Geschichte der Kirche
Kapitel 12: Dieser furchtbare Krieg


„Dieser furchtbare Krieg“, Kapitel 12 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2021

Kapitel 12: Dieser furchtbare Krieg

Kapitel 12

Dieser furchtbare Krieg

Bild
Soldat während des Ersten Weltkriegs in einem Schützenloch

Die Scandinavian und ihre Passagiere kamen Ende September 1915 sicher in Montreal an. Hyrum M. Smith setzte daraufhin die Überquerung des Atlantiks für Mitglieder der Kirche aus, während er und die Erste Präsidentschaft den sichersten Weg für den Transport von Missionaren und Auswanderern ermittelten. Nachdem die deutsche Regierung zugestimmt hatte, keine britischen Ozeandampfer mehr anzugreifen, nahm Hyrum die Entsendung von Heiligen auf britischen Schiffen wieder auf, bis er sich im Frühjahr 1916 veranlasst sah, die Heiligen nur noch auf Schiffen neutraler Länder fahren zu lassen.

„Die Gefahr, dass sie auf einem Schiff unterwegs sind, das in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt wird, ist einfach zu groß“, schrieb er in sein Tagebuch, „und ich kann einfach nicht länger die Verantwortung für solch ein Risiko tragen.“1

In Lüttich in Belgien bemühten sich derweil Arthur Horbach und die dortigen Heiligen, ihren kleinen Zweig zusammenzuhalten. In Belgien hatte Chaos geherrscht, als deutsche Truppen das Land stürmten. Sie töteten Zivilisten, folterten Gefangene, plünderten und verbrannten Wohnungen und ganze Ortschaften und bestraften jede Form von Widerstand. Tag und Nacht versetzten betrunkene Soldaten die Städte in Angst und Schrecken. Keiner war vor Gewalt sicher.

In den ersten zehn Monaten der deutschen Besatzung wagte es der Zweig Lüttich kaum, sich zum Gottesdienst zu treffen. Aber im Frühjahr 1915, nachdem sie sich monatelang zurückgehalten hatten, beschlossen Arthur und die beiden anderen Priestertumsträger des Zweiges, Hubert Huysecom und Charles Devignez, wieder regelmäßig Versammlungen abzuhalten.

Marie Momont, eine ältere Frau aus dem Zweig, stellte den Heiligen vorerst ihr Haus zur Verfügung. Nach ein paar Wochen fanden die Versammlungen dann bei Hubert und seiner Frau Augustine statt. Deren Haus war größer und lag auf halbem Weg zwischen Lüttich und dem benachbarten Seraing, was es zu einem idealen Versammlungsort für Mitglieder aus beiden Orten machte. Als Lehrer im Aaronischen Priestertum hatte Hubert das höchste Priestertumsamt in der Stadt inne und übernahm die Leitung des Zweiges. Er war zudem Präsident der Sonntagsschule.2

Arthur wurde zum Sekretär und Schatzmeister des Zweiges ernannt und war damit für die Führung der Aufzeichnungen und Konten verantwortlich. Er und ein Mitglied aus Seraing halfen Charles Devignez beim Sonntagsschuluntericht. Drei Frauen aus dem Zweig, Juliette Jeuris-Belleflamme, Jeanne Roubinet und Guillemine Collard, unterstand die Primarvereinigung. Der Zweig eröffnete auch eine kleine Bibliothek.

Schon bald nahmen die Mitglieder aus Lüttich Kontakt zu einem Ältesten und einem Priester der Heiligen der Letzten Tage auf, die etwa dreißig Kilometer entfernt in einem Ort namens Villers-le-Bouillet wohnten. Die beiden Männer besuchten den Zweig einmal im Monat, wodurch die Heiligen aus Lüttich vom Abendmahl nehmen und Priestertumssegen erhalten konnten.

Durch Hunger, Elend und Entbehrungen verloren einige Heilige in Lüttich den Mut und wandten sich gegen andere Mitglieder des Zweiges. Im Sommer begann das Büro der Europäischen Mission damit, Gelder zu senden, um die Armen und Bedürftigen zu unterstützen. Trotz ihrer Not zahlten die meisten Heiligen im Zweig ihren Zehnten, und während die düstere Zeit andauerte, stützten sie sich auf das wiederhergestellte Evangelium, auf den Geist des Herrn und auf ihre Gemeinschaft.

