2000–2009
Schweig, sei still!
Oktober 2002


Schweig, sei still!

Es genügt zu wissen, wie es in den heiligen Schriften formuliert wird: „Lasst ab, und erkennt, dass ich Gott bin.“

Der Gesang des Männerchors heute Abend hat in mir Erinnerungen geweckt und mir die Lieder, die ich als Kind gesungen habe, ins Gedächtnis gerufen. Inbrünstig schmetterten wir damals:

„Stemmt die Schulter an das Rad, frisch und frank,

treu erfüllt stets eure Pflicht mit Gesang!

Die Arbeit eilt, drum unverweilt

stemmt die Schulter an das Rad!“1

Unsere Gesangsleiterin hat uns Jungen schon beigebracht, wie man singt. Wir mussten einfach! Schwester Stella Waters fuchtelte mit dem Taktstock nur wenige Zentimeter vor unserer Nase herum und stampfte dazu mit den Füßen den Takt, dass der Boden knirschte.

Wenn wir ordentlich parierten, ließ Schwester Waters uns ein Lieblingslied auswählen. Immer wieder entschieden wir uns für:

Meister, es toben die Winde,

die Wellen bedrohn uns sehr;

der Himmel umwölkt sich gar schaurig,

wo nehmen wir Rettung her?

Fragst du nicht, ob wir verderben,

merkst nicht, wie wir bedrängt?

Jeden Augenblick kann es geschehen,

und wir sind im Tod versenkt!

Darauf der zuversichtliche Refrain:

Der Wind und das Meer folgen, wie er will:

Schweig, sei still! Schweig, sei still!

Ob es auch wüte, das stürmsche Meer,

ob’s Menschen, ob’s Geister sind oder was mehr:

Das Schiff bleibet sicher, wo Jesus Christ,

der Herr aller Herren, der Meister ist.

Es folgt ihm alles, wie er es will:

Schweig, sei still! Schweig, sei still!

Es folgt ihm alles, wie er es will:

Herz, schweig, sei still!2

Als Junge hatte ich eine ungefähre Vorstellung von den Gefahren der stürmischen See. Aber ich konnte mir kaum vorstellen, welche bösen Geister uns noch plagen, unsere Träume zunichte machen, unsere Freude dämpfen oder uns von der Reise ins celestiale Reich Gottes abbringen könnten.

Die Liste der bösen Geister ist lang und jeder Mensch, ob jung oder alt, weiß, mit welchen er zu kämpfen hat. Ich werde nur ein paar aufzählen: den bösen Geist der Habgier, den bösen Geist der Unehrlichkeit, den bösen Geist der Schulden, den bösen Geist des Zweifels, den bösen Geist der Drogen und die bösen Zwillingsgeister Unsittlichkeit und Unkeuschheit. Jeder einzelne dieser Geister vermag in unserem Leben Unheil anzurichten. Wenn mehrere zusammenkommen, kann uns das völlig vernichten.

Was die Habgier betrifft, werden wir in Kohelet gewarnt: „Wer das Geld liebt, bekommt vom Geld nie genug; wer den Luxus liebt, hat nie genug Einnahmen.“3

Jesus riet uns: „Gebt Acht, hütet euch vor jeder Art von Habgier. Denn der Sinn des Lebens besteht nicht darin, dass ein Mensch aufgrund seines großen Vermögens im Überfluss lebt.“4

Wir müssen Bedürfnisse und Habgier unterscheiden lernen.

Was den bösen Geist der Unehrlichkeit anbelangt, so taucht er an verschiedenen Stellen auf. Eine solche Stelle ist die Schule. Lassen wir doch vom Schummeln, Betrügen, Ausnutzen anderer und dergleichen mehr ab. Lassen wir Redlichkeit unsere Richtschnur sein.

Wenn Sie sich entscheiden müssen, fragen Sie nicht: „Was werden die anderen von mir halten?“, sondern „Was werde ich selbst von mir halten?“

Die Versuchung, dem bösen Geist der Schulden zu erliegen, begegnet uns täglich mehrmals. Ich zitiere, was Präsident Gordon B. Hinckley uns rät:

„Ich bin sehr beunruhigt wegen der hohen Konsumentenkreditrate, die über dem Land hängt, auch über unseren Mitgliedern. …

Wir lassen uns von verlockender Werbung verführen. Im Fernsehen sehen wir das verlockende Angebot, eine Hypothek von bis zu 125 Prozent des Wertes unseres Hauses aufzunehmen. Niemand redet dabei von den Zinsen. …

Ich weiß, dass man vielleicht Geld aufnehmen muss, um ein Haus zu kaufen. Aber kaufen wir uns doch ein Haus, das wir uns leisten können, damit wir mit den Zahlungen, die uns unbarmherzig und unablässig manchmal bis zu dreißig Jahren verfolgen, fertig werden.“5

Ich möchte hinzufügen: Wir dürfen nicht zulassen, dass wir uns mehr wünschen, als wir bezahlen können.

