2000–2009
Auserwählt zu dienen
Oktober 2002


Auserwählt zu dienen

Es erfordert Weisheit, Urteilsvermögen, Hilfe von Gott – und unvermeidlicherweise auch Opfer –, wenn wir unsere Familie behüten und außerdem in der Kirche dienen wollen, ohne dabei schneller zu laufen, als wir Kraft haben.

Buenas tardes, hermanos y hermanas. Viele Grüße von den Mitgliedern und Missionaren in Lateinamerika. Wie viele von Ihnen wissen, wurden Elder Oaks mit seiner Frau und meine Frau und ich berufen, im Gebiet Philippinen bzw. Chile zu dienen. Das hat für viel Gesprächsstoff gesorgt und war offenbar für die Mitglieder von größerem Interesse, als wir annahmen. Was immer Sie auch vermuten, ich kann Ihnen versichern, dass wir zu diesen entlegenen Orten nicht als zwei der vier Reiter gehen, von denen in der Offenbarung des Johannes die Rede ist. Für diejenigen, die darin ein „Zeichen“ sehen wollen: Bitte betrachten Sie dies als ein Zeichen dafür, wie wunderbar sich die Kirche in aller Welt ausbreitet, wie die Mitglieder und Missionare die verschiedensten Sprachen sprechen und auf allen Kontinenten zu finden sind. Es ist eine Freude, überall Mitglieder der Kirche kennen zu lernen und mit ihnen zu dienen – zu Hause oder im Ausland –, und wir danken Ihnen für Ihre Gebete und Ihr Interesse an diesem Werk.

Diese Arbeit der Zwölf ist natürlich nichts Neues. Ich muss sagen, dass es für uns wesentlich einfacher ist, an einen anderen Ort zu gelangen, als damals für unsere Vorgänger. Das Beste ist, dass meine Frau bei mir ist, dass ich sie nicht zu Hause zurücklassen muss, wo sie alleine für sich und unsere Kinder sorgt. Außerdem muss ich mir unterwegs keine Arbeit suchen, um das Fahrgeld nach Santiago zu verdienen. Wir sind in nur wenigen Stunden mit einem modernen Flugzeug an unser Ziel gelangt und mussten nicht Wochen oder gar Monate auf dem Zwischendeck eines Schiffes zubringen. Als ich ankam, war ich nicht durchgefroren, litt nicht unter Fieber, Cholera oder Erschöpfung. Allerdings war ich erkältet, und ein Flugzeug hatte eine Stunde Verspätung. Ich hoffte, dass diese Bedrängnisse mich in die Lage versetzen, eines Tages Petrus und Paulus, Brigham Young und Wilford Woodruff gegenüberzutreten.

Wie viele von Ihnen habe auch ich von klein auf Geschichten darüber gehört, wie die Brüder in der Anfangszeit der Kirche nach Kanada, Europa, zu den Inseln im Pazifikraum, nach Mexiko, Asien und zu anderen Orten aufbrachen. Vor kurzem las ich etwas über Parley P. Pratts kurze Mission in Chile. Dort starb sein kleiner Sohn. Er wurde in Valparaíso begraben. Ich habe von Elder Melvin J. Ballard gelesen, der berufen wurde, Südamerika zu weihen, als dieser herrliche Kontinent noch ein unerschlossenes und überwältigend großes Missionsfeld war. Der Dienst, durch den eine junge Kirche wächst, wird nicht wahllos zugeteilt oder leichtfertig erfüllt. Mitunter mussten große Hindernisse überwunden und große Opfer gebracht werden.

Hier ist nicht nur von den Brüdern die Rede, die sich damals auf den Weg machten, um zu dienen, sondern auch von den Frauen, die sie unterstützt haben und die außerdem für sich selbst und für ihre Kinder sorgten, zu Hause blieben, um die Kinder großzuziehen und die Familie, diesen anderen Teil des Weingartens des Herrn, der ihm so am Herzen liegt, zu behüten.

