2000–2009
„Damit sie in uns eins seien“
Oktober 2002


„Damit sie in uns eins seien“

Wir können erst dann mit Gott und Christus eins sein, wenn wir ihren Willen und ihre Interessen zu unserem größten Wunsch machen.

Als das irdische Wirken Jesu sich dem Ende näherte und er wusste, „dass seine Stunde gekommen war“ (Johannes 13:1), versammelte er seine Apostel in einem Raum im Obergeschoss eines Hauses in Jerusalem. Nach dem Mahl und nachdem er ihnen die Füße gewaschen und sie unterwiesen hatte, sprach er eine erhabene Fürbitte für die Apostel und für alle, die an ihn glaubten. Er flehte zum Vater:

„Aber ich bitte nicht nur für diese hier, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben.

Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.

Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast; denn sie sollen eins sein, wie wir eins sind;

ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit.“ (Johannes 17:20-23.)

Wie herrlich es doch ist, darüber nachzusinnen, dass wir zu der vollkommenen Einigkeit eingeladen sind, die zwischen dem Vater und dem Sohn herrscht. Wie kann das geschehen?

Wenn wir über diese Frage nachdenken, wird uns klar, dass wir zunächst einmal in uns selbst eins sein müssen. Wir sind duale Wesen aus Fleisch und Geist und manchmal spüren wir eine innere Disharmonie, einen inneren Konflikt. Unser Geist wird vom Gewissen, dem Licht Christi, erhellt (siehe Moroni 7:16; LuB 93:2); er geht von Natur aus auf die Eingebungen des Heiligen Geistes ein und wünscht sich, der Wahrheit zu folgen. Aber die Begierden und Versuchungen, denen das Fleisch unterworfen ist, können, wenn man ihnen nachgibt, den Geist überwältigen und beherrschen. Paulus hat gesagt:

„Ich stoße also auf das Gesetz, dass in mir das Böse vorhanden ist, obwohl ich das Gute tun will.

Denn in meinem Innern freue ich mich am Gesetz Gottes,

ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das mit dem Gesetz meiner Vernunft im Streit liegt und mich gefangen hält im Gesetz der Sünde, von dem meine Glieder beherrscht werden.“ (Römer 7:21-23.)

Nephi brachte ähnliche Empfindungen zum Ausdruck:

„Trotz der großen Güte des Herrn, der mir seine großen und wunderbaren Werke gezeigt hat, ruft mein Herz aus: Oh, was bin ich doch für ein unglückseliger Mensch! Ja, mein Herz grämt sich meines Fleisches wegen; meine Seele ist bekümmert wegen meiner Übeltaten.

Ringsum bin ich umschlossen, ja, wegen der Versuchungen und Sünden, die so leicht über mich kommen.“ (2 Nephi 4:17,18.)

Aber Nephi dachte an den Erretter und kam zu der hoffnungsvollen Schlussfolgerung: „Doch ich weiß, in wen ich mein Vertrauen gesetzt habe.“ (2 Nephi 4:19.) Was meint er damit?

Auch Jesus war ein Wesen aus Fleisch und Geist, aber er gab der Versuchung nicht nach (siehe Mosia 15:5). Wir können uns im Streben nach Einigkeit und innerem Frieden an ihn wenden, denn er versteht uns. Er kennt das innere Ringen und er weiß auch, wie man siegreich daraus hervorgehen kann. Wie Paulus gesagt hat: „Wir haben ja nicht einen Hohenpriester, der nicht mitfühlen könnte mit unserer Schwäche, sondern einen, der in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist, aber nicht gesündigt hat.“ (Hebräer 4:15.)

Am wichtigsten ist, dass wir Jesus bitten können, uns zu helfen, dass wir diese innere Einigkeit wiedererlangen, nachdem wir uns auf Sünde eingelassen und unseren inneren Frieden zerstört haben. Schon bald nach seiner Fürbitte, wir mögen „vollendet sein in der Einheit“, litt Jesus und gab sein Leben hin, um für unsere Sünden zu sühnen. Die Macht seines Sühnopfers kann die Folgen der Sünde in uns tilgen. Wenn wir umkehren, rechtfertigt und reinigt uns seine sühnende Gnade (siehe 3 Nephi 27:16–20). Dann ist es, als hätten wir der Versuchung gar nicht nachgegeben.

Wenn wir uns Tag für Tag und Woche für Woche bemühen, den Weg Christi zu gehen, dann übernimmt der Geist immer mehr die Führung, der innere Kampf wird weniger heftig und die Versuchungen machen uns nicht mehr so sehr zu schaffen. Zwischen Geist und Körper herrscht immer größere Harmonie und unser Körper wandelt sich, so dass er, um es mit Paulus zu sagen, nicht mehr der Sünde zur Verfügung steht als Waffe der Ungerechtigkeit, sondern dass er Gott zur Verfügung steht – als Waffe der Gerechtigkeit (siehe Römer 6:13).