Wenn wir über den bösen Geist der Drogen sprechen, meine ich damit natürlich auch den Alkohol. Drogen schwächen unser Denk- und Urteilsvermögen, sie verhindern vernünftige und weise Entscheidungen. Oft führen sie zur Gewalttätigkeit, zur Misshandlung von Frau und Kindern, oder sie verleiten uns zu einem Verhalten, das Unschuldigen Schmerz und Kummer bereitet. „Keine Macht den Drogen!“ ist ein gutes Motto, um Entschlossenheit zu beweisen. Die heiligen Schriften untermauern dies:

„Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?

Wer den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben. Denn Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr.“6

Was die bösen Zwillingsgeister – Unsittlichkeit und Unkeuschheit – betrifft, sollte ich vielleicht lieber von Drillingen sprechen und die Pornografie mit einschließen. Diese drei gehören zusammen.

In der Auslegung von Lehis Traum ist eine ziemlich passende Beschreibung enthalten, wie zerstörerisch Pornografie wirkt: „Und die finsteren Nebel sind die Versuchungen des Teufels, der den Menschenkindern die Augen blind macht und das Herz verhärtet und sie auf die breiten Straßen wegführt, so dass sie zugrunde gehen und verloren sind.“7

Ein Apostel unserer Tage, Hugh B. Brown, hat erklärt: „Jegliche Unsittlichkeit, die zu unreinen Gedanken verleitet, entweiht den Körper – den Tempel, in dem der Heilige Geist wohnen sollte.“8

Ich möchte ein brillantes Zitat aus der Improvement Era anführen. Es stammt aus dem Jahr 1917, gilt aber auch heute noch: „Die gegenwärtig weit verbreitete Mode, sich unschicklich zu kleiden, die Flut unsittlicher Werke in der Literatur, im Theater und insbesondere im Film, … die Duldung des Unsittlichen im alltäglichen Gespräch und im Verhalten richten verheerenden Schaden an, weil so das Laster genährt wird, das die Seele vernichtet.“9

Alexander Pope schrieb in seinem inspirierten „Essay vom Menschen“:

Das Laster ist grausam, es lässt dich erblassen,

du musst es nur sehen, um es zu hassen.

Doch nimmst du sein Angesicht häufig in Kauf,

wird Leid dir zu Mitleid und froh nimmst du’s auf.10

Vielleicht fasst Paulus in seinem Brief an die Korinther am besten zusammen, was sich über diesen bösen Geist sagen lässt: „Noch ist keine Versuchung über euch gekommen, die den Menschen überfordert. Gott ist treu; er wird nicht zulassen, dass ihr über eure Kraft hinaus versucht werdet. Er wird euch in der Versuchung einen Ausweg schaffen, so dass ihr sie bestehen könnt.“11

Uns allen bekommt es unendlich besser, der Stimme des Gewissens zu lauschen und ihr zu folgen, denn das Gewissen ist stets erst ein mahnender Freund, bevor es uns strafend richtet.

Vom Herrn selbst stammt das oberste Gebot: „Seid rein, die ihr die Gefäße des Herrn tragt.“12

Brüder, es gibt eine Verantwortung, der sich niemand entziehen kann, und zwar dafür, welchen Einfluss man ausübt.

Dieser Einfluss macht sich mit Sicherheit in unserer Familie bemerkbar. Wir Väter vergessen manchmal, dass auch wir einmal klein waren, und ein kleiner Junge kann seine Eltern mitunter ganz schön strapazieren.

Ich weiß noch, wie sehr ich als kleiner Knirps Hunde mochte. Eines Tages schnappte ich meine Handkarre, stellte eine Apfelsinenkiste hinein und begab mich auf Hundeschau. Damals trieben sich überall Hunde herum – bei der Schule, auf dem Bürgersteig oder auf unbebauten Grundstücken, von denen es eine Menge gab. Wenn ich einen Hund entdeckt und gefangen hatte, steckte ich ihn in die Kiste, brachte ihn nach Hause, sperrte ihn in den Kohlenschuppen ein und legte den Riegel vor. An jenem Tag schleppte ich wohl sechs Hunde unterschiedlicher Größe an, die ich so zu meinen Gefangenen machte. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit all den Hunden anfangen sollte, also sprach ich auch mit niemandem darüber.