Sie erzählten ihren Mitbürgern weiterhin vom Evangelium, und einige ließen sich in dieser turbulenten Zeit sogar taufen. Dennoch fehlte in dem Zweig die Stabilität, die es vor dem Einmarsch gegeben hatte.3

„Während dieses furchtbaren Krieges haben wir oft miterlebt, wie sich uns die Macht des Allmächtigen kundgetan hat“, berichtete Arthur. „Die Zweige sind in gutem Zustand, aber wir sehnen uns nach der Rückkehr der Missionare.“4


Am 6. April 1916, dem ersten Tag der Frühjahrs-Generalkonferenz der Kirche in Salt Lake City, sprach Präsident Charles W. Penrose über die Gottheit. Er und die anderen Mitglieder der Ersten Präsidentschaft erhielten von den Mitgliedern der Kirche oftmals Briefe mit Fragen zu strittigen Lehrmeinungen, von denen die meisten leicht geklärt werden konnten. Doch in letzter Zeit war die Präsidentschaft wegen vermehrter Fragen zum Wesen Gottvaters beunruhigt.

Präsident Penrose stellte in seiner Ansprache fest: „Manche haben immer noch die Vorstellung, dass Adam der allmächtige und ewige Gott sei.“5

Diese Ansicht hatte ihre Grundlage in ein paar Aussagen, die Brigham Young im neunzehnten Jahrhundert gemacht hatte.6 Kritiker der Kirche hatten Präsident Youngs Aussagen aufgegriffen und behaupteten nun, die Heiligen der Letzten Tage würden Adam verehren.7

Erst vor kurzem hatte die Erste Präsidentschaft versucht, die Lehre von der Gottheit, von Adam und dem Ursprung der Menschheit näher zu erläutern. Im Jahr 1909 veröffentlichten sie eine von Apostel Orson F. Whitney verfasste Erklärung zum Ursprung des Menschen, worin etliche Punkte der Lehre zur Beziehung zwischen Gott und seinen Kindern erläutert wurden. Darin wurde dargelegt: „Alle Männer und Frauen sind im Ebenbild des Vaters und der Mutter aller und buchstäblich die Söhne und Töchter der Gottheit.“ Es hieß darin auch, dass Adam im vorirdischen Leben ein Geist gewesen war, ehe er auf der Erde einen sterblichen Körper erhielt und der erste Mensch und Stammvater der Menschheit wurde.8

Gelehrte und Führer der Kirche waren zudem beauftragt worden, neue Lehrbücher für die Sonntagsschule und die Versammlungen der Priestertumskollegien herauszugeben. Zwei dieser Werke, John Widtsoes Eine vernunftgemäße Theologie („Rational Theology“) sowie Jesus der Christus („Jesus the Christ“) von Apostel James E. Talmage, legten die offizielle Lehre der Kirche in Bezug auf Gottvater, Jesus Christus und Adam dar. In beiden Büchern wurde deutlich zwischen Gottvater und Adam unterschieden und zugleich betont, wie das Sühnopfer Jesu Christi die negativen Auswirkungen des Falls Adams überwindet.9

Als sich Präsident Penrose bei der Generalkonferenz an die Heiligen wandte, zitierte er mehrere Verse aus alten und neuzeitlichen heiligen Schriften, um zu beweisen, dass Gottvater und Adam nicht die gleiche Person sind. „Gott helfe uns, die Wahrheit zu sehen und zu verstehen und den Irrtum zu meiden“, betonte er zum Abschluss seiner Worte. „Und lasst uns nicht allzu emotional an unserer Meinung festhalten. Bemühen wir uns doch um ein korrektes Verständnis.“10

Kurz nach der Konferenz waren sich die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel dahingehend einig, dass die Heiligen eine unmissverständliche Erklärung zum Thema Gottheit brauchten. Im Sommer half ihnen Elder Talmage, das Schriftstück „Der Vater und der Sohn“ zu verfassen, in dem die Lehre zum Wesen und zur Mission Gottvaters und Jesu Christi sowie ihre Beziehung zueinander erläutert wurde.11

In dieser Erklärung bezeugten sie, dass Gottvater Elohim ist, der Vater der Geister der gesamten Menschheit. Sie verkündeten, dass Jesus Christus Jehova ist, der Erstgeborene des Vaters und der ältere Bruder aller Frauen und Männer. Da er den Schöpfungsplan seines Vaters ausgeführt hatte, war Jesus auch der Vater des Himmels und der Erde. Aus diesem Grund wird er in den heiligen Schriften oft mit dem Titel „Vater“ versehen, worin seine besondere Beziehung zur Welt und zu ihren Bewohnern veranschaulicht wird.

