Geschichte der Kirche
Kapitel 30: Solches Leid


Kapitel 30

Solches Leid

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Hände eines Soldaten, der für sich das Abendmahl segnet

Bitterkalt war der Winter 1944/45 in Europa. Die Alliierten rückten gegen Deutschland vor. In Eis und Schnee lieferten die feindlichen Streitkräfte einander eine Schlacht nach der anderen. Hitler startete gegen die amerikanischen und britischen Streitkräfte eine letzte Offensive an der Westfront, doch der Angriff erschöpfte das bereits kriegsmüde Heer nur noch zusätzlich. Unterdessen waren die sowjetischen Truppen an der Ostfront siegreich und drangen immer tiefer in die von den Nazis besetzten Gebiete vor.1

In Berlin unternahm Helga Birth im Büro der Ostdeutschen Mission alles Menschenmögliche, um sich irgendwie warmzuhalten. Das frühere Büro war ein Jahr zuvor bei einem Bombenangriff ausgebrannt, daher war das Missionsbüro nun in der Wohnung des Zweiten Ratgebers Paul Langheinrich und dessen Frau Elsa untergebracht. Da bei Bombenangriffen die Fensterscheiben zerborsten waren, hängten Helga und die anderen Missionare gegen die Kälte Decken vor die leeren Fensterrahmen. Es gab weder Heizung noch Warmwasser. Das Essen war knapp, und wenn nachts der Fliegeralarm ertönte, war an Schlaf ohnehin kaum zu denken.

Da sich die Stadt im Grunde genommen in einem Belagerungszustand befand, konnten die Missionare nicht gefahrlos hinausgehen und predigen. Die amtierende Präsidentschaft der Ostdeutschen Mission setzte sich aus Deutschen vor Ort zusammen und war für alle Mitglieder in der Mission zuständig. Sowohl Herbert Klopfer, der Missionspräsident, als auch die meisten männlichen Büroangestellten waren zum Wehrdienst eingezogen worden, daher hatten es Helga und weitere Frauen übernommen, die Berichte zu führen und den Kontakt zu tausenden deutschen Heiligen aufrechtzuerhalten, deren Leben durch den Krieg aus den Fugen geraten war.2

Als die sowjetischen Streitkräfte in die Städte im Osten Deutschlands vordrangen, hatten Helgas Verwandte und Bekannte zu einem großen Teil Tilsit bereits verlassen. Ihr Vater und ihr jüngster Bruder Henry waren zum Wehrdienst eingezogen worden, und ihre Mutter hatte auf dem Hof eines Cousins Zuflucht gefunden. Andere Heilige in Tilsit hatten noch so lange wie möglich zusammengehalten und die spärlichen Lebensmittel und auch Kleidungsstücke miteinander geteilt. Zweigpräsident Otto Schulzke und seine Familie hatten bei einem Bombenangriff das Haus verloren und waren gerade noch mit dem Leben davongekommen. Als der Zweig zum letzten Mal zusammenkam, nahmen die Mitglieder gemeinsam eine Mahlzeit ein, bevor dann Präsident Schulzke das Wort an sie richtete.3

Angesichts ihrer vielen Verluste war Helga dankbar, dass sie ihren Platz unter den Heiligen in Berlin gefunden hatte. Doch Mitte April 1945 war die Sowjetarmee durch den Osten Deutschlands bis nach Berlin vorgerückt und hatte die Stadt umstellt. An einem regnerischen Sonntagmorgen kam Helga mit einigen wenigen Mitgliedern zum Gottesdienst zusammen. Die ganze Nacht hindurch waren Bomben gefallen und in der Nähe hatte es Straßenkämpfe gegeben, sodass lediglich einige wenige zur Versammlung erschienen waren. Paul Langheinrich sprach über den Glauben. Helga war erschöpft, doch der Heilige Geist stärkte sie. Sie dachte an die Worte des Erretters im Matthäusevangelium: „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“4

Paul wollte im Anschluss an die Versammlung mit Helga und Bertold Patermann, einem Zweigpräsidenten, noch einen weiteren Zweig aufsuchen, um zu sehen, wie es den Mitgliedern nach den nächtlichen Angriffen denn gehe.

