Geschichte der Kirche
Kapitel 13: Erben der Errettung


„Erben der Errettung“, Kapitel 13 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2021

Kapitel 13: Erben der Errettung

Kapitel 13

Erben der Errettung

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Der Erretter erscheint in der Geisterwelt

Im Januar 1917 reiste Susa Gates nach New York, um ihre kranke Freundin Elizabeth McCune zu besuchen, die mit ihr gemeinsam im Hauptausschuss der Frauenhilfsvereinigung tätig war. Elizabeth und ihr Mann Alfred waren in diesem Winter nach New York gezogen, damit Alfred in der Stadt seinen Geschäften nachgehen konnte. Als Susa von der Krankheit ihrer Freundin erfahren hatte, war sie sofort angereist, um sie zu betreuen. Doch bei Susas Eintreffen war Elizabeth schon auf dem Weg der Genesung. Trotzdem drängte sie Susa, zu bleiben und ihr Gesellschaft zu leisten. Dort konnte Susa auch in den städtischen Bibliotheken ihre genealogischen Forschungen betreiben, die mittlerweile den Großteil ihres Dienstes in der Kirche ausmachten.

Fünfzehn Jahre zuvor war Susa in Dänemark schwer erkrankt, als sie an einer Sitzung des Internationalen Frauenrats teilgenommen hatte. Sie bat um einen Segen von Apostel Francis Lyman, dem damaligen Präsidenten der Europäischen Mission. Er gab ihr den Segen, sie brauche den Tod nicht zu fürchten, und verhieß ihr, dass sie in der Geisterwelt ein Werk zu tun habe. Doch in der Mitte des Segens hielt er für etwa zwei Minuten inne. „Es ist ein Rat im Himmel abgehalten worden“, sagte er schließlich zu Susa, „und es ist beschlossen worden, dass du am Leben bleiben sollst, um Tempelarbeit zu verrichten, und du sollst ein größeres Werk vollbringen als jemals zuvor.“1

Nach ihrer Genesung hatte sich Susa der Genealogie und der Tempelarbeit gewidmet. Sie engagierte sich in der Genealogischen Gesellschaft von Utah, einer von der Kirche geführten Organisation, die gegründet worden war, nachdem Wilford Woodruff im Jahr 1894 eine Offenbarung über die Siegelungen im Tempel erhalten hatte. Sie begann, im Salt-Lake-Tempel zu arbeiten, Kurse zur Ahnenforschung abzuhalten und für die Deseret Evening News eine wöchentliche Kolumne über Familiengeschichte zu schreiben.

Als Susa und Elizabeth McCune im Jahr 1911 Mitglieder des FHV-Hauptausschusses wurden, machten sie Genealogie und Tempelarbeit für die Frauen der Kirche zu einem neuen Schwerpunkt. Sie besuchten Gemeinden und Zweige in den Vereinigten Staaten und Kanada und schulten die Heiligen darin, wie sie ihre Abstammungslinie erforschen konnten. Susa verfasste für das Relief Society Magazine, die Zeitschrift der Frauenhilfsvereinigung, auch Schulungskurse zur genealogischen Forschung, und vom Hauptausschuss war sie gebeten worden, ein Nachschlagewerk zu verfassen, das den Heiligen bei der Ahnenforschung helfen sollte.2

Während ihres Aufenthalts in New York recherchierte Susa in der Bibliothek auch die Namen der Familie McCune. Und sie gab ihr Bestes, Elizabeth all die Liebe und Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, derer sie fähig war.

