2000–2009
„Tut er es aber nicht“
Oktober 2002


„Tut er es aber nicht“

Die größte Prüfung im Leben besteht darin, vor einem „Warum“ zu stehen und dann loszulassen und demütig der Verheißung des Herrn zu vertrauen: „Alles muss zu seiner Zeit geschehen.“

Einige meiner berührendsten Erinnerungen stehen im Zusammenhang mit Pfahl- konferenzen, zu denen ich übers Wochenende geschickt wurde. Ich habe dabei Pfahlpräsidenten begleitet, die die Mitglieder ihres Pfahles besuchten – Mitglieder, die voll Mut und Glauben mit den Herausforderungen des Lebens kämpften, und insbesondere Mitglieder, die ein Kind verloren hatten oder tapfer bemüht waren, für ein krankes, verkrüppeltes oder behindertes Kind zu sorgen. Aus schmerzhafter Erfahrung weiß ich, dass nichts mit der Dunkelheit vergleichbar ist, die man empfindet, wenn man ein Kind verliert. Und kein Tag kommt einem so lang und ermüdend vor wie der, da man unablässig die Sorge für ein Kind trägt, das körperlich oder geistig verkrüppelt ist. Alle diese Eltern können uneingeschränkt mit dem Vater mitempfinden, dessen Sohn von einem „stummen Geist“ besessen war und den der Erretter aufforderte zu glauben. Er antwortete dem Herrn voll Seelenpein: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben.“ (Siehe Markus 9:17,23,24.)

Und daher möchte ich heute zu allen sprechen, die in diesem Versuchslabor für angewandten Glauben arbeiten, das Erdenleben genannt wird, und insbesondere zu den Eltern, die ein Kind verloren haben, die belastet und bedrückt sind und flehentlich fragen: „Warum?“

Bedenken Sie erstens: Trauer ist ein Nebenprodukt der Liebe. Keiner kann einen anderen selbstlos lieben und dann angesichts seines Leidens und schließlich seines Todes nicht trauern. Trauer ließe sich nur vermeiden, wenn man nicht liebte; aber die Liebe ist es ja, die das Leben reich und bedeutungsvoll macht. Daher wird das, was trauernde Eltern vom Herrn als Antwort auf ihr aufrichtiges Flehen erhalten, nicht unbedingt die Wegnahme der Trauer sein, sondern vielmehr eine liebevolle Versicherung, dass sich das Kind nunmehr in der zärtlichen Obhut des liebevollen himmlischen Vaters befindet.

Zweitens: Zweifeln Sie nie an der Güte Gottes, auch wenn Sie auf Ihr „Warum“ keine Antwort haben. Die alles überschattende Frage, die von den Hinterbliebenen oder sonstwie Geplagten gestellt wird, lautet einfach: Und warum?Warum musste unsere Tochter sterben, wo wir doch so sehr gebetet haben, dass sie überlebt, und wo sie doch einen Priestertumssegen erhalten hat? Warum müssen wir dieses Unglück ertragen, wo andere von Wunderheilungen berichten, die sie bei ihren Lieben erlebt haben? Dies sind natürliche, verständliche Fragen. Aber es sind auch Fragen, die normalerweise im Erdenleben nicht beantwortet werden. Der Herr hat einfach gesagt: „Meine Wege [sind hoch erhaben] über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken.“ (Jesaja 55:9.) So wie der Wille des Sohnes „im Willen des Vaters verschlungen“ ist (Mosia 15:7), so muss es auch mit unserem Willen sein.

Trotzdem möchten wir Menschen verständlicherweise das „Warum“ erfahren. Wenn wir jedoch zu sehr auf eine Antwort drängen, dann vergessen wir möglicherweise, dass das Erdenleben sozusagen als eine Zeit der unbeantworteten Fragen gedacht war. Das Erdenleben hat einen anderen, enger gefassten Zweck. Es ist ein Testgebiet, ein Zustand der Bewährung, eine Zeit, in der wir als Glaubende gehen, eine Zeit, in der wir uns bereitmachen, Gott zu begegnen. (Siehe z. B. Abraham 3:24,25; 2 Nephi 31:15,16,20; Alma 12:24; Alma 42:4-13.) Dadurch, dass wir uns Demut (siehe Alma 32:6-21) und Fügsamkeit (siehe Mosia 3:19) zu Eigen machen, können wir die Fülle der vorgesehenen irdischen Erfahrungen verstehen lernen und versetzen uns – Sinn und Herz – in einen Zustand, in dem wir Eingebungen des Geistes empfangen können. Im Wesentlichen sind Demut und Fügsamkeit ein Ausdruck der völligen Bereitschaft, die Frage nach dem „Warum“ fürs Erste unbeantwortet zu lassen oder vielleicht sogar zu fragen: „Warum denn nicht?“ Wenn wir „gutbestehen“ und „bis ans Ende ausharren“ (siehe 2 Nephi 31:15,16; Alma 32:15; LuB 121:8), dann erreichen wir den Zweck unseres Daseins. Ich glaube, die größte Prüfung im Leben besteht darin, vor einem „Warum“ zu stehen und dann loszulassen und demütig der Verheißung des Herrn zu vertrauen: „Alles muss zu seiner Zeit geschehen.“ (LuB 64:32.)

