„Der Mensch war auch im Anfang bei Gott“
Von Ende Januar bis April 1833 nahmen Joseph Smith und 15 bis 20 weitere Männer in Newel K. Whitneys Laden in Kirtland in Ohio an der Schule der Propheten teil. In ihren Zusammenkünften sangen und beteten sie und beschäftigten sich mit einer Vielzahl von Themen, die vom Alltäglichen bis zum Heiligen reichten. Auch übten sie geistige Gaben aus. Bei einer solchen Versammlung – sie fand am 27. Februar statt, an dem Tag, als auch das Wort der Weisheit offenbart wurde – wurde David W. Patten vom Heiligen Geist dazu bewegt, ein Lied in einer unbekannten Sprache zu singen. Einer der Anwesenden, vielleicht Sidney Rigdon, übersetzte Pattens Lied für die anderen. In dem Lied ging es um Henochs Vision, wie sie in Joseph Smiths überarbeiteter Version von Genesis zu finden ist.1
Wahrscheinlich waren die meisten Männer in der Schule mit Henochs Vision vertraut. Sie war etwa zwei Jahre zuvor niedergeschrieben und in der (von der Kirche in der Anfangszeit herausgegebenen) Zeitung Evening and Morning Star veröffentlicht worden. Die Vision bot einen eindrucksvollen Überblick über die Menschheitsgeschichte. Den Worten des übersetzten Liedes von Patten zufolge wurde Henoch gezeigt, „was geschehen war, was damals war, was jetzt ist und was kommt“.2 Die Vision gab den Mitgliedern der Kirche auch erste Einblicke in die Vorstellung von einem vorirdischen Dasein.3 Der Herr hatte dem Propheten vor alters gesagt: „Ich habe die Welt gemacht und die Menschen, ehe sie im Fleische waren.“ (Mose 6:51.) Die Übersetzung des Liedes im Schulraum war ein Widerhall des offenbarten Textes: „Er sah die Zeit, als Adam, sein Vater, geschaffen ward, und er sah, dass er in Ewigkeit war, noch ehe ein Staubkorn gewogen ward.“4
Joseph Smiths Überarbeitungen der Bibel, darunter auch der Bericht über Henochs Vision, enthielten tiefgehende Gedanken über das vorirdische Leben und die Beziehung des Menschen zu Gott. Sie wurden aber lediglich angedeutet, nicht ausführlich erklärt. In dem übersetzten Lied kann man die Begeisterung spüren, die die Mitglieder in der Anfangszeit der Kirche empfanden, wenn sie darüber nachdachten, was diese Andeutungen bedeuten könnten. Wir können aber nur Vermutungen darüber anstellen, welche Fragen diese Andeutungen bei Joseph Smith und den anderen Brüdern in der Schule ausgelöst haben könnten.
Am 6. Mai, ein paar Wochen nachdem die Schule wegen der warmen Jahreszeit vertagt worden war, empfing Joseph Smith eine Offenbarung, aus der weitere Einzelheiten über ein vorirdisches Dasein hervorgingen. Diese Offenbarung, die heute Lehre und Bündnisse 93 bildet, wich von den traditionellen christlichen Ansichten über das Wesen des Menschen ab und eröffnete einen überraschenden neuen Blick auf unsere vorirdische Vergangenheit, unser zukünftiges Potenzial und unsere Beziehung zu Gott.
Seit dem fünften Jahrhundert hatte die christliche Orthodoxie einen fast unüberwindbaren Abgrund zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen verkündet.5 Christen fingen an zu glauben, die Menschheit sei aus dem Nichts erschaffen worden. Gott sei kein Meister, der bereits existierende Materie gestalte, sondern sei völlig anders als seine Geschöpfe – geheimnisvoll und unbegreiflich. Die biblische Beschreibung einer Eltern-Kind-Beziehung zwischen Gott und uns wurde weithin als Metapher und nicht als buchstäbliche Verwandtschaft verstanden. Eine andere Ansicht setze Gott, so die Meinung der meisten christlichen Denker, auf lästerliche Weise herab und erhöhe den Menschen auf gefährliche Weise.
Die Offenbarung vom 6. Mai war kühn und neu, aber doch auch sehr alt und vertraut. Wie bei vielen Offenbarungen an Joseph Smith wurden auch hier verlorene Wahrheiten wiederentdeckt, die Menschen aus der Bibel – in diesem Fall Johannes dem Täufer – offenbar bekannt gewesen waren. Aus ihr ging hervor, dass so wie Christus „im Anfang beim Vater“ war, auch „der Mensch … im Anfang bei Gott“ war. Sie verwarf die lang gehegte Vorstellung einer Schöpfung aus dem Nichts: „Intelligenz oder das Licht der Wahrheit wurde nicht erschaffen oder gemacht und kann es auch gar nicht.“6
Die Offenbarung vermittelte zusätzliche Erkenntnis über Gott und das Wesen des Menschen. Wie im Buch Mormon und in David Pattens Lied wird Wahrheit als „Kenntnis von etwas, wie es ist und wie es war und wie es kommen wird“ definiert. Diese Einblicke in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurden gegeben, „damit ihr versteht und wisst, wie ihr anbeten sollt, und wisst, was ihr anbetet“.7 In der Offenbarung geht es insbesondere um Gottes Vergangenheit und um die möglicherweise herrliche Zukunft des Menschen. Joseph Smith wurde gesagt, dass Jesus Christus sich fortentwickelt hatte, bis er wie sein Vater geworden war. „Er empfing zuerst nicht von der Fülle, sondern ging von Gnade zu Gnade, bis er [die Fülle seines Vaters] empfing.“ Ebenso hat der Mensch göttliches Potenzial. Männer und Frauen, die Gottes Gebote halten, empfangen „Gnade um Gnade“, bis auch sie „von seiner Fülle empfangen und in mir verherrlicht werden wie ich im Vater“.8 Durch diese flüchtigen Einblicke in „Dinge, wie sie wirklich sind“, wurde das Verständnis der Beziehung zwischen Gott und seinen Kindern wiedererlangt, das die Menschen vor alters gehabt hatten. Die gähnende Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf, die die Mormonen von der christlichen Überlieferung her kannten, verringerte sich.
Joseph Smith dachte den Rest seines Lebens über die Bedeutung und Tragweite dieser ihm offenbarten erstaunlichen Lehren nach. Jahre später in Nauvoo ging er in seiner letzten Konferenzpredigt am ausführlichsten auf diese Wahrheiten ein. Er gab die Worte der Offenbarung wieder und erklärte, dass Männer und Frauen wie Gott ewig sind und wie Gott werden können, indem sie „von einer geringeren Fähigkeit zur größeren schreiten“, bis sie schließlich „in einer ewigen Glut“ leben. Mit einer Gewissheit, wie sie nur einer Offenbarung entspringen kann, verkündete er: „Die Seele, der Sinn des Menschen, woher kommt sie? Der Gelehrte behauptet, Gott habe sie zu Beginn erschaffen, aber dem ist nicht so. Ich weiß es besser. Gott hat es mir mitgeteilt.“9