Am Tag bevor Susa nach Hause zurückkehren sollte, fühlte sich Elizabeth gut genug, um an einer FHV-Versammlung im Hauptsitz der Oststaaten-Mission in der Stadt teilzunehmen. Susa sprach zu den Frauen über Ahnenforschung. In New York gab es nur wenige weibliche Heilige der Letzten Tage, doch Susa verspürte unter ihnen sehr stark den Heiligen Geist.3

Auf der Rückreise machte Susa in zwei weiteren Städten Halt, um die Heiligen zu besuchen. Nach einer Versammlung sprach ein Zweigpräsident sie an, um ihr ein Kompliment zu machen. „Ich freue mich immer über die Zeugnisse der alten Menschen“, beteuerte er, „ich höre liebend gern zu, wenn die Alten über ihre Erfahrungen sprechen.“

Susa musste innerlich lachen. „Du bist also ein alter Mensch, Susa, hörst du?“, dachte sie bei sich. Sie war sechzig Jahre alt, aber sie hatte noch viele Jahre vor sich – und auch noch sehr viel Arbeit.4


„Wir leben in schwierigen Zeiten“, stellte Joseph F. Smith fest, als er die Generalkonferenz der Kirche im April 1917 eröffnete. Die Zeitungen in ganz Utah waren voll alarmierender Berichte über deutsche Aggressionen gegen die Vereinigten Staaten.5 In den vergangenen zweieinhalb Jahren hatten sich die Vereinigten Staaten im Krieg neutral verhalten. Aber Deutschland hatte vor kurzem seine Politik einer uneingeschränkten U-Boot-Kriegsführung erneuert, was amerikanische Schiffe angreifbar machte. Deutsche Regierungsvertreter hatten sich zudem auch um ein Bündnis mit Mexiko bemüht, wodurch der Weg frei gewesen wäre, die Vereinigten Staaten von Süden her anzugreifen. Daraufhin hatte der Kongress der Vereinigten Staaten Präsident Woodrow Wilson ermächtigt, Deutschland den Krieg zu erklären.6

Als Präsident Smith am Pult des Tabernakels in Salt Lake City stand, war ihm bewusst, dass viele der anwesenden Heiligen besorgt und verunsichert waren. Er rief sie dazu auf, nach Frieden, Glück und dem Wohlergehen der Menschheit zu streben. „Wenn wir heute unsere Pflicht tun, als Mitglieder der Kirche und als Bürger unseres Staates“, sagte er, „brauchen wir nicht groß zu fürchten, was morgen kommen mag.“7

Noch am selben Tag erklärte Präsident Wilson offiziell den Krieg. Schon bald meldeten sich fast fünftausend junge Männer aus Utah, von denen die meisten Heilige der Letzten Tage waren, zum Wehrdienst.8 Viele Frauen in der Kirche traten dem Roten Kreuz bei, um im Krieg als Krankenschwester auszuhelfen. Amerikanische Mitglieder, die nicht bei den Streitkräften dienen konnten, unterstützten ihr Land anderweitig, zum Beispiel durch den Kauf sogenannter „Liberty Bonds“, also Kriegsanleihen, die von der Regierung ausgegeben wurden, um den Krieg zu finanzieren. Elizabeths Tochter Betty McCune lernte Autofahren und KFZ-Wartung und fuhr dann einen Krankenwagen. Elder B. H. Roberts von den Siebzigern meldete sich als einer von drei Militärseelsorgern der Heiligen der Letzten Tage.9

Kurz nach der Generalkonferenz reiste Joseph F. Smith nach Hawaii und beobachtete den Fortschritt beim Bau des Tempels in Laie. Unter der Leitung der Vorarbeiter Hamana Kalili und David Haili hatten die Arbeiter bereits das Äußere des Tempels fertiggestellt und waren nun bei den Innenarbeiten. Der aus Stahlbeton und Lavagestein aus den nahegelegenen Bergen errichtete Hawaii-Tempel war kreuzförmig angelegt und hatte keinen Turm. Die Bildhauer Leo und Avard Fairbanks aus Utah hatten Zementskulpturen gegossen, die Szenen aus den heiligen Schriften darstellten und die nun die Außenfassade des Gebäudes zierten.10