Der Herr hat uns jedoch nicht ohne Trost und ohne Antwort gelassen. Hinsichtlich der Heilung von Kranken hat er deutlich gesagt: „Und weiter, es wird sich begeben: Wer den Glauben an mich hat, gesund zu werden, und nicht für den Tod bestimmt ist, wird gesund werden.“ (LuB 42:48, Hervorhebung hinzugefügt.) Viel zu oft lesen wir über die Bedingung „und nicht für den Tod bestimmt ist“ hinweg (man könnte auch hinzufügen „oder für Krankheit oder Behinderung“). Verzweifeln Sie bitte nicht, wenn inbrünstige Gebete gesprochen worden, Priestertumssegen erteilt worden sind und der geliebte Mensch nicht gesundet oder Sie sogar verlässt. Trösten Sie sich in dem Wissen, dass Sie alles getan haben, was Ihnen möglich war. Dieser Glaube, das Fasten und der Segen waren nicht umsonst! Dass Ihr Kind trotz allem, was für es getan worden ist, nicht gesund geworden ist, kann und soll die Basis für Frieden und Bestätigung sein für alle, die es lieben. Der Herr, der zu jedem Segen die Inspiration gibt und der jedes aufrichtigeGebet hört, hat es trotzdem heimgerufen. Alle Erfahrungen aus den Gebeten, dem Fasten und dem Glauben heraus sind vielleicht mehr zu unserem als zu seinem Nutzen gewesen.

Wie sollen wir uns nun aber an den Thron der Gnade wenden, wenn wir aufrichtig für einen geliebten Menschen beten und ihm die Hände aufs Haupt legen, um ihm mit der Vollmacht des Priestertums einen Segen zu geben? Wie üben wir auf die rechte Weise unseren Glauben aus? Der Prophet Joseph Smith hat den ersten Grundsatz des Evangeliums als „Glaube an den Herrn Jesus Christus“ definiert (4. Glaubensartikel, Hervorhebung hinzugefügt). „An den Herrn Jesus Christus“ – so ist der Glaube definiert, und das vergessen wir manchmal. Zu oft sprechen wir unser Gebet oder vollziehen eine heilige Handlung und warten dann nervös darauf, ob unserer Bitte entsprochen wird – so als würde die Zustimmung uns den benötigten Beweis von Gottes Existenz liefern. Das ist kein Glaube! Glaube ist ganz einfach Vertrauen in den Herrn. Mormon nennt dies „einen festen Sinn in jeder Form der Frömmigkeit“. (Moroni 7:30, Hervorhebung hinzugefügt.) Die drei jungen Männer brachten ihr Vertrauen zum Ausdruck, dass derHerr sie aus dem glühenden Feuerofen befreien würde, „Tut er es aber nicht, so sollst du, König, wissen: Auch dann verehren wir deine Götter nicht.“ (Daniel 3:18, Hervorhebung hinzugefügt.) Bezeichnenderweise waren nicht drei, sondern vier Männer inmitten der Flammen zu sehen, und „der vierte [sah] aus wie ein Göttersohn“ (Daniel 3:92[25]).

Für uns gilt das Gleiche. Draußen in der Welt sagt man oft: „Sehen heißt glauben.“ Welchen Wert diese Aussage in den weltlichen Belangen des Lebens auch haben mag, so ist sie doch ein Fremdkörper, wenn wir uns in den dunklen Stunden unserer schwersten Prüfungen an den Herrn wenden. Die Weise des Herrn lässt sich durch eine andere Aussage definieren: „Glauben heißt sehen.“ Glaube an den Herrn ist die Voraussetzung und nicht das Ergebnis. Wir wissen, dass er lebt, und darum vertrauen wir, dass er uns gemäß seines göttlichen Willens und seiner Weisheit segnet. Dieses kindliche Vertrauen in den Herrn ist uns aus den heiligen Schriften als „Opfer“ eines reuigen Herzens und eines zerknirschten Geistes bekannt (siehe LuB 59:8).