Eine Stunde brauchten Helga, Paul und Bertold zu Fuß zum Gemeindehaus. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto heftiger tobte die Luftschlacht über ihnen, und die Straßen waren voller Blut. Eilends strebten sie dem Gemeindehaus zu, wo sie sich Unterschlupf erhofften. Plötzlich schlugen direkt hinter ihnen Artilleriegeschosse ein. Sie versuchten, Ruhe zu bewahren, und gingen weiter ihrem Ziel entgegen, fanden das Gemeindehaus jedoch menschenleer vor. Eine Seitenmauer war durch einen Volltreffer in Schutt und Asche gelegt worden. Es sah so aus, als hätte jemand begonnen, den Schutt wegzuräumen, doch mittendrin wieder aufgehört.

Helga und die beiden Männer sahen noch nach einigen Mitgliedern, die in der Nähe wohnten, und wollten anschließend ins Missionsheim zurückkehren. Auf der Straße fühlten sie sich völlig schutzlos ausgeliefert. Am Himmel tobte weiter die Luftschlacht, und um sie herum pfiffen und explodierten weiterhin die Granaten. Kampfflugzeuge flogen im Tiefflug über die Straßenzüge, durch das Geschützfeuer zerbarst so manche schöne, alte Fassade und Brücken stürzten ein. Steinbrocken und Ziegelsplitter wirbelten durch die Luft.

Helga, Paul und Bertold gingen immer wieder in Deckung, verbargen sich in Gebäuden oder versteckten sich unter Torbogen. Einmal fanden sie jedoch nur unter einem blattlosen Baum Schutz, dessen Äste braun und spindeldürr gen Himmel ragten. Schließlich kamen sie zu einer gesprengten Brücke, von der nur noch ein schmaler Grat ans andere Ufer führte. Helga traute sich nicht, hinüberzugehen.

„Keine Angst, Schwester Birth“, redeten ihr ihre Begleiter zu. Helga dachte daran, dass sie doch in Gottes Auftrag unterwegs waren, und das schenkte ihr Zuversicht. Sie verließ sich auf das Wort der Brüder, hielt sich am Geländer fest und überquerte die Brücke. Den ganzen Heimweg über war ihre Seele dann von ruhiger Zuversicht erfüllt.5


In den folgenden Tagen gingen Helga und die übrigen Missionare, die bei den Langheinrichs wohnten, nur selten nach draußen. Das Gerücht ging um, die sowjetischen Soldaten hätten bereits Teile der Stadt eingenommen, und Bertold warnte die Missionare, dass da draußen Furchtbares geschehe. Sie sollten tunlichst vermeiden, sich der Gefahr auszusetzen.

In dem ganzen Chaos suchte auch das eine oder andere Mitglied im Missionsheim Zuflucht. Eine Frau kam völlig aufgelöst und unter Schock an, nachdem ihr Mann durch einen Bauchschuss getötet worden war. Mit Pauls Hilfe bereiteten Helga und andere einige unbenutzte Räume für einen jeden vor, der sich zu ihnen flüchtete.

Am Samstag, dem 28. April, versammelte sich die kleine Gruppe von Heiligen zum Fasten und Beten. Während sie so knieten und um Kraft und Schutz beteten, war Helga von Dankbarkeit erfüllt, dass sie inmitten all der Schrecken des Krieges doch von treuen Heiligen umgeben war.