Im Oktober, einen Monat vor seinem neunundsiebzigsten Geburtstag, gestand der Prophet den Heiligen ein, dass er sich langsam alt fühle. „Ich glaube, ich bin im Geiste so jung wie nie zuvor“, meinte er, „aber mein Körper wird müde, und ich muss sagen, manchmal zittert mein armes altes Herz ganz gewaltig.“11

Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich gegen Ende des Jahres weiter, und ab Anfang 1918 suchte er regelmäßig einen Arzt auf. Etwa zur gleichen Zeit erkrankte auch sein Sohn Hyrum. Sechzehn Monate waren seit dem Ende von Hyrums Amtszeit als Präsident der Europäischen Mission vergangen, und während dieser Zeit war er stets gesund und kräftig gewesen. Doch nun war Joseph um sein Wohlergehen besorgt. Hyrum hatte immer einen besonderen Platz in seinem Herzen eingenommen, und Joseph empfand große Freude an dem Dienst und der Hingabe seines Sohnes dem Herrn gegenüber. Hyrum erinnerte Joseph an seinen eigenen Vater, den Patriarchen Hyrum Smith.12

Hyrums Erkrankung verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Er hatte starke Schmerzen im Unterleib, was für eine Blinddarmentzündung sprach. Seine Freunde drängten ihn, sich im Krankenhaus operieren zu lassen, doch er weigerte sich. „Ich habe das Wort der Weisheit gehalten“, sagte er, „also wird der Herr für mich sorgen.“

Am 19. Januar wurden die Schmerzen nahezu unerträglich. Hyrums Frau Ida benachrichtigte Joseph sofort, der inständig um die Genesung seines Sohnes betete. Die Apostel Orson F. Whitney und James E. Talmage besuchten Hyrum an seinem Krankenbett und blieben nachts bei ihm. Er wurde auch von einer Reihe von Ärzten und Fachärzten, darunter auch von Josephs Neffen Dr. Ralph T. Richards, betreut.

Nachdem Dr. Richards den Patienten untersucht hatte, war er der Meinung, dass Hyrum zu lange zugewartet habe, und er flehte ihn an, ins Krankenhaus zu gehen. „Die Chancen stehen nur eins zu tausend, wenn du jetzt gehst“, warnte er Hyrum. „Gehst du also?“

„Ja“, antwortete Hyrum.13

Im Krankenhaus machten die Ärzte zwei Röntgenaufnahmen und beschlossen, Hyrums Blinddarm zu entfernen. Während des Eingriffs entdeckte Dr. Richards, dass der Blinddarm bereits geplatzt war und sich in Hyrums Unterleib giftige Bakterien verteilt hatten.

Hyrum überlebte den Eingriff, aber Joseph selbst war schwach vor Angst, konnte am Nachmittag gar nicht aufstehen und vermochte keinen Bissen zu essen. Hyrum schien an diesem Abend neue Kraft zu bekommen, was Josephs Stimmung aufhellte. Erfüllt von Dankbarkeit und Erleichterung, kehrte er zu seinen Pflichten als Präsident der Kirche zurück.

Drei Tage nach Hyrums Operation erhielt Joseph einen Telefonanruf aus dem Krankenhaus. Trotz vieler Gebete und der sorgfältigen Arbeit der Ärzte war Hyrum gestorben. Joseph war fassungslos. Er brauchte Hyrum, und auch die Kirche brauchte Hyrum. Warum war sein Leben nicht verschont worden?