Als mein Vater von der Arbeit nach Hause kam, nahm er wie immer den Kohleneimer und ging zum Kohlenschuppen, um ihn zu füllen. Können Sie sich vorstellen, wie erschrocken und durcheinander er war, als er die Tür aufmachte und ihm plötzlich sechs Hunde entgegensprangen, die alle auf einmal entwischen wollten? Ich entsinne mich, dass mein Vater ein wenig rot anlief, sich dann aber beruhigte und mir ganz ruhig sagte: „Tommy, der Kohlenschuppen ist für Kohlen da. Die Hunde gehören von Rechts wegen anderen Leuten.“ Ich beobachtete ihn dabei genau und lernte dadurch etwas über Geduld und Ruhe.

Das war auch gut so, denn etwas Ähnliches trug sich später mit meinem jüngsten Sohn, Clark, zu.

Clark mochte schon immer Tiere, Vögel und Reptilien – einfach alles, was lebt. Manchmal sah es daher bei uns ein bisschen chaotisch aus. Eines Tages brachte er, als er noch klein war, aus dem Provo Canyon eine Wasserschlange mit nach Hause, die er Herman nannte.

In null Komma nichts war Herman verschwunden. Meine Frau fand ihn in der Besteckschublade. Wasserschlangen sind eigentlich immer da, wo man sie am wenigsten vermutet. Clark legte Herman daraufhin in die Badewanne, steckte den Stöpsel in den Abfluss, ließ etwas Wasser einlaufen und klebte ein Schild an die Wanne, auf dem stand: „Wanne nicht benutzen! Eigentum von Herman!“ Wir mussten also auf das andere Bad ausweichen, weil Herman diesen stillen Ort für sich beanspruchte.

Eines Tages jedoch war Herman zu unserer Überraschung fort. Er hätte Houdini heißen sollen. Er war weg! Also putzte meine Frau am nächsten Tag die Wanne und machte sie wieder benutzbar. Einige Tage verstrichen.

Eines Abends beschloss ich, mir ein gemütliches Bad zu genehmigen. Ich ließ also reichlich warmes Wasser einlaufen und legte mich dann genüsslich in die Wanne, um ein wenig zu entspannen. Als ich so vor mich hinträumte, erreichte das Seifenwasser allmählich den Überlauf und begann hineinzufließen. Was meinen Sie, wie überrascht ich war, als ich auf den Überlauf starrte und Herman geradewegs auf mein Gesicht zugeschwommen kam! „Frances!“, rief ich meine Frau, „Herman ist wieder da!“

Herman wurde nochmal eingefangen und in eine ausbruchsichere Kiste gesperrt, und dann machten wir einen kleinen Ausflug zum Vivian Park im Provo Canyon, wo wir ihn ins klare Wasser des South Fork Creek entließen. Danach sahen wir ihn nie wieder.

In Lehre und Bündnisse, Abschnitt 107, Vers 99, steht eine knappe, aber eindeutige Ermahnung an alle Priestertumsträger: „Darum lasst einen jeden lernen, was ihm obliegt, und lasst ihn mit allem Eifer das Amt ausüben lernen, zu dem er bestimmt worden ist.“ Ich nehme diesen Auftrag seit jeher ernst und bin bemüht, mich daran zu halten.

Immer wieder kommt mir gelegentlich der Leitgedanke in den Sinn, den Präsident John Taylor den Brüdern, die das Priestertum tragen, mitgegeben hat: „Wenn Sie Ihre Berufung nicht groß machen, wird Gott Sie für diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die Sie hätten erretten können, wenn Sie Ihre Pflicht getan hätten.“13

Was die Pflichterfüllung angeht, habe ich gelernt: Wenn wir auf stille Eingebungen achten und sie unverzüglich umsetzen, dann lenkt der himmlische Vater unsere Schritte und segnet uns und auch andere. Ich wüsste nicht, was beglückender oder kostbarer wäre, als wenn wir einer Eingebung folgen und dann feststellen, dass der Herr durch uns das Gebet eines anderen erhört hat.

Dazu mag ein Beispiel genügen. Eines Tages, vor etwas über einem Jahr, hatte ich, nachdem ich einiges im Büro erledigt hatte, das starke Gefühl, ich müsse eine ältere Witwe aufsuchen, die im St.-Josefs-Heim hier in Salt Lake City untergebracht war. Ich fuhr direkt dorthin.