Als die Heiligen ihr Fasten beendeten, wimmelten die Straßen rund um das Missionsbüro schon von Soldaten der Roten Armee. In Berlin wüteten zwar immer noch Kämpfe, doch die Sowjettruppen gingen bereits daran, die Ordnung wiederherzustellen und in den besetzten Stadtteilen abermals eine gewisse Infrastruktur herzustellen. Viele Soldaten belästigten die deutsche Zivilbevölkerung überhaupt nicht, doch einige plünderten so manches Gebäude und vergriffen sich an deutschen Frauen. Helga und die anderen Missionarinnen fürchteten um ihre Sicherheit, und die Männer im Missionsbüro hielten abwechselnd Wache.6

Als Helga am 2. Mai erwachte, war es rund um sie geradezu beklemmend still. In dieser Nacht hatte es keine Bombardements gegeben, und sie hatte tatsächlich bis zum Morgen durchgeschlafen. Adolf Hitler hatte sich zwei Tage zuvor das Leben genommen, und die Sowjetarmee hatte über der Stadt bereits ihre Flagge mit Hammer und Sichel gehisst. Da Berlin nun in sowjetischer Hand war und auch die übrigen Alliierten Tag für Tag weiter in deutsches Gebiet vordrangen, ging der Krieg in Europa nun langsam seinem Ende entgegen.7

Helga versuchte, in ihrem Missionstagebuch ihre Gedanken in Worte zu fassen: „FRIEDEN! Zumindest sagen sie das alle“, schrieb sie. „Doch ich kann nicht sagen, was ich dabei empfinde. Unter ‚Frieden‘ haben wir uns ja etwas ganz anderes vorgestellt – Freude etwa oder Festlichkeiten –, doch nichts dergleichen ist in Sicht.“

„Hier sitze ich nun, weit entfernt von meinen Verwandten“, schrieb sie zudem, „und habe keine Ahnung, wo sie stecken und was mit ihnen los ist.“ Viele ihrer Lieben – Gerhard, ihr Bruder Siegfried, ihr Cousin Kurt, ihre Großeltern und Tante Nita – waren ja nicht mehr am Leben. Sie hatte keine Ahnung, wie sie zu ihren Eltern Kontakt aufnehmen könnte. Und es war schon so lange her, seit sie ein Lebenszeichen von ihrem Bruder Henry erhalten hatte, dass sie das Allerschlimmste befürchtete.8

Am Sonntag kamen die Heiligen abermals zu einer Gebetsversammlung zusammen. Helgas Mitarbeiterin Renate Berger las einen Vers aus Lehre und Bündnisse vor. Darin stand etwas über Dankbarkeit trotz der Bedrängnisse des Erdenlebens:

Und wer alles mit Dankbarkeit empfängt, der wird herrlich gemacht werden; und die Dinge dieser Erde werden ihm hinzugefügt werden, selbst hundertfältig, ja, mehr.9


Am 8. Mai 1945 begingen die Alliierten den „Tag der Befreiung“. Neal Maxwell und die amerikanischen Soldaten, die den Auftrag hatten, die Insel Okinawa in Japan einzunehmen, jubelten ob der Nachricht. Ihre Freude wurde allerdings gedämpft durch das Bewusstsein ihrer eigenen Lage: Angesichts der Kamikaze-Piloten, die den Hafen von Okinawa angriffen, und des Artilleriefeuers von den Hügeln der Insel war den amerikanischen Truppen sehr wohl bewusst, dass für sie die Schlacht noch lange nicht geschlagen war.

„Das hier ist der echte Krieg“, dachte Neal bei sich. Das Leben an der Front war aus unmittelbarer Nähe bei weitem nicht so glanzvoll, wie es Zeitungen und Filme darzustellen versucht hatten. Ihm war ganz mau zumute.10

Die Schlacht um Okinawa entwickelte sich rasch zu einer der erbittertsten Schlachten im Pazifikraum. Die japanischen Befehlshaber sahen in der Insel das letzte Bollwerk gegen eine amerikanische Invasion und hatten folglich zur Verteidigung Okinawas ihre gesamte Militärmacht aufgeboten.11

Neal und seine Männer waren einer Division als Ersatzleute zugeteilt. Am 13. Mai schrieb er an seine Eltern in Utah. Zwar durfte er zu seinem Einsatz keinerlei Angaben machen, aber er versicherte seinen Eltern, dass es ihm gut gehe. „Was einen Gefährten im Geist anbelangt, so bin ich ganz auf mich allein gestellt. Außer dem Herrn gibt es hier keinen“, schrieb er. „Ich weiß aber, dass er immer bei mir ist.“12