Überwältigt von Kummer, schrieb Joseph seine quälenden Gedanken in sein Tagebuch. „Meine Seele ist zerrissen“, schrieb er. „Was soll ich jetzt nur tun? Oh! Was kann ich nur tun? Meine Seele ist zerrissen, und mein Herz gebrochen. Oh! Gott, hilf mir!“14


In den Tagen nach Hyrums Tod trauerte die gesamte Familie Smith. Es gab Heilige, die seine Entscheidung, nicht sofort ins Krankenhaus zu gehen, kritisierten. „Wenn er gegangen wäre, als es ihm mitgeteilt wurde“, sagten einige, „hätte er vielleicht überlebt.“ Der Präsidierende Bischof Charles Nibley, ein enger Freund der Familie, stimmte dem zu. Hyrums Glaube an das Wort der Weisheit sei gut gemeint gewesen, schrieb er, aber der Herr habe auch dafür gesorgt, dass es Männer und Frauen gäbe, die sich der Wissenschaft verschrieben hätten und für das Wohlergehen des Körpers zu sorgen vermochten.15

Auf der Suche nach Trost versammelte sich die gesamte Familie Smith im Beehive House, dem früheren Zuhause von Brigham Young, das nun Joseph F. Smith bewohnte. Das Beisammensein nahm den Angehörigen etwas von ihrer Traurigkeit und gab der Familie die Gelegenheit, sich das ehrenhafte und treue Leben von Hyrum in Erinnerung zu rufen. Doch sein Tod hatte alle fassungslos gemacht.16

Seine Witwe Ida war sprachlos vor Kummer. Sie und Hyrum waren seit zweiundzwanzig Jahren verheiratet. Während dieser Zeit hatte Hyrum mitunter im Scherz zu ihr gesagt: „Sollte ich zuerst sterben, hole ich dich bestimmt bald nach.“17 Das war seine Art und Weise gewesen, seine Liebe und Zuneigung auf humorvolle Art mitzuteilen. Doch weder er noch Ida konnten damals wissen, wie bald und unerwartet ihn der Tod ereilen werde.

Am 21. März 1918, Hyrums sechsundvierzigstem Geburtstag, lud Ida seine engsten Freunde zu einer kleinen Feier in ihr Haus ein, um seines Lebens zu gedenken. Als sie so ihren Erinnerungen nachhingen und auch manch humorvolle Anekdote erzählt wurde, entwickelte sich das Gespräch bald zu einem sehr innigen Austausch. Orson F. Whitney, der schon lange mit Hyrum und Ida befreundet war, trug ein Gedicht über Gottes vollkommenen Plan für seine Kinder vor.

Wenn einst des Lebens Schule ist beendet,

Sonne und Sterne für immer verblassen,

wird das, wovon wir uns irrend abgewendet,

und das, was uns hat trauern und weinen lassen,

aufleuchten aus des Lebens finsterer Nacht,

gleich den Sternen, die im Dunkeln hell erstrahlen;

dann wissen wir: Gott hat seine Pläne für uns gemacht,

und selbst im Tadel haben wir seine Liebe erfahren.

Ida mochte das Gedicht sehr, und sie sagte Orson, dass sie sich seit Hyrums Tod nach einer solchen Botschaft gesehnt hatte. Aber der Abend hatte sie doch sehr mitgenommen. Als sich die Gäste um den Esstisch versammelten, konnte sie die Tränen nicht unterdrücken, als sie den leeren Stuhl sah, auf dem Hyrum immer gesessen hatte.18

Dass sie noch ein Kind von Hyrum erwartete, war eines der wenigen Dinge, die ihr Trost gaben. Kurz nach dem Tod ihres Mannes hatte sie erfahren, dass sie schwanger war. Sie hatte ihre ältere Schwester Margaret umgehend gebeten, bei ihr einzuziehen, damit sie ihr mit den anderen vier Kindern im Alter von sechs bis neunzehn Jahren helfen könne. Margaret war ihrer Bitte gefolgt.