Indem wir diese innere Einigkeit erlangen, bereiten wir uns auf den größeren Segen vor – nämlich mit Gott und Christus eins zu werden.

Jesus erlangte vollkommene Einigkeit mit dem Vater, indem er sich in Fleisch und Geist dem Willen des Vaters unterwarf. Sein geistliches Wirken war immer zielgerichtet, da er völlig aufrichtig war und sich durch nichts von seinem Weg abbringen ließ. In Bezug auf seinen Vater hat Jesus gesagt: Ich tue immer das, „was ihm gefällt“ (Johannes 8:29).

Weil es der Wille des Vaters war, unterwarf Jesus sich sogar dem Tod – denn „der Wille des Sohnes ist im Willen des Vaters verschlungen“ (Mosia 15:7).

Das war gewiss keine Kleinigkeit. Dieses Leiden, sagte er, „ließ selbst mich, Gott, den Größten von allen, der Schmerzen wegen zittern, aus jeder Pore bluten und an Leib und Geist leiden – und ich wollte den bitteren Kelch nicht trinken müssen, sondern zurückschrecken –

doch Ehre sei dem Vater: Ich trank davon und führte das, was ich für die Menschenkinder vorhatte, bis zum Ende aus“ (LuB 19:18,19).

Diese Worte offenbaren, dass der Erretter vor allem darauf bedacht ist, den Vater zu verherrlichen. Der Vater ist in dem Sinne „im“ Sohn, dass die Herrlichkeit des Vaters und der Wille des Vaters alles beherrschen, was der Sohn tut.

Während des letzten Abendmahls mit seinen Aposteln sagte der Erretter:

„Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Winzer.

Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt.“ (Johannes 15:1,2.)

Wie diese Läuterung aussehen mag, welche Opfer dazu gehören, können wir wahrscheinlich nicht im Voraus wissen. Wenn wir aber, wie der reiche junge Mann, fragen: „Was fehlt mir jetzt noch?“ (Matthäus 19:20), würde der Erretter ebenfalls antworten: „Komm und folge mir nach“ (Matthäus 19:21), „sei mein Jünger, wie ich der Jünger des Vaters bin; werde‚ ‚wie ein Kind, fügsam, sanftmütig, demütig, geduldig, voll von Liebe und willig, [dich] allem zu fügen, was der Herr für richtig hält, [dir] aufzuerlegen, ja, wie eben ein Kind sich seinem Vater fügt‘ (Mosia 3:19)“.

Präsident Brigham Young hat über das, was uns so zu schaffen macht, voller Einsicht gesagt:

„Nach allem, was gesagt und getan wurde, und da Gott dieses Volk doch schon so lange führt – merkt ihr da nicht, dass wir zu wenig auf unseren Gott vertrauen? Könnt ihr das bei euch selbst bemerken? Ihr mögt fragen: ‚Bruder Brigham, merkst du es bei dir?‘ Ja, ich merke es, ich sehe, dass ich in gewissem Maß dem, dem ich eigentlich vertraue, nicht genug vertraue. – Warum? Weil ich nicht genügend Kraft habe, und das liegt an den Auswirkungen des Falls. …

Bisweilen regt sich etwas in mir, was … zwischen meinen Interessen und den Interessen des Vaters im Himmel eine Trennlinie zieht – etwas, was dafür sorgt, dass meine Interessen und die Interessen des Vaters im Himmel nicht genau übereinstimmen.

Soweit es uns möglich ist und unsere gefallene Natur es zulässt, soweit wir Glauben und die Erkenntnis erlangen, die uns hilft, uns selbst zu verstehen, sollten wir spüren und erkennen, dass die Interessen des Gottes, dem wir dienen, unsere eigenen Interessen sind und dass wir gar keine anderen Interessen haben, sei es in Zeit oder Ewigkeit.“ (Deseret News, 10. September 1856, Seite 212.)

Gewiss können wir erst dann mit Gott und Christus eins sein, wenn wir ihren Willen und ihre Interessen zu unserem größten Wunsch machen. Solche Ergebenheit erreicht man nicht an einem einzigen Tag, doch wenn wir dazu bereit sind, führt der Herr uns durch den Heiligen Geist, bis er nach einiger Zeit in uns ist, wie der Vater in ihm ist. Manchmal erbebe ich, wenn ich bedenke, was dafür erforderlich sein mag, aber ich weiß, dass nur in dieser vollkommenen Einigkeit die Fülle der Freude zu finden ist. Es erfüllt mich mit unaussprechlicher Dankbarkeit, dass ich eingeladen bin, eins zu sein mit diesen heiligen Wesen, die ich als meinen himmlischen Vater und als meinen Erlöser verehre und anbete.

Möge Gott das Gebet des Erretters erhören und uns alle dahin führen, dass wir eins sind mit ihnen. Im Namen Jesu Christi. Amen.