Neal gehörte zu einem Mörsertrupp, der Sprengstoffgranaten auf feindliche Stellungen im Landesinneren abfeuern sollte. Als er und seine Kameraden im Gänsemarsch zu einem Hügel namens Flat Top stapften, feuerten die Japaner in ihre Richtung. Die Männer warfen sich sofort zu Boden und blieben liegen, bis sie sich in Sicherheit wähnten. Dann standen alle auf – alle außer einem großen Mann namens Partridge, der direkt vor Neal marschiert war.

„Auf geht‘s“, sagte Neal zu ihm, „es geht weiter!“ Doch sein Kamerad rührte sich nicht. Da bemerkte Neal, dass er von einem Granatsplitter getötet worden war.13

Vor Entsetzen war Neal stundenlang wie betäubt. Je näher er dem Einsatzort kam, desto lebloser und unfruchtbarer sah die von Gefechten gezeichnete Gegend aus. Auf dem Boden lagen die Leichen japanischer Soldaten. Neal hatte außerdem gehört, dass das Gebiet von Landminen übersät sein könnte. Doch selbst wenn der Boden unter seinen Füßen nicht explodierte, so zerrissen doch Gewehrschüsse die Luft.

Neal kauerte sich in einen Schützengraben. Nach tagelangen Gefechten war der verbrannte Boden dort nach einem Starkregen vollends zum Sumpf geworden. Das Schützenloch war voller Schlamm. Es war kaum möglich, sich dort auszuruhen, doch Neal versuchte, wenigstens im Stehen ein wenig zu schlafen. Die kärglichen Rationen trugen kaum dazu bei, den Hunger der Soldaten zu stillen, und das Wasser, das in Zwanzig-Liter-Kanistern den Hügel hinaufgeschafft wurde, schmeckte nach Öl. Viele Soldaten tranken daher lieber Kaffee, was den üblen Geschmack des Wassers ein wenig überdeckte, doch Neal hielt sich an das Wort der Weisheit. Er versuchte, Regenwasser aufzufangen, und verwendete sonntags das gesammelte Wasser sowie einen Keks aus seiner Verpflegung für das Abendmahl.14

Eines Nachts Ende Mai explodierten in der Nähe von Neals Mörserstellung drei feindliche Granaten. Bis dahin hatten die Japaner den Standort seiner Truppe noch nicht entdeckt, doch nun schienen die Geschütze seine Position geortet zu haben, denn die Geschosse schlugen in unmittelbarer Nähe ein. Als eine weitere Granate nur wenige Meter entfernt einschlug, befürchtete Neal, der nächste Schuss werde sein Ziel wohl nicht mehr verfehlen.

Er schwang sich daher aus dem Schützenloch und ging hinter einem kleinen Erdhügel in Deckung, merkte jedoch gleich, dass er sich auch dort nicht in Sicherheit befand, und huschte wieder zurück in sein Loch.

In der Finsternis kniete sich Neal im Schlamm nieder und sprach ein Gebet. Ihm war bewusst, dass er kein Anrecht auf besondere göttliche Gunst besaß und dass viele rechtschaffene Männer im Kampf gefallen waren, auch wenn sie inbrünstig gebetet hatten. Dennoch flehte er den Herrn an, sein Leben zu verschonen, und er versprach, sich in den Dienst Gottes zu stellen, falls er überleben sollte. Er hatte eine verschmierte Kopie seines Patriarchalischen Segens in der Tasche und dachte an eine Verheißung darin.