Ich sage dies aus vollster Überzeugung, denn sie hat ihren Ursprung in den schmerzhaften Prüfungen, die ich selbst erfahren habe. Unser zweiter Sohn, Adam, kam in unser Leben, als ich weit weg war – im Dschungel und auf den Reisfeldern Vietnams. Ich besitze noch immer das Telegramm, in dem mir freudig seine Geburt mitgeteilt wurde. Adam war ein blauäugiger, blonder kleiner Kerl und sehr lustig. Als Adam fünf wurde, freute er sich schon sehr auf die Schule. Dann wurde unser Wohnort in Südkalifornien von einer ganz gewöhnlichen Kinderkrankheit überzogen und Adam steckte sich an. Abgesehen davon, dass wir uns um das kranke Kind kümmerten, machten wir uns aber weiter keine Gedanken. Es schien, als hätte es ihn nur leicht erwischt. Plötzlich, eines Morgens, stand er jedoch nicht auf; er lag in tiefem Koma. Wir brachten ihn schnell ins Krankenhaus, wo er auf die Intensivstation kam. Ständig kümmerte sich ein ganzer Kader von hingebungsvollen Ärzten und Schwestern um ihn. Seine Mutter und ich hielten uns ununterbrochennebenan im Wartezimmer auf.

Ich rief unseren Pfahlpräsidenten an, einen Freund aus meiner Kinderzeit, der jetzt mein lieber Kollege bei den Siebzigern ist, nämlich Elder Douglas L. Callister, und bat ihn, ins Krankenhaus zu kommen und mit mir Adam einen Priestertumssegen zu geben. Er kam innerhalb von Minuten. Als wir den beengten Raum betraten, in dem Adams lebloser kleiner Körper auf dem Bett lag, umgeben von verwirrenden medizinischen Geräten und Monitoren in großer Zahl, traten die freundlichen Ärzte und Schwestern ehrfurchtsvoll zurück und verschränkten die Arme. Als die gewohnten und tröstenden Worte eines Priestertumssegens voll Glauben und mit aufrichtigem Flehen gesprochen wurden, hatte ich auf einmal ganz stark das Gefühl, dass da noch jemand anders anwesend war. Ich war von dem Gefühl überwältigt, dass ich – wenn ich die Augen nur öffnete – den Erretter dort stehen sehen würde. Ich war nicht der Einzige im Raum, der den Geist verspürte. Ganz zufällig erfuhren wir einige Monate später, dass eine der an diesem Tag anwesendenSchwestern so berührt gewesen war, dass sie die Missionare aufgesucht hatte und sich hatte taufen lassen.

Doch nichtsdestotrotz machte Adam keine Fortschritte. Mehrere Tage lang schwebte er zwischen Leben und Tod, und wir baten weiterhin den Herrn, ihn uns zurückzugeben. Schließlich ging ich eines Morgens nach einer durchwachten Nacht den leeren Krankenhausflur entlang. Ich sprach mit dem Herrn und sagte ihm, dass wir uns so sehr wünschten, unseren kleinen Jungen zurückzubekommen, doch dass wir am allermeisten wollten, dass sein Wille geschehe, und dass wir – meine Frau Pat und ich – seinen Willen hinnehmen würden. Nur wenig später überschritt Adam die Schwelle zur Ewigkeit.

Offen gesagt, wir trauern noch immer um unseren kleinen Jungen, auch wenn das sanfte Wirken des Geistes und die Jahre unsere Trauer gemildert haben. Ein kleines Bild von ihm schmückt eine Ablage in unserem Wohnzimmer; es steht gleich neben einem aktuelleren Familienfoto mit Kindern und Enkelkindern. Aber Pat und ich wissen, dass der himmlische Vater in seiner Güte für Adam einen kürzeren und einfacheren Lebensweg als den unseren vorgesehen hat und dass Adam vorausgeeilt ist und uns begrüßen wird, wenn auch wir schließlich diese schicksalhafte Schwelle überschreiten.

Wenn durch tiefe Leiden du rufst mich zu gehn

und Stürme von Prüfungen wild mich umwehn,

so wirst du in Schmerzen nicht fern von mir sein,

dann will ich mein Herz dir zur Heiligung weihn.

Wenn feurige Prüfung den Weg mir erschwert,

bleibt doch deine Güte mir niemals verwehrt.

Die Flamme verbrennt nicht, schmilzt nur alles ein,

vergehn muss die Schlacke, das Gold wird so rein. …

Mein Herz, das an Jesus sich lehnt mit Vertraun,

kann sicher auf deine Verheißungen baun;

und mag alle Hölle auch gegen mich sein:

Du lässest mich nimmer, o nimmer allein.“

(„O fest wie ein Felsen“, Gesangbuch, Nr. 56)

Im Namen Jesu Christi. Amen.