Idas Gesundheitszustand war den ganzen Sommer über gut, doch sie verhielt sich so, als würde sie sich auf den Tod vorbereiten. „Mir dir ist doch alles in Ordnung“, versicherte ihr Margaret immer wieder. „Du bleibt am Leben.“19

Doch gegen Ende ihrer Schwangerschaft schien Ida davon überzeugt, dass sie nach der Geburt ihres Kindes nicht mehr lange leben werde. Als Ida bei ihrer Schwiegermutter Edna Smith zu Besuch war, brachte sie zum Ausdruck, wie sehr sie sich danach sehne, bei Hyrum in der Geisterwelt zu sein. Sie sagte, sie könnten auf der anderen Seite des Schleiers gemeinsam wichtige Arbeit leisten.20

Am Mittwoch, dem 18. September, brachte Ida einen gesunden Jungen zur Welt. Danach sagte sie ihrer Mutter, dass Margaret ihn großziehen werde. „Ich weiß, dass ich zu Hyrum heimgehe und meine Kinder verlassen muss“, sagte sie. „Bitte bete für mein Baby und für meine lieben Kinder. Ich weiß, dass der Herr sie segnen wird.“21

Am folgenden Sonntag hatte Ida das Gefühl, dass Hyrum den ganzen Tag an ihrer Seite war. „Ich habe seine Stimme gehört“, erzählte sie ihrer Familie. „Ich habe seine Gegenwart gespürt.“22

Ein paar Tage später stürmte ihr Neffe in das Haus seiner Eltern. „Ich habe gerade gesehen, wie Onkel Hyrum in das Haus von Tante Ida gegangen ist“, erzählte er seiner Mutter.

„Das kann nicht sein“, entgegnete seine Mutter. „Er ist doch tot.“

„Ich habe ihn gesehen“, beharrte der Junge. „Ich habe ihn doch mit eigenen Augen gesehen.“

Mutter und Sohn gingen die paar Häuser weiter zum Haus der Familie Smith. Dort erfuhren sie, dass Ida aus dem Leben geschieden war. Sie war am frühen Abend an Herzversagen gestorben.23


Joseph F. Smiths Angehörige informierten den Propheten nicht sofort über Idas Tod, denn sie befürchteten, die Nachricht werde ihn erdrücken. Seit Hyrums Tod war er gebrechlich, und in den letzten fünf Monaten war er in der Öffentlichkeit nur noch selten zu sehen gewesen. Aber am Tag nach Idas Tod brachte seine Familie Idas Neugeborenen zu Joseph, der Tränen vergoss, als er das Baby segnete und ihm den Namen Hyrum gab. Dann erzählte ihm die Familie von Ida.

Zur Überraschung aller nahm Joseph die Nachricht gelassen auf.24 So viel Leid und Schmerz waren in letzter Zeit über die Welt hereingebrochen. Die Tageszeitungen enthielten entsetzliche Berichte über den Krieg. Millionen von Soldaten und Zivilisten waren bereits getötet worden, und weitere Millionen waren verwundet oder verstümmelt worden. Zu Sommerbeginn waren die Soldaten aus Utah in Europa angekommen und waren Zeugen der unerbittlichen Brutalität des Krieges geworden. Und nun bereiteten sich weitere junge Heilige der Letzten Tage darauf vor, sich dem Kampf anzuschließen, darunter auch einige von Josephs Söhnen. Sein Sohn Calvin war bereits in Frankreich an der Front und diente gemeinsam mit B. H. Roberts als Militärseelsorger.

Zu all dem war eine tödliche Grippewelle ausgebrochen, die überall auf der Welt Menschenleben forderte, was den Schmerz und das Leid des Krieges noch verstärkte. Das Virus verbreitete sich mit einer besorgniserregenden Geschwindigkeit, und Utah stand wenige Tage vor der Schließung sämtlicher Theater, Kirchen und anderer öffentlicher Plätze – in der Hoffnung, dadurch die Welle von Krankheit und Tod einzudämmen.25

Am 3. Oktober 1918 saß Joseph in seinem Zimmer und dachte über das Sühnopfer Jesu Christi und die Erlösung der Welt nach. Er schlug das Neue Testament bei 1 Petrus auf und las, wie der Erretter den Geistern in der Geisterwelt gepredigt hatte. „Denn auch Toten ist das Evangelium dazu verkündet worden, dass sie zwar wie Menschen gerichtet werden im Fleisch, aber wie Gott das Leben haben im Geist“, las er.