„Ich versiegle dich gegen die Macht des Zerstörers, auf dass dein Leben nicht verkürzt werde“, hieß es darin, „und auf dass du nicht daran gehindert werdest, jedweden Auftrag zu erfüllen, der dir im vorirdischen Dasein erteilt worden ist.“

Nach dem Gebet blickte Neal zum Nachthimmel auf. Der Beschuss war verstummt. Um ihn herum blieb alles still. Als das Artilleriefeuer nicht wieder einsetzte, spürte er tief in seiner Seele, dass der Herr sein Leben bewahrt hatte.15

Bald darauf schrieb Neal einige Briefe an seine Angehörigen zuhause. „Ich sehne mich so sehr nach euch, dass mir manchmal zum Weinen zumute ist“, schrieb er. „Was ich tun muss, ist, mich meines Patriarchalischen Segens, eurer Gebete und meiner Religion würdig zu erweisen. Aber die lange Dauer und die Geschehnisse hier lasten mir schwer auf der Seele.“

„Ich kann nur sagen, dass Gott meinen Tod bisweilen verhütet hat“, schrieb er. „Davon habe ich ein Zeugnis, das mir niemand nehmen kann.“16


Für Hanna Vlam und weitere niederländische Heilige war der Krieg in Europa indes vorbei. An dem Tag, als Deutschland kapitulierte, fanden sie und ihre Kinder sich mit Freunden und Nachbarn auf dem Marktplatz ein. Sie sangen und tanzten. Aus den Verdunkelungsstoffen, die vor den Fenstern gehangen hatten, machten sie ein großes Feuer und sahen erleichtert zu, wie diese Erinnerungen an schwere Tage in Flammen aufgingen.

„Ich danke dir, o Herr“, dachte Hanna bei sich. „Du bist wahrhaftig gut zu uns gewesen.“

Da nun die Kämpfe zu Ende waren, kamen viele Insassen aus Konzentrationslagern oder Gefängnissen wieder frei. Hanna hatte mit ihrem Mann während seiner Gefangenschaft in Verbindung gestanden und hatte demnach allen Grund zur Annahme, dass er unversehrt geblieben sei. Sie fand, sie könne das Ende des Krieges erst dann richtig feiern, wenn Pieter wieder daheim an ihrer Seite war.

An einem Sonntagabend Anfang Juni warf Hanna gerade einen Blick aus dem Fenster und sah vor ihrem Haus einen Militärlastwagen halten. Eine Tür öffnete sich und Pieter stieg aus. Hannas Nachbarn mussten das ebenfalls gesehen haben, denn sie kamen gleich zur Haustür gerannt. Hanna wollte die Tür nicht vor all den Umstehenden öffnen und wartete, bis Pieter hereinkam. Als dann endlich die Tür aufging, umarmte sie ihn voller Freude.

Es dauerte nicht lange, da hängten die Nachbarn der Vlams in der Straße Fahnen auf, die Pieters Rückkehr signalisieren sollten. Hannas und Pieters zwölfjähriger Sohn Heber sah die Fahnen und rannte sogleich nach Hause. „Mein Vater ist wieder da!“, rief er.

Als es dann finster wurde, zündete Hanna eine Kerze an, die sie für den Abend von Pieters Heimkehr aufgehoben hatte. Familie Vlam saß also im flackernden Kerzenschein und hörte zu, wie Pieter von seiner Befreiung erzählte.17

Monate zuvor, als die sowjetischen Streitkräfte die Deutschen aus der Ukraine vertrieben hatten, waren Pieter und die anderen Gefangenen aus dem Stalag 371 in ein neues Gefangenenlager nördlich von Berlin verlegt worden. Dieses war schmutzig, kalt und voller Ungeziefer. Das Dröhnen der Flugzeuge der Alliierten erfüllte die Luft, und der Himmel färbte sich blutrot vom Widerschein der vielen Brände in der Stadt.

