whitneys Vorratshaus in Kirtland zusammenkam.
In dieser Schule unterwies Joseph seine Schüler darin, wie man „im Namen Gottes spricht“.18 Er legte den Männern ans Herz, sich zu läutern, damit der Geist Gottes ihnen helfen konnte, Auserwählte zu finden und im Evangelium zu unterweisen. Wer das Wort der Weisheit hielt, so Joseph, sollte laufen und nicht ermüden und gehen und nicht ermatten.19 Präsident Jackson verhinderte Zerstörung durch diplomatisches Verhalten. Joseph hingegen erklärte, man könne den „zerstörenden Engel“ durch ein rechtschaffenes Leben abwenden.20
Joseph scheute sich zu keiner Zeit, die Welt vor dem bevorstehenden Unheil zu warnen. Dies war jedoch nie die Kernaussage seiner Botschaft. Er war kein Untergangsprophet, der stets nur Elend und Weh vorhersagte.21 Am Ende von Abschnitt 87 erklärte der Herr den Heiligen, wie man mit solch beunruhigenden Prophezeiungen umgehen soll. Sie sollten nämlich nicht in Angst leben oder ihre derzeitigen Aufgaben aufgeben, sondern an heiligen Stätten stehen und nicht wanken.22
Ein paar Tage, nachdem Joseph Smith Lehre und Bündnisse 87 empfangen hatte, empfing er eine weitere Offenbarung. Darin gebot der Herr den Heiligen, in Kirtland einen Tempel zu errichten (Lehre und Bündnisse 88). Wie schon in der Kriegsprophezeiung war auch in dieser Offenbarung von künftiger Zerstörung die Rede. Es ging jedoch auch um ein wichtiges Werk, das die Heiligen vollbringen sollten. Sie durften nicht wartend herumsitzen und auf die Wiederkehr Christi warten, während die Welt um sie zerfiel; auch sollten sie nicht nur wie ein Untergangsprophet umherziehen und predigen. Sie sollten neue Gebäude und Einrichtungen errichten, neue „heilige Stätten“. Wie immer befolgte Joseph die Offenbarung und eröffnete die Schule der Propheten, wie es ihm in der Offenbarung aufgetragen worden war. Später im Sommer nahm er den ersten Spatenstich für den Tempel vor.
Bis zum Ende seines Lebens waren es vor allem die „heiligen Stätten“ – die Tempel und Schulen –, denen er seine Aufmerksamkeit widmete. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, sich nicht allzu sehr auf diplomatisches Handeln zu verlassen, wie Andrew Jackson es getan hatte. Da die Heiligen ständig vertrieben wurden, war sich Joseph bewusst, wie zerbrechlich der Frieden sein konnte. Die Heiligen konnten jedoch auch inmitten von Konflikten stets Frieden finden, wenn sie neue heilige Stätten schufen und bewohnten.
Der Ausgang der Geschichte
Drei Jahrzehnte nachdem Lehre und Bündnisse 87 empfangen worden war, lehnte sich South Carolina erneut auf, überzeugt davon, dass Abraham Lincolns Wahl zum US-Präsidenten die Sklaverei bedrohte. Die gesetzgebende Versammlung des Bundesstaates stimmte dafür, sich von den Vereinigten Staaten zu lösen. South Carolinas Entscheidung führte zum Krieg zwischen den Nord- und den Südstaaten. Es kam zu viel Tod und zu viel Elend. Die Südstaaten baten Großbritannien um Hilfe. Die Sklaven lehnten sich gegen ihre Herren auf. Die Heiligen hingegen hatten im Westen ein neues Zuhause inmitten der Berge gefunden und arbeiteten fleißig am Fundament einer weiteren heiligen Stätte – dem Salt-Lake-Tempel.