Die Erste Präsidentschaft erklärte auch, inwiefern Jesus geistig der Vater derer ist, die durch sein Evangelium von neuem geboren werden. „Wenn es richtig ist, von denen, die das Evangelium annehmen und darin verbleiben, als den Söhnen und Töchtern Christi zu sprechen“, erklärten sie, „dann ist es folgerichtig auch korrekt, von Jesus Christus als dem Vater der Rechtschaffenen zu sprechen.“

Schließlich legten sie dar, inwiefern Jesus Christus im Auftrag des Vaters als Vertreter Elohims handelt. „Was Macht, Vollmacht und Göttlichkeit betrifft“, erklärten sie, „waren und sind seine Worte und Taten die des Vaters.“12

Am 1. Juli erschien „Der Vater und der Sohn“ in den Deseret Evening News. Am selben Tag schrieb Joseph F. Smith an seinen Sohn Hyrum M. Smith in Liverpool und bat ihn, die neue Erklärung an die Heiligen im Ausland weiterzugeben. „Es ist das erste Mal, dass dieses Thema in Worte gefasst wurde“, merkte er an. „Ich hoffe, du bist einverstanden und lässt es sorgfältig drucken.“13


In jenem Sommer befanden sich die deutsche und die französische Armee im Nordosten Frankreichs in einem weiteren langwierigen blutigen Stellungskrieg, diesmal vor der gut befestigten Kleinstadt Verdun. In der Hoffnung, die Entschlossenheit der Franzosen zu brechen, hatte die deutsche Armee die Verteidigungsanlagen der Stadt bombardiert und mit hunderttausenden von Truppen angegriffen. Die Franzosen begegneten ihnen jedoch mit heftigem Widerstand, und es folgten Monate nutzloser Grabenkämpfe.14

Bei der deutschen Infanterie, die bei Verdun kämpfte, befand sich auch der vierzigjährige Paul Schwarz. Der aus dem Westen Deutschlands stammende Inkassobeauftragte und Nähmaschinenverkäufer Paul war im Jahr zuvor zum Heer eingezogen worden. Zu dem Zeitpunkt war er Präsident eines kleinen Zweiges der Kirche in einem Ort namens Barmen, wo er mit seiner Frau Helene und den fünf kleinen Kindern lebte. Paul war ein ruhiger, friedliebender Mann, dennoch hielt er es für seine Pflicht, seinem Land zu dienen. Ein anderer Träger des Melchisedekischen Priestertums war berufen worden, seinen Platz im Zweig einzunehmen, und schon bald darauf befand sich Paul an der Front.15

In Verdun waren die Schrecken des Krieges allgegenwärtig. Zu Beginn hatten die Deutschen die französischen Linien unter Artilleriebeschuss genommen, bevor sie Truppen mit Flammenwerfern schickten, die den Weg für die vorrückende Infanteriekolonne freimachen sollten. Doch die Franzosen waren stärker, als die Deutschen erwartet hatten, und auf beiden Seiten gingen die Verluste in die Hunderttausende.16 Im März 1916, kurz nachdem Pauls Regiment in Verdun angekommen war, fiel der Befehlshabende in der Schlacht. Paul blieb unversehrt. Später, während sie Granaten, Stacheldraht und anderes Kriegsmaterial an die Front transportierten, hatte er das Gefühl, er solle ganz nach vorn an die Spitze seiner Kompanie vorrücken. Er schloss eiligst nach vorne auf, und kurz danach warf ein Flugzeug Bomben genau auf die Stelle ab, wo er marschiert war.17

Andere Soldaten aus seinem Bekanntenkreis, die ebenfalls der Kirche angehörten, hatten nicht so viel Glück – was ihm in Erinnerung rief, dass Gott die Gläubigen nicht immer verschont. Im Jahr zuvor wurde in der Kirchenzeitschrift Der Stern berichtet, dass der achtzehnjährige Hermann Seydel an der Ostfront gefallen war. Hermann war aus Pauls Zweig. „Er war ein vorbildlicher junger Mann und ein begeistertes Mitglied der Kirche Jesu Christi, und alle, die ihn kannten, werden sich ewig an ihn erinnern“, hieß es im Nachruf.18