Während der Prophet so über das Schriftwort nachsann, spürte er, wie der Geist des Herrn auf ihn herabkam und seinem Verständnis die Augen aufgingen. Er sah Scharen von Toten in der Geisterwelt. Rechtschaffene Frauen und Männer, die vor dem irdischen Wirken des Erretters gestorben waren, warteten dort freudig auf seine Ankunft und dass er ihnen Befreiung von den Banden des Todes verkünde.

Der Erretter erschien der Menge, und die rechtschaffenen Geister freuten sich über ihre Erlösung. Sie knieten vor ihm nieder und nannten ihn ihren Erlöser und Befreier vom Tod und von den Ketten der Hölle. Ihr Antlitz leuchtete, während das Licht aus der Gegenwart des Herrn sie umstrahlte. Sie lobsangen seinem Namen.26

Joseph staunte über die Vision und dachte erneut über die Worte des Petrus nach. Die Schar der ungehorsamen Geister war doch viel größer als die Schar der rechtschaffenen Geister. Wie sollte der Erretter während seines kurzen Besuchs in der Geisterwelt wohl allen sein Evangelium verkünden?27

Da wurden Josephs Augen abermals geöffnet, und er verstand, dass der Erretter nicht persönlich zu den ungehorsamen Geistern ging. Aus den rechtschaffenen Geistern stellte er seine Kräfte zusammen, bestimmte Boten und beauftragte sie, die Botschaft des Evangeliums zu den Geistern in der Finsternis zu tragen. Somit konnten alle Menschen, die in Übertretung oder ohne Kenntnis der Wahrheit gestorben waren, etwas über den Glauben an Gott, die Umkehr, die stellvertretende Taufe zur Sündenvergebung, die Gabe des Heiligen Geistes und alle anderen unverzichtbaren Grundsätze des Evangeliums lernen.

Beim Blick auf die riesige Versammlung der rechtschaffenen Geister sah Joseph dort auch Adam und dessen Söhne Abel und Set. Er sah Eva bei ihren treuen Töchtern stehen, die Gott über die Jahrhunderte hinweg verehrt hatten. Noach, Abraham, Isaak, Jakob und Mose waren ebenfalls dort, zusammen mit Jesaja, Ezechiel, Daniel und anderen Propheten aus dem Alten Testament und dem Buch Mormon. Außerdem war dort der Prophet Maleachi, der prophezeit hatte, Elija werde kommen, um die Verheißungen, die den Vätern gemacht worden waren, den Kindern ins Herz zu pflanzen und so den Weg für die Tempelarbeit und die Erlösung der Toten in den Letzten Tagen zu bereiten.28

Joseph F. Smith sah auch Joseph Smith, Brigham Young, John Taylor, Wilford Woodruff und andere, die die Grundlage der Wiederherstellung gelegt hatten. Unter ihnen befand sich auch sein Vater Hyrum Smith, der Märtyrer, dessen Gesicht er seit vierundsiebzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie alle gehörten zu den edlen und großen Geistern, die vor dem Erdenleben auserwählt worden waren, um in den Letzten Tagen hervorzukommen und für die Errettung aller Kinder Gottes zu wirken.

Dem Propheten wurde in der Folge klar, dass die treuen Ältesten dieser Evangeliumszeit ihre Arbeit im nächsten Leben fortsetzten, indem sie den Geistern, die sich in Finsternis und unter der Knechtschaft der Sünde befanden, das Evangelium verkündigten.