Als sich Vilate Kimballs Mann das zweite Mal auf den Weg nach England machte, war sie sehr schwach und so sehr von Schüttelfrost geplagt, dass sie ihrem Mann lediglich die Hand geben konnte, als er sich unter Tränen von ihr verabschiedete. Der kleine David war noch nicht einmal vier Wochen alt, und nur einem Kind, dem vierjährigen Heber Parley, ging es so gut, dass er Wasser für die kranke Familie herbeischaffen konnte. Nachdem ihr Mann fort war, hatte Vilate Kimball gar keine Kraft mehr, und man musste ihr helfen, sich wieder ins Bett zu legen.

Auch Mary Ann Young und ihre Kinder waren sehr krank, als Brigham Young sich auf den Weg in dieselbe Mission machte. Ihre finanzielle Situation war bedenklich. Einer herzzerreißenden Schilderung zufolge hat sie mit dünnen Kleidern und vor Kälte zitternd im tiefsten Winter den Mississippi überquert und dabei ihre kleine Tochter an sich gedrückt – auf dem Weg zum Zehntenbüro in Nauvoo, wo sie um ein paar Kartoffeln bat. Danach überquerte die noch immer von Fieber geplagte Frau mit ihrem Kind wieder den reißenden Fluss. Wenn sie ihrem Mann schrieb, verlor sie aber kein Wort über diese Schwierigkeiten.1

Heute stehen wir selten vor derartigen Herausforderungen, doch viele Missionare und Mitglieder bringen noch immer große Opfer, um das Werk des Herrn zu verrichten. Wir werden gesegnet und die Kirche macht Fortschritte und wir alle hoffen, dass das Dienen niemals so schwierig wird wie damals in den Anfangstagen der Kirche, doch so wie die Missionare von Oslo bis Osorno in Chile und von Seattle bis Cebu auf den Philippinen singen, sind wir „auserwählt zu dienen“.2 Es erfordert Weisheit, Urteilsvermögen, Hilfe von Gott – und unvermeidlicherweise auch Opfer –, wenn wir unsere Familie behüten und außerdem in der Kirche dienen wollen, ohne dabei schneller zu laufen, als wir Kraft haben.3 Von Adam an bis heute war und ist wahrer Glaube an den Herrn Jesus Christus immer mit Opfern verbunden. Unsere kleine Gabe soll symbolisch sein erhabenes Opfer widerspiegeln.4 Der Prophet Joseph Smith hatte seinen Blick beständig auf das Sühnopfer Jesu Christi gerichtet und lehrte, dass eineReligion, die nicht fordert, dass man alles opfert, niemals genug Kraft habe, das ewige Leben zustande zu bringen.5

Ich möchte Ihnen von einem Beispiel aus unserer Zeit erzählen, das die Herausforderungen und die Segnungen zeigt, die mit unserer Berufung zum Dienen einhergehen können. Eine liebe Schwester sagte vor kurzem zu einem guten Freund: „Ich möchte dir erzählen, wie ich aufgehört habe, mich über die Zeit, die mein Mann als Bischof aufwendet, und die Opfer, die er dabei bringt, aufzuregen. Eigenartigerweise trat nämlich immer dann bei einem Mitglied der Gemeinde ein ‚Notfall‘ ein, wenn wir zwei gerade ausgehen und etwas Besonderes unternehmen wollten.

Eines Tages schüttete ich meinem Mann mein Herz aus, und auch er war der Meinung, dass wir zusätzlich zum Montagabend noch einen weiteren Abend in der Woche für uns freihalten sollten. Der erste Abend mit einer ‚Verabredung‘ war gekommen und wir wollten gerade ins Auto steigen, als das Telefon klingelte.

‚Das ist ein Test‘, sagte ich lächelnd. Das Telefon klingelte weiter. ‚Denk an unsere Abmachung. Denk an unsere Verabredung. Denk an mich. Lass das Telefon klingeln!‘ Da lächelte ich schon nicht mehr.

Mein armer Mann saß zwischen zwei Stühlen. Ich wusste genau, dass seine größte Loyalität mir galt und ich wusste auch, dass er sich genauso wie ich auf diesen Abend gefreut hatte. Doch das Klingeln des Telefons schien ihn zu lähmen.