Vor dem Krieg war Paul stets eifrig dabei gewesen, das Evangelium weiterzugeben. Sowohl er als auch seine Frau bekamen ein Zeugnis von der Wiederherstellung, nachdem sie Broschüren der Missionare gelesen hatten. Nun schickte ihm Helene Traktate der Heiligen der Letzten Tage, die er an die Männer in seiner Einheit verteilte. Oftmals lasen die Soldaten die Traktate, um sich die Zeit vor dem nächsten Angriff zu vertreiben. Einige der Männer fühlten sich dadurch sogar veranlasst zu beten.19

Die Schlacht von Verdun dauerte – wie unzählige Schlachten an anderen Fronten auch – bis 1916 an. In dunklen, verdreckten Schützengräben kauerten die Truppen und lieferten sich eine höllische Schlacht nach der anderen über den lehmigen Boden mit den Drahtverhauen hinweg, die das Niemandslands kennzeichneten – jenen trostlosen Flecken Erde, der zwischen den beiden Heeren lag. Paul und andere Soldaten der Heiligen der Letzten Tage auf beiden Seiten des Konflikts hielten an ihrem Glauben fest und fanden Hoffnung im wiederhergestellten Evangelium, während sie um ein Ende des Konflikts beteten.20


Als in Europa der Krieg tobte, ging in Mexiko die Revolution unvermindert weiter. Aus San Marcos waren die Truppen der Zapatistas, die den Ort ein Jahr zuvor eingenommen hatten, wieder abgezogen. Doch Familie Monroy und der Zweig dort waren noch immer durch die Erinnerung an die Gewalttaten gezeichnet.

In der Nacht, als die Zapatistas in San Marcos einfielen, war Jesusita de Monroy gerade auf dem Weg, um mit einem Rebellenführer zu sprechen in der Hoffnung, er könne ihr helfen, ihre gefangenen Kinder zu befreien, als sie die schicksalhaften Gewehrsalven hörte. Eilig machte sie kehrt und fand beim Gefängnis ihren Sohn Rafael und einen anderen Heiligen der Letzten Tage, Vicente Morales, tot auf. Beide waren den Kugeln der Rebellen zum Opfer gefallen.

In ihrer Verzweiflung schrie sie so laut auf, dass ihre Töchter es in dem Raum, in dem sie festgehalten wurden, hören konnten.

In der Nähe sagte jemand: „Was für ein tapferer Mann!“

„Aber was haben sie in seinem Haus gefunden?“, wollte ein anderer wissen.

Jesusita hätte die Frage wohl beantworten können. Nichts – denn die Zapatistas hatten unter dem Besitz ihres Sohnes nach Waffen gesucht, aber keine gefunden. Rafael und Vicente waren unschuldig gewesen.

Am nächsten Morgen überredeten sie und Rafaels Frau Guadalupe den Anführer der Rebellen, ihre drei Töchter Natalia, Jovita und Lupe freizulassen. Die Frauen gingen dann los und holten die sterblichen Überreste von Rafael und Vicente. Die Zapatistas hatten die Leichen draußen liegen gelassen, und um sie herum stand eine große Menge Einheimischer. Da niemand bereit schien, mit anzupacken und die Leichname zum Haus der Monroys zu schaffen, baten Jesusita und ihre Töchter die paar Männer, die auf Rafaels Ranch arbeiteten, um Hilfe.

Casimiro Gutierrez, den Rafael zum Melchisedekischen Priestertum ordiniert hatte, hielt im Haus eine Trauerfeier ab. Danach erschienen einige Frauen aus dem Ort, von denen sich manche gegen die Heiligen geäußert hatten, schuldbewusst an der Tür und sprachen ihr Beileid aus. Die Monroys fanden jedoch keinen Trost in ihren Worten.21

Jesusita wusste nun nicht so recht, wie es weitergehen sollte. Eine Weile zog sie in Erwägung, aus San Marcos wegzuziehen. Einige Verwandte boten der Familie an, bei ihnen zu leben, doch sie lehnte das Angebot ab. „Ich kann mich nicht dazu durchringen“, teilte sie dem Missionspräsidenten Rey L. Pratt in einem Brief mit. „Wir genießen momentan kein gutes Ansehen, denn in diesen kleinen Ortschaften gibt es weder Toleranz noch Religionsfreiheit.“22

Jesusita wollte gern in die Vereinigten Staaten ziehen, vielleicht in den Grenzstaat Texas. Doch Präsident Pratt, der die Mexikanische Mission von seinem Haus in Manassa in Colorado aus leitete, sprach sich dagegen aus, dass sie an einen Ort ziehe, wo die Kirche noch nicht richtig Fuß gefasst hatte. Wenn sie es für nötig hielt, umzuziehen, so riet er ihr weiter, solle sie doch nach einem Ort suchen, wo sie unter Heiligen sei und die Möglichkeit habe, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Präsident Pratt ermunterte sie auch, stark zu bleiben. „Dein Glaube“, schrieb er ihr, „hat mich immer sehr inspiriert.“23