„Die Toten, die umkehren, werden erlöst werden, indem sie die Verordnungen des Hauses Gottes beachten“, schrieb er, „und sobald sie die Strafe für ihre Übertretungen bezahlt haben und reingewaschen sind, werden sie gemäß ihren Werken einen Lohn empfangen, denn sie sind Erben der Errettung.“29

Als die Vision zu Ende war, dachte Joseph über alles nach, was er gesehen hatte. Am nächsten Morgen überraschte er die Heiligen damit, dass er trotz seines schlechten Gesundheitszustands an der ersten Versammlung der Herbst-Generalkonferenz teilnahm. Er war entschlossen, zu den Anwesenden zu sprechen, stand aber wackelig am Pult, während sein großer Körper vor Anstrengung zitterte. „Seit mehr als siebzig Jahren habe ich mit euren Vätern und Vorfahren in diesem Werk gearbeitet“, sagte er, „und mein Herz ist heute genauso fest mit euch verbunden, wie es das immer war.“30

Da ihm die Kraft fehlte, über seine Vision zu sprechen, ohne von Gefühlen übermannt zu werden, sprach er nur ansatzweise davon. „Ich habe die letzten fünf Monate nicht allein verbracht“, sagte er den Anwesenden. „Ich verweilte im Geist des Gebets, des Flehens, des Glaubens und der Entschlossenheit; und ich hatte fortwährend Verbindung mit dem Geist des Herrn.

Ich bin glücklich, heute Morgen bei euch zu sein“, sagte er. „Möge der allmächtige Gott euch segnen!“31


Etwa einen Monat nach der Herbst-Generalkonferenz gingen Susa und Jacob Gates zum Beehive House, um von Familie Smith eine Kiste mit Äpfeln abzuholen. Als sie ankamen, bat Joseph F. Smith Susa zu sich ins Krankenzimmer, wo er seit Wochen bettlägerig war.

Susa tat ihr Bestes, ihm Mut zuzusprechen, so wie er ihrer Familie in der Vergangenheit stets Trost zugesprochen hatte. Aber sie war mit ihrem Dienst in der Kirche unzufrieden.32 Abgesehen von Elizabeth McCune, die im Jahr zuvor eine Million Dollar an die Genealogische Gesellschaft von Utah gespendet hatte, schienen sich nur wenige Frauen im Hauptausschuss der FHV für Familiengeschichte oder Tempelarbeit zu begeistern. Tatsächlich hatten einige Ausschussmitglieder vorgeschlagen, die monatlichen Lektionen über Genealogie aufzugeben, nachdem einige Führerinnen der Pfahl-Frauenhilfsvereinigung diese kurz zuvor als zu schwierig und nicht geistig genug befunden hatten.33

„Susa“, sagte Joseph zu ihr, „du leistest großartige Arbeit.“

Verlegen entgegnete Susa: „Ich bin zumindest sehr beschäftigt.“34

„Du leistest großartige Arbeit“, beharrte er, „größer, als dir bewusst ist.“ Er sagte ihr, dass er sie um ihres Glaubens und um ihrer Hingabe an die Wahrheit willen sehr liebhabe. Dann bat er seine Frau Julina, ihm ein Schriftstück zu bringen. Gleichzeitig kamen Jacob und ein paar andere Leute ins Zimmer.

Als alle versammelt waren, bat Joseph Susa, es vorzulesen. Sie nahm das Papier in die Hand und war erstaunt über das, was dort stand. Als Prophet hatte Joseph immer versucht, vorsichtig zu sein, wenn er über Offenbarung und andere geistige Belange sprach. Aber in ihren Händen hielt sie nun den Bericht über die Vision, die er von der Geisterwelt gehabt hatte. Er hatte die Offenbarung zehn Tage nach der Generalkonferenz einem seiner Söhne, Apostel Joseph Fielding Smith, diktiert. Am 31. Oktober hatten die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel die Vision gelesen und dem Inhalt in vollem Umfang zugestimmt.

Als Susa die Offenbarung las, war sie davon berührt, dass Eva und andere Frauen erwähnt wurden, die an der Seite der Propheten im selben großartigen Werk dienten. Es war das erste Mal, dass in einer Offenbarung, die ihr bekannt war, davon die Rede war, dass Frauen zusammen mit ihren Ehemännern und Vätern im Auftrag des Herrn arbeiteten.