Im April hatte sich einer der Gefangenen eines Tages bei einigen sowjetischen Soldaten bemerkbar gemacht, die soeben mit einem riesigen Panzer am Lager vorbeifuhren. Daraufhin hatten die Militärs angehalten, mit dem Panzer gewendet, den Stacheldrahtzaun durchbrochen und somit Pieter und dessen Mitgefangene befreit. Bevor jeder seines Weges ging, gab Pieter allen, die es wollten, einen Priestertumssegen. Einige Kriegsgefangene, die Pieter mit dem Evangelium bekanntgemacht hatte, schlossen sich nach ihrer Rückkehr in der Heimat der Kirche an.18

Wieder mit seiner Familie vereint zu sein empfand Pieter wie einen Vorgeschmack auf den Himmel. Es kam ihm so vor, als ob er auch mit seinen Lieben jenseits des Schleiers verbunden wäre, und er war dankbar für die heiligen Bande, die seine Familie in alle Ewigkeit vereinten.19


In der ersten Augustwoche 1945 befand sich Neal Maxwell auf den Philippinen, wo er an Militärübungen für die auf Herbst angesetzte Invasion auf Japan teilnahm. Okinawa hatten die Vereinigten Staaten bereits im Juni in ihre Gewalt gebracht. Mehr als siebentausend amerikanische Soldaten waren dabei gefallen, doch die Japaner hatten verheerende Verluste erlitten. Mehr als einhunderttausend Soldaten und viele zehntausend Zivilisten waren bei den Kämpfen ums Leben gekommen.20

In einem Brief an seine Familie schrieb Neal diesmal ganz nüchtern und ohne jegliches Draufgängertum. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass die Kämpfe endlich ein Ende fänden. „Ich wünschte, ich könnte diese Sache vernichten, die solches Leid über die Menschen bringt“, schrieb er über den Krieg. Seiner Ansicht nach könne nur die Botschaft Jesu Christi zu dauerhaftem Frieden führen, und er sehnte sich danach, diese Botschaft zu verkünden. „Das wünsche ich mir mehr denn je“, schrieb er.21

Nachdem Neal von der Front abgezogen worden war, besuchte er die Versammlungen der Kirche mit Soldaten unterschiedlicher Truppengattungen. Schon auf Okinawa hatte er mit großer Vorfreude ersehnt, endlich wieder mit anderen Mitgliedern den Gottesdienst besuchen zu können, doch als sich ihm nun endlich die Gelegenheit dazu bot, musste er feststellen, dass einige, die er so gern wiedergesehen hätte, fehlten. Der Militärgeistliche, ein Heiliger der Letzten Tage namens Lyman Berrett, hielt eine tröstliche Ansprache, doch Neal behielt die ganze Zeit über die Tür im Auge in der Hoffnung, dass Freunde von früher eintraten. Einige kamen jedoch nie.22

Jetzt erfuhr Neal auch, dass Präsident Heber J. Grant verstorben war. In den fünf Jahren seit seinem Schlaganfall hatte sich Präsident Grant regelmäßig mit seinen Ratgebern zusammengesetzt und auch mehrmals auf der Generalkonferenz gesprochen.23 Doch so richtig erholt hatte er sich nie mehr, und am 14. Mai 1945 erlag er im Alter von achtundachtzig Jahren einem Herzversagen. George Albert Smith war ihm nun als Präsident der Kirche nachgefolgt.24

Anfang August hörten Neal und die übrigen auf den Philippinen stationierten Soldaten, dass ein amerikanischer Flieger auf unmittelbaren Befehl des Präsidenten der Vereinigten Staaten auf Hiroshima eine Atombombe abgeworfen habe. Drei Tage später warf ein anderes Flugzeug eine solche Bombe auf die Stadt Nagasaki ab.

Als Neal von den Bombenabwürfen erfuhr, keimte in ihm die freudige Erwartung auf, dass er und seine Kameraden nun nicht mehr Japan angreifen müssten. Später wurde ihm jedoch bewusst, wie egoistisch diese Reaktion gewesen war. Durch die Atembomben kamen in Japan mehr als hunderttausend Menschen – die meisten von ihnen Zivilisten – ums Leben.25

Mit der Kapitulation Japans am 2. September 1945 war der Zweite Weltkrieg offiziell zu Ende. Neal musste als Soldat der Besatzungsmacht der Alliierten trotzdem noch in Japan einrücken. Seine Vorgesetzten hatten inzwischen herausgefunden, wie gewählt er sich schriftlich auszudrücken vermochte, und hatten ihm die Aufgabe übertragen, an die Angehörigen gefallener Soldaten Beileidsschreiben zu verfassen.