Ein Jahr nach dem Tod ihres Sohnes lebte Jesusita noch immer in San Marcos. Casimiro Gutierrez war Zweigpräsident. Er war ein aufrichtiger Mann, der das Beste für den Zweig wollte, aber er tat sich manchmal schwer damit, nach dem Evangelium zu leben, und ihm fehlte Rafaels Talent, die Menschen zu führen. Glücklicherweise sorgten andere Heilige im Zweig und in der Umgebung dafür, dass die Kirche in San Marcos stark blieb.24

Am ersten Sonntag im Juli 1916 hielten die Heiligen eine Zeugnisversammlung ab, und jedes Mitglied des Zweiges gab Zeugnis für das Evangelium und die Hoffnung, die es ihm schenkte. Am 17. Juli, dem Jahrestag der Morde, kam der Zweig ebenfalls zusammen, um der Märtyrer zu gedenken. Sie sangen ein Kirchenlied über das Zweite Kommen Jesu Christi, und Casimiro las ein Kapitel aus dem Neuen Testament vor. Ein anderes Mitglied des Zweiges verglich Rafael und Vicente mit dem Märtyrer Stephanus, der für sein Zeugnis von Christus sein Leben gegeben hatte.25

Guadalupe Monroy sprach ebenfalls. Nachdem die Zapatistas aus der Region vertrieben worden waren, hatte ihr einer der Anführer der rivalisierenden Carrancistas versprochen, er werde sich an dem Mann rächen, der für die Ermordung ihres Mannes verantwortlich gewesen war. „Nein!“, entgegnete sie ihm. „Ich möchte nicht, dass noch eine unglückliche Frau in ihrer Einsamkeit weinen muss wie ich.“ Sie glaubte daran, dass Gott zu seiner Zeit für Gerechtigkeit sorgen werde.26

Nun, am Todestag ihres Mannes, bezeugte sie, dass der Herr ihr Kraft gegeben hatte, ihren Schmerz zu ertragen. „Mein Herz findet Freude und Hoffnung an den schönen Worten des Evangeliums, die an diejenigen gerichtet sind, die bis zum letzten Atemzug die Gesetze und Gebote treu halten“, sagte sie.27

Auch Jesusita war für ihre Familie eine Stütze des Glaubens. Sie versicherte Präsident Pratt: „Unsere Trauer ist tief, aber unser Glaube ist stark, und wir werden diese Religion niemals aufgeben.“28


In Europa löste der Apostel George F. Richards unterdessen Hyrum M. Smith als Präsidenten der Europäischen Mission ab.29 Bevor Ida Smith mit ihrem Mann in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, schrieb sie einen Abschiedsgruß an ihre FHV-Schwestern in Europa und dankte ihnen.

„In den letzten zwei Jahren haben wir erlebt, wie das Interesse an der Mission der Frauenhilfsvereinigung wieder auflebt“, schrieb sie. „Wir haben allen Grund zu der Hoffnung, dass dieses Werk weiter zunehmen wird und immer mehr zu einer Kraft für das Gute wird.“

Unter ihrer Führung war die Frauenhilfsvereinigung in ganz Europa auf mehr als zweitausend Frauen angewachsen. Viele Einheiten waren stark wie nie zuvor und arbeiteten mit dem Roten Kreuz und weiteren Organisationen zusammen, um in der Kriegszeit Armut und Leid zu lindern. Am Ende ihrer Mission hatte Ida neunundsechzig neue Frauenhilfsvereinigungen ins Leben gerufen.

Nun hoffte sie, dass diese ihren Einfluss immer weiter ausdehnten. „Das Feld, auf dem wir arbeiten, ist weit“, schrieb sie, „und ich hoffe, dass alle Schwestern jede Gelegenheit nutzen, um sich einzubringen und ihren Einfluss in einem möglichst großen Kreis geltend zu machen.“ Da sie wusste, dass wegen des Krieges in den Zweigen sowohl Missionare als auch Priestertumsführer fehlten, ermunterte sie die Frauen ausdrücklich, sich die Zeit zu nehmen und missionarische Broschüren zu verteilen.