Als ich in ihr Zimmer kam, war es leer. Ich fragte einen Pfleger nach ihrem Verbleib und wurde in einen Aufenthaltsraum geführt. Da saß diese liebe Witwe mit ihrer Schwester und einer weiteren Freundin. Wir unterhielten uns nett miteinander.

Mitten im Gespräch kam ein Mann zur Tür herein, der sich eine Dose Sprudel aus dem Automaten ziehen wollte. Er schaute mich an und sagte: „Sie sind doch Tom Monson.“

„Ja“, erwiderte ich. „Und Sie sehen wie einer von den Hemingways aus.“ Es stellte sich heraus, dass es Stephen Hemingway war, der Sohn von Alfred Eugene Hemingway, den ich immer Gene nannte. Gene war vor vielen Jahren mein Ratgeber, als ich Bischof war. Stephen erzählte mir, dass sein Vater in demselben Heim untergebracht war und im Sterben lag. Er hatte meinen Namen genannt und die Familie wollte Verbindung mit mir aufnehmen, konnte aber meine Telefonnummer nicht finden.

Ich entschuldigte mich für einen Augenblick und ging sofort mit Stephen zum Zimmer meines ehemaligen Ratgebers. Die übrigen Kinder waren auch dort, seine Frau war schon vor einigen Jahren gestorben. Dass ich Stephen im Aufenthaltsraum getroffen hatte, stellte für die Mitglieder der Familie die Antwort des himmlischen Vaters auf ihren sehnsüchtigen Wunsch dar, ich möge der Bitte ihres Vaters entsprechen und ihn noch einmal sehen, bevor er starb. Mir schien das auch so, denn hätte Stephen nicht genau zu der Zeit den Raum betreten, als ich mich dort aufhielt, hätte ich nicht einmal gewusst, dass Gene in diesem Heim war.

Wir gaben ihm einen Segen. Es herrschte ein friedevoller Geist. Wir unterhielten uns noch nett und dann ging ich.

Am nächsten Morgen erhielt ich telefonisch die Nachricht, dass Gene Hemingway gestorben war – nur 20 Minuten nachdem er von seinem Sohn und von mir den Segen bekommen hatte.

Ich richtete ein stilles Dankgebet an den Vater im Himmel, dass er es so gefügt hatte, dass mich meine Eingebung ins St.-Josefs-Heim und zu meinem lieben Freund Alfred Eugene Hemingway führte.

Ich stelle mir gern vor, dass Gene Hemingways Gedanken an jenem Abend, als der Geist so schön mit uns war und als wir gemeinsam demütig beteten und einen Priestertumssegen sprachen, um die Worte des Liedes „Meister, es toben die Winde“ kreisten, das ich zu Beginn meiner Ansprache zitiert habe:

O du, mein großer Erretter,

lass mich nicht mehr allein!

Dann gelange ich glücklich zum Hafen

und werde geborgen sein.

Ich mag dieses Lied immer noch sehr gern und bezeuge, dass es zu trösten vermag:

Ob es auch wüte, das stürmsche Meer,

ob’s Menschen, ob’s Geister sind oder was mehr:

Das Schiff bleibet sicher, wo Jesus Christ,

der Herr aller Herren, der Meister ist.

Es folgt ihm alles, wie er es will:

Herz, schweig, sei still!14

Oder, wie es in den heiligen Schriften formuliert wird: „Lasst ab, und erkennt, dass ich Gott bin.“15 Ich bezeuge, dass dies wahr ist. Im Namen Jesu Christi. Amen.

  1. Will L. Thompson (1847–1909), „Stemmt die Schulter an das Rad“, Gesangbuch, Nr. 165.

  2. Mary Ann Baker (etwa 1874), „Meister, es toben die Winde“, Gesangbuch, Nr. 66.

  3. Kohelet 5:9.

  4. Lukas 12:15.

  5. „An die Jungen und die Männer“, Der Stern, Januar 1999, Seite 65.

  6. 1 Korinther 3:16,17.

  7. 1 Nephi 12:17.

  8. The Abundant Life, 1965, Seite 65.

  9. Joseph F. Smith, „Unchastity the Dominant Evil of the Age“, Improvement Era, Juni 1917, Seite 742.

  10. In John Bartlett, Familiar Quotations, 14. Aufl., 1968, Seite 409.

  11. 1 Korinther 10:13.

  12. LuB 133:5.

  13. Zitiert in Hugh B. Brown, The Abundant Life, Seite 37.

  14. Gesangbuch, Nr. 66.

  15. Psalm 46:11.