„Die Erinnerung an diese schwarzen Tage hängt einem irgendwie nach“, schrieb Neal an seine Familie, „vor allem, wenn man an die Hinterbliebenen seiner einstigen Kameraden ein Kondolenzschreiben verfassen soll.“ Obwohl sich Neal der ehrenvollen Verantwortung wohl bewusst war, die ihm da übertragen worden war, hatte er keine Freude an dem Auftrag.26

Neal und fast eine Million Heilige der Letzten Tage auf der ganzen Welt standen nun vor einer ungewissen Zukunft und fragten sich, wie sie nach so viel Herzeleid, Entbehrungen und überwältigenden Verlusten ihr Leben wieder aufnehmen sollten. In Präsident Grants letzter öffentlicher Ansprache, die auf der Frühjahrs-Generalkonferenz 1945 von seinem Sekretär verlesen worden war, hatte der Prophet den Heiligen Trost und Perspektive genannt.

„So viele unserer Familien sind von unsagbar viel Leid geprüft worden“, stellte er fest. „Möge uns die Einsicht stärken, dass gesegnet zu sein nicht gleichbedeutend damit ist, immerfort vor den Enttäuschungen und dem Kummer des Erdenlebens verschont zu bleiben.“

„Der Herr hört und erhört unsere Gebete und schenkt uns, worum wir beten, sofern es zu unserem Besten ist“, bekräftigte er. „Er lässt keinen im Stich, der ihm voller Herzensabsicht dient, doch wir müssen immerfort gewillt sein zu sagen: ‚Vater, dein Wille geschehe.‘“27

  1. Siehe Kershaw, The End, Seite 129–134, 155–161, 167–182; Weinberg, World at Arms, Seite 765–771

  2. Minert, In Harm’s Way, Seite 17, 20f., 25, 27–33; Meyer und Galli, Under a Leafless Tree, Seite 107, 110; Meyer, Interview, 2016, Seite 16

  3. Meyer, Interview, 2016, Seite 8–13; Meyer und Galli, Under a Leafless Tree, Seite 108; Kershaw, The End, Seite 172–176; Minert, In Harm’s Way, Seite 328

  4. Mawdsley, World War II, Seite 403; Weinberg, World at Arms, Seite 819–824; Meyer und Galli, Under a Leafless Tree, Seite 105, 110ff.; Meyer, Interview, 2016, Seite 15; Matthäus 18:20

  5. Minert, In Harm’s Way, Seite 44f., 52; Meyer, Interview, 2016, Seite 4, 15ff.; Meyer und Galli, Under a Leafless Tree, Seite 112, 187f.

  6. Meyer und Galli, Under a Leafless Tree, Seite 188–191; Birth, Missionstagebuch, 21. April 1945; Minert, In Harm’s Way, Seite 70; Large, Berlin, Seite 374ff.; Moorhouse, Berlin at War, Seite 375–379; siehe auch Naimark, Russians in Germany, Seite 10–17, 20f., 78–85, 92f., 100f.; Thema: Fasten

  7. Meyer und Galli, Under a Leafless Tree, Seite 191; Weinberg, World at Arms, Seite 825; Overy, Third Reich, Seite 359–365; Antill, Berlin 1945, Seite 80f.; Large, Berlin, Seite 364

  8. Meyer und Galli, Under a Leafless Tree, Seite 108, 117f., 191

  9. Meyer und Galli, Under a Leafless Tree, Seite 114, 194f.; Lehre und Bündnise 78:19

  10. Overy, Third Reich, Seite 365; Maxwell, Lebensgeschichte, Box 1, Ordner 3, Seite 10; Thema: Zweiter Weltkrieg

  11. Spector, Eagle against the Sun, Seite 532–540; Costello, Pacific War, Seite 554–561; Hafen, Disciple’s Life, Seite 103ff.