„In manchen Fällen hat das Großartiges bewirkt“, schrieb sie. „Auf diese Weise wurden für die Verkündigung des Evangeliums bereits viele Türen aufgetan.“30

Präsident Richards unterstützte im Herbst 1916 die Bemühungen der europäischen Schwestern, vor Ort als Missionarinnen zu dienen. Er wies die Missionsleiter an, Missionarinnen zu berufen, sie bei den Konferenzen vor Ort vorzuschlagen, sie einzusetzen und ihnen eine Bescheinigung über ihre Berufung auszuhändigen. Er empfahl auch, Frauen Aufgaben im Zweig zu übertragen, zum Beispiel in der Abendmahlsversammlung zu beten und zu sprechen, was vor dem Krieg die Männer getan hatten.31

In Glasgow in Schottland wurden mehr als ein Dutzend Frauen auf Mission berufen, darunter auch die FHV-Präsidentin des Zweiges, Isabella Blake. Isabella hatte großen Respekt vor Ida Smith. Isabella war bestrebt, es ihr gleichzutun. Ihre Frauenhilfsvereinigung arbeitete daher mit anderen Kirchen zusammen, um die Soldaten und Seeleute mit Kleidung zu versorgen. Wenn sie Lieferungen an die Front schickten, fügten sie aufbauende und aufmunternde Botschaften für die Truppen bei. Außerdem trösteten sie die vielen trauernden Frauen in Glasgow, die im Krieg Angehörige verloren hatten, und beteten die ganze Zeit um das Ende des schrecklichen Konflikts.32

Ida hatte einmal zu Isabella gesagt: „Was auch immer du tust, lass die geistige Seite dabei nicht zu kurz kommen.“ Isabella versuchte, diesen Ratschlag im Kopf zu behalten, während sie ihre Aufgaben schulterte. Alle neuen Missionarinnen waren tagsüber ja erwerbstätig, und einige waren verheiratet und hatten Kinder. Isabella selbst hatte fünf Kinder und erwartete ein sechstes. Die wenige freie Zeit, die sie hatten – an ihrem halben freien Tag unter der Woche und sonst eben sonntags –, verbrachten die Frauen damit, Broschüren zu verteilen, das Evangelium zu verkünden, Versammlungen der Frauenhilfsvereinigung abzuhalten oder sich sonst wie nützlich zu machen, zum Beispiel indem sie verwundete Soldaten im Krankenhaus besuchten.33

Wie so manch anderen Missionarinnen zuvor gelang es den Frauen in Glasgow, auch solche Menschen zu erreichen, die den amerikanischen Missionaren gegenüber eher auf der Hut waren. In den Arbeitervierteln der Stadt fanden sie ein fruchtbares Feld für die Botschaft des Evangeliums vor. Und als schottische Bekehrte konnte Isabella von ihrer eigenen Erfahrung mit dem Evangelium Zeugnis geben. Wenn Isabella mit den Menschen vor Ort sprach, merkte sie, wie freundlich diese waren und dass sie die Wahrheit finden wollten.

„Nur uns – einer kleinen Handvoll Menschen in dieser dicht besiedelten Welt – wurde dieses Wissen über die Familienbeziehungen auf der anderen Seite des Schleiers offenbart“, bezeugte sie. „Wir wissen, dass der Herr den Weg bereitet hat – insofern man seine Anforderungen erfüllt –, dass eine Frau ihrem Mann und ein Mann seiner Frau wiederhergestellt werden wird, und sie werden wieder eins sein in Christus Jesus.“34

Die harmonische Atmosphäre unter den Heiligen in Glasgow trug zum missionarischen Erfolg bei. In Zusammenarbeit mit den wenigen Männern, die in ihrem Zweig verblieben waren, brachten Isabella und die anderen Missionarinnen auch viele Menschen zurück, die die Kirche verlassen hatten. Außerdem hielt die Frauenhilfsvereinigung nun pro Monat nicht mehr nur zwei, sondern vier Versammlungen ab. Isabella mochte insbesondere die Zeugnisversammlungen. „An manchen Abenden beenden wir sie nur äußerst ungern“, berichtete sie.

Bei all den Erfolgen des Zweiges Glasgow und auch wegen der neu berufenen Missionarinnen wünschte sich Isabella, die Kirche wäre in der Stadt schon besser etabliert. „Ich glaube, wenn wir hier ein eigenes kleines Gemeindehaus hätten, um darin einzig und allein Gott zu verehren und Taufen durchzuführen“, schrieb sie an den Hauptsitz der Mission, „wäre dies der schönste Zweig in der gesamten Britischen Mission.“35