‚Ich geh lieber mal ran‘, sagte er und schaute mich traurig an. ‚Wahrscheinlich ist es gar nichts Wichtiges.‘

‚Wenn du das tust, fällt unsere Verabredung ins Wasser‘, rief ich. ‚Das weiß ich.‘

Er drückte meine Hand und sagte: ‚Bin gleich wieder da‘, eilte ins Haus und ging ans Telefon.

Als mein Mann dann nicht gleich wieder zum Auto zurückkam, wusste ich, was los war. Ich stieg aus, ging ins Haus und legte mich schlafen. Am nächsten Morgen entschuldigte er sich leise, ich nahm die Entschuldigung noch leiser an, und damit war es erledigt.

So dachte ich jedenfalls. Ich merkte, dass mich dieser Vorfall noch etliche Wochen lang beschäftigte. Ich gab meinem Mann keine Schuld, aber ich war trotzdem enttäuscht. Die Erinnerung daran war noch ganz frisch, als ich einer Frau aus der Gemeinde begegnete, die ich kaum kannte. Sehr zögerlich bat sie mich um ein Gespräch. Dann erzählte sie, dass sie angefangen hatte, sich für einen Mann zu interessieren, der scheinbar Abwechslung in ihr eintöniges Leben brachte. Ihr Mann arbeitete ganztags und studierte auch noch. Ihre Wohnung erschien ihr wie ein Gefängnis. Sie hatte kleine Kinder, die ihr oft viel abverlangten, die laut waren und sie viel Kraft kosteten. Sie meinte: ‚Ich war sehr versucht, das, was ich als unglückliches Leben betrachtete, zurückzulassen und mit diesem Mann fortzugehen. Ich hatte einfach das Gefühl, ich hätte etwas Besseres verdient als das, was ich hatte. Ich sagte mir, ich könne meinen Mann, meine Kinder, meine Tempelbündnisse und die Kirche hinter mir lassen und mit diesem Fremden meinGlück finden.‘

Sie sagte: ‚Wir hatten einen Plan gefasst und schon einen Zeitpunkt für meine Flucht festgelegt. Doch in einem letzten Anflug von Vernunft sagte mir mein Gewissen, ich solle Ihren Mann, den Bischof, anrufen. Ich sage „Gewissen“, aber ich weiß, dass es eine geistige Eingebung direkt vom Himmel war. Fast gegen meinen Willen rief ich an. Das Telefon klingelte und klingelte. Ich war in so einer Verfassung, dass ich tatsächlich dachte: „Wenn der Bischof nicht ans Telefon geht, ist das ein Zeichen, dass ich meinen Plan umsetzen soll.“ Das Telefon klingelte weiter und ich wollte schon auflegen und geradewegs in den Untergang laufen, als ich plötzlich die Stimme Ihres Mannes hörte. Wie ein Blitz durchfuhr sie meine Seele. Plötzlich merkte ich, dass ich weinte, und fragte: „Bischof, sind Sie das? Ich habe ein Problem. Ich brauche Hilfe.“ Ihr Mann hat mir geholfen und heute bin ich in Sicherheit, weil er ans Telefon gegangen ist.

Wenn ich zurückschaue, erkenne ich, dass ich müde, töricht und anfechtbar war. Ich liebe meinen Mann und meine Kinder von ganzem Herzen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie mein Leben ohne sie wäre. Wir erleben immer noch schwierige Zeiten. Ich weiß, dass jeder so etwas durchmacht. Aber jetzt haben wir uns einiger Probleme angenommen und nun sieht alles viel besser aus. Und alles wird letzten Endes besser werden.‘ Dann sagte sie: ‚Ich kenne Sie nicht so gut, aber ich möchte Ihnen danken, dass Sie Ihren Mann in seiner Berufung unterstützen. Ich weiß nicht, welchen Preis Sie oder Ihre Kinder für seinen Dienst zahlen, aber wenn Sie an einem schwierigen Tag ein Opfer bringen müssen, dann denken Sie daran, wie dankbar ich in alle Ewigkeit sein werde für das Opfer, das Leute wie Sie bringen, damit Leute wie ich gerettet werden können.‘“