Nachdem Susa sich dann von Joseph und seiner Familie verabschiedet hatte, fühlte sie sich in der Tat reich gesegnet, weil sie die Offenbarung gelesen hatte, bevor sie veröffentlicht worden war. „Ach, das tat mir so gut!“, schrieb sie in ihr Tagebuch. „Ich weiß nun, dass die Himmel immer noch offen sind, dass Eva und ihre Töchter nicht vergessen sind – und vor allem, dass dies in einer Zeit offenbart wird, da unsere Tempelarbeit, die Tempelarbeiter und unsere genealogische Forschung genau diesen Auftrieb brauchen.“

Sie konnte es kaum erwarten, dass Elizabeth McCune die Offenbarung ebenfalls las. „Es ist ein Einblick – eine Vision – von all den Großen, die auf der anderen Seite für die Errettung der Geister im Gefängnis arbeiten“, erzählte sie ihrer Freundin in einem Brief. „Man denke nur daran, welch neuen Schwung die Tempelarbeit überall in der Kirche durch diese Offenbarung erhält!“35


Am 11. November 1918 einigten sich die feindlichen Heere in Europa auf einen Waffenstillstand, der den vier Jahren Krieg ein Ende setzte. Die Grippepandemie breitete sich jedoch weiter aus und war der Auslöser für Millionen Tote. Vielerorts kam das tägliche Leben zum Erliegen. Die Menschen begannen, Stoffmasken über Nase und Mund zu tragen, um sich zu schützen und die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Die Zeitungen veröffentlichten regelmäßig die Namen der Toten.36

Eine Woche nach dem Waffenstillstand beschloss Heber J. Grant, Joseph F. Smith im Beehive House einen Besuch abzustatten. Heber war damals Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel, also der nächste Mann, dem die Leitung der Kirche zufallen würde. Er war nicht erpicht darauf, die Aufgaben zu übernehmen, die dem Präsidenten der Kirche zufielen. Er hatte gehofft und gebetet, dass Joseph noch zwölf Jahre leben werde – lang genug, um das hundertjährige Bestehen der Kirche zu feiern. Selbst jetzt glaubte er nicht, dass Joseph sterben werde.

Im Beehive House wurde er von Josephs Sohn David an der Tür empfangen, der ihn bat, doch seinen Vater zu begrüßen. Heber zögerte jedoch, da er den Propheten nicht stören wollte.

„Du solltest ihn wirklich sehen“, sagte David. „Es könnte das letzte Mal sein.“37

Heber fand Joseph im Bett. Er war wach und atmete schwer. Joseph ergriff Hebers Hand und drückte sie fest. Heber sah ihm in die Augen und erkannte an seinem Blick, welche tiefe Liebe der Prophet für ihn empfand.

„Der Herr segne dich, mein Junge“, sagte Joseph. „Du trägst eine große Verantwortung. Denk immer daran, dass dies das Werk des Herrn ist und nicht das Werk von Menschen. Der Herr ist größer als jeder Mensch. Er weiß, wen er an der Spitze seiner Kirche haben will, und er macht nie einen Fehler.“38

Joseph ließ seine Hand los, und Heber trat in das angrenzende Büro und schluchzte. Er ging nach Hause, aß sein Abendbrot und kehrte dann zum Beehive House zurück, um Joseph noch einmal zu besuchen. Anthon Lund, Josephs Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, war ebenfalls dort, und auch Josephs Frauen und einige seiner Söhne. Joseph hatte große Schmerzen und bat Heber und Anthon um einen Segen.

„Brüder“, sagte er, „betet, dass ich gehen kann.“

Zusammen mit Josephs Söhnen legten sie ihm die Hände auf. Sie sprachen von der Freude und dem Glück, die sie bei dem gemeinsamen Werk empfunden hatten. Und dann baten sie den Herrn, ihn zu sich zu rufen.39