  12. Maxwell, Lebensgeschichte, Box 1, Ordner 3, Seite 10; Hafen, Disciple’s Life, Seite 102, 105

  13. Maxwell, Lebensgeschichte, Box 1, Ordner 3, Seite 10f.; Maxwell, Erinnerungsinterview, 1976/77, Seite 117; Hafen, Disciple’s Life, Seite 106f.

  14. Maxwell, Erinnerungsinterview, 1976/77, Seite 117; Maxwell, Lebensgeschichte, Box 1, Ordner 3, Seite 11f.; Hafen, Disciple’s Life, Seite 107ff., 112; Freeman und Wright, Saints at War, Seite 358

  15. Hafen, Disciple’s Life, Seite 109f.; Maxwell, Lebensgeschichte, Box 1, Ordner 3, Seite 10, 12; Maxwell, Diktat, Seite 3; Thema: Patriarchalischer Segen

  16. Hafen, Disciple’s Life, Seite 112; Neal A. Maxwell an Clarence Maxwell und Emma Ash Maxwell, 1. Juni 1945, Neal A. Maxwell, Schriftverkehr zum Zweiten Weltkrieg, HAK

  17. Wachsmann, Nazi Concentration Camps, Seite 595ff.; Bischof und Stelzl-Marx, „Lives behind Barbed Wire“, Seite 330f., 338f.; Vlam, Our Lives, Seite 107, 109

  18. Vlam, Our Lives, Seite 105, 108; Vlam, History of Grace Alida Hermine Vlam, Seite 9, 11; Gordon B. Hinckley, „War Prisoner Teaches Truth to Officers“, Deseret News, 30. März 1949, Rubrik Kirche, Seite 14

  19. Vlam, Our Lives, Seite 107

  20. Maxwell, Lebensgeschichte, Box 1, Ordner 3, Seite 13; Spector, Eagle against the Sun, Seite 540; Mawdsley, World War II, Seite 412; Weinberg, World at Arms, Seite 882; Thema: Philippinen

  21. Hafen, Disciple’s Life, Seite 114

  22. Maxwell, Erinnerungsinterview, 1999/2000, Seite 31; Maxwell, Lebensgeschichte, Box 1, Ordner 3, Seite 13; Thema: Zweige für Militärangehörige

  23. Siehe Heber J. Grant an Francesca Hawes, 6. Dezember 1944, Buch mit Durchschlagkopien, Band 83, Seite 271, Heber J. Grant Collection, HAK; Heber J. Grant an M. J. Abbey, 22. Januar 1945, Erste Präsidentschaft, Akten zur allgemeinen Korrespondenz, HAK; Clark, Tagebuch, 4. und 25. Februar 1945, 11. März 1945; Heber J. Grant, in: One Hundred Eleventh Semi-annual Conference, Seite 95ff., 130–134; One Hundred Twelfth Annual Conference, Seite 2–11, 97; One Hundred Fourteenth Annual Conference, Seite 3–12 sowie One Hundred Fifteenth Annual Conference, Seite 4–10

  24. Sterbeurkunde von Heber J. Grant, 14. Mai 1945, Utah Department of Health, Office of Vital Records and Statistics, Servicestelle des Staatsarchivs in Utah, Salt Lake City Themen: Heber J. Grant, George Albert Smith

  25. Costello, Pacific War, Seite 589–593; Spector, Eagle against the Sun, Seite 554ff.; Maxwell, Erinnerungsinterview, 1999/2000, Seite 30f.; Hafen, Disciple’s Life, Seite 118

  26. Spector, Eagle against the Sun, Seite 559f.; Hafen, Disciple’s Life, Seite 117f.; Thema: Zweiter Weltkrieg

  27. J. Reuben Clark Jr., Heber J. Grant, in: One Hundred Fifteenth Annual Conference, Seite 3f., 6f.