Brüder und Schwestern, mir liegt viel daran und ich spreche oft darüber, dass wir realistische und zumutbare Erwartungen an unseren Bischof und die anderen Führer stellen müssen. Vor allem habe ich das Gefühl, dass es zu den größten Problemen unserer heutigen Zeit zählt, dass die Eltern, insbesondere die Mütter, vielen Aufgaben im Gemeinwesen, im Beruf oder sonstigen Aufgaben außer Haus nachkommen müssen, obwohl sie Kinder zu Hause haben. Und da ich der festen Überzeugung bin, dass Frau und Kinder es verdienen, heilige und ungestörte Zeit mit dem Mann und Vater zu verbringen, hätte ich bei neun von zehn Mal der Frau Recht gegeben, die ihrem Mann sagte, er solle nicht ans Telefon gehen. Doch so wie die junge Frau damals dankbar war, so bin auch ich dankbar, dass der Bischof in diesem Fall der Eingebung des Geistes gefolgt und ans Telefon gegangen und seiner Aufgabe nachgekommen ist.

Ich bezeuge, dass das Zuhause, die Familie und die Ehe das Wertvollste sind, was ein Mensch im Leben haben kann. Ich bezeuge, dass es notwendig ist, dies zu schützen und zu bewahren, dass wir aber auch Zeit und Möglichkeiten finden müssen, in der Kirche treu zu dienen. Ich hoffe, dass dies nur in seltenen Fällen miteinander in Konflikt gerät, etwa wenn wir eine Stunde, einen Tag oder eine Nacht lang eine Krise miterleben und auf eine Eingebung des Geistes hin handeln müssen. In solchen Situationen lobe ich jede Frau, die auf ihren Mann wartet und das Essen kalt werden lässt, und jeden Mann, der sich selbst eine Mahlzeit zubereitet, die – mit ihm als Koch – ohnehin kalt ist, und jedes Kind, das enttäuscht ist, weil der Campingausflug verschoben wird oder der Vater oder die Mutter dann doch nicht zum Fußballspiel kommen kann. (Das sollte aber lieber nicht allzu oft vorkommen!) Ich danke jedem Missionspräsidenten und seiner Frau, ihren Kindern sowie jedem älteren Ehepaar, das berufen ist, auf Mission zu dienen– Ihnen und allen anderen, die eine Zeit lang Geburten, Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen, Erlebnisse mit der Familie und allerlei Nettes verpassen, weil sie dem Ruf zu dienen gefolgt sind. Ich danke allen, die überall in der Kirche in schwierigen Situationen „ihr Bestes geben“, um das Reich Gottes auf der Erde zu errichten.

Ich lege Zeugnis ab vom Opfer und Dienst des Herrn Jesus Christus, der für uns alles gegeben hat und in diesem Geist des Gebens sagt: „Du aber folge mir nach!“6 Er sagt auch: „Wenn einer mir dienen will, folge er mir nach; und wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein. Wenn einer mir dient, wird der Vater ihn ehren.“7 Ein solcher Dienst bringt unausweichlich schwierige Entscheidungen hinsichtlich der Verteilung von Prioritäten mit sich – Entscheidungen darüber, wie man am besten der Jünger sein kann, den der Herr sich wünscht. Ich danke ihm für die Führung und Hilfe, die er uns bei diesen Entscheidungen angedeihen lässt, und für seine Hilfe, die richtige Lösung für alle Beteiligten zu finden. Ich danke ihm, dass er „unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen“8 hat und dass er uns aufgefordert hat, dies in einem gewissen Maß auch für- einander zu tun. Im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.

  1. Eine ausführliche Schilderung dieser Erlebnisse finden Sie in James B. Allen u. a.: Men with a Mission: The Quorum of the Twelve Apostles in the British Isles, 1837-1841, 1992. Auf die Bedrängnisse von Vilate Kimball und Mary Ann Young wird auf Seite 267ff. eingegangen.

  2. Siehe Gesangbuch, Nr. 163.

  3. Siehe Mosia 4:27.

  4. Diese bedeutende Lehre ist zu umfangreich, als dass man hier näher darauf eingehen könnte. Siehe Mose 5:4-8; 3 Nephi 9:17-21; LuB 59:8-12; 97:8,9.

  5. Siehe Lectures on Faith, 1985, Seite 68f.

  6. Johannes 21:22.

  7. Johannes 12:26.

  8. Mosia 14:4; siehe auch Jesaja 53:4.