1990–1999
Das wunderbare Netz der Güte
April 1993


Das wunderbare Netz der Güte

Wir können es uns niemals leisten, grausam oder gleichgültig oder kleinlich zu sein, denn wir sind alle miteinander verbunden, wenn auch vielleicht nach einem Muster, das nur Gott sieht.

Liebe Brüder und Schwestern, aloha! Ich möchte heute darüber sprechen, wie das christliche Dienen uns alle in ein starkes und wunderbares Netz der Güte einbindet. Wie der Apostel Paulus den Heiligen in Kolossä gesagt hat, wir sollen „in Liebe zusammenhalten” (siehe Kolosser 2:2).

Sehen Sie dieses Stück Schnur? Es ist bloß ein ganz gewöhnliches Stück Schnur und nicht sehr interessant. Ich bin auf der großen Insel Hawaii aufgewachsen, und wir Kinder hatten immer ein solches Stück Schnur parat, um damit zu spielen. Nun stellt ein Stück Schnur nichts Besonderes dar, aber schauen Sie doch einmal, was man alles damit machen kann!

Dieses spezielle Fadenspiel heißt „vier Augen”. Sehen Sie, wie verschlungen und schön es ist? Sehen Sie, wie die einzelnen Teile einander stützen und miteinander in Verbindung stehen? Wenn man nur einen Teil wegnimmt, zerstört man das ganze Muster. So ist es auch im Leben. Wir begegnen vielen Menschen. Mit manchen stehen wir jahrelang in Verbindung. Mit anderen nur ganz kurz. Aber in jedem Fall können wir ein schönes Muster schaffen, indem wir unseren Mitmenschen freundlich begegnen - von dem Wunsch erfüllt, zu dienen.

Präsident Hinckley hat einmal über das Muster unserer gegenseitigen Verbundenheit in der Kirche etwas gesagt, was mir sehr gefällt, nämlich: „Die Mitglieder, alle, die mich hören können, fordere ich auf: Verlieren Sie … nicht das wunderbare Gesamtbild vom Zweck dieser Evangeliumszeit der Fülle aus den Augen. Weben Sie Ihren Faden in das Banner ein, dessen Muster Gott im Himmel für uns entworfen hat.” (Der Stern, Januar 1990, Seite 54.)

Wir wissen vielleicht nicht, was unser kleiner Faden in dem großen Banner ausmacht. Wir verstehen das Muster, das unsere Lebenswege schaffen, wenn sie sich kreuzen und verbinden, trennen und von neuem kreuzen, vielleicht nicht, aber Gott versteht es. Natürlich war es kein Zufall, daß der Engel, der Alma den Jüngeren, der vom Weg abgekommen war, „wie mit Donnerstimme” zurechtwies, derselbe war, der später zu Alma, der inzwischen seit zwanzig Jahren als Missionar tätig war, zurückkehrte und zu ihm sagte: „Gesegnet bist du, Alma; … denn du bist treu gewesen.” (Mosia 27:11; Alma 8:15.) Ihre Lebenswege bildeten ein leuchtendes Muster.

Ich möchte Ihnen von einer Frau erzählen, die ihren Faden der Güte und Anteilnahme mit meinem Leben verwoben hat. Schwester Rosetta Colclough, die als Missionarin in Hawaii war, kam zu meiner Schule, als ich elf Jahre alt war, und lud alle Schüler zu einem besonderen Religionsunterricht ein, der in dem kleinen Mormonengemeindehaus bei unserer Schule stattfand. Drei weitere japanische Mädchen und ich, alles Buddhisten, nahmen die Einladung an. Damit begann meine Unterweisung im Christentum, und vier Jahre später wurde ich Mitglied der Kirche.

Im letzten März habe ich von Rosetta Colclough Stark, die jetzt in Arizona lebt, einen Brief erhalten. Sie hatte dem Brief einen kleinen Artikel beigelegt, den sie 1978, vor fünfzehn Jahren, für ihre Gemeindezeitung geschrieben hatte. Sie hatte darin von jenem Religionsunterricht erzählt.

„Eines Tages, um elf Uhr, kamen nur vier japanische Mädchen zum Unterricht. Ich war sehr enttäuscht, weil es so wenige waren. … Aber gegen Ende der Stunde standen wir mit geneigtem Kopf und geschlossenen Augen in der kleinen Kapelle und sagten gemeinsam das Vaterunser auf. Die sanfte hawaiianische Sonne drang durch die Fenster. Während wir beteten, spürte ich plötzlich, wie ein strahlendes Licht uns einhüllte, das wie ein umgedrehter Kegel von oben herabkam. Ein wunderbares Gefühl des Friedens und der Freude erfüllte mich. Ich sprach das Gebet sehr langsam, während das strahlende Licht uns umschloß. Ich war sicher, daß die Mädchen es auch spürten, denn ihre Gesichter leuchteten in tiefer Ehrfurcht. Wir flüsterten fast unseren Abschiedsgruß, um den Zauber nicht zu brechen, und dann gingen sie auf Zehenspitzen hinaus. Ich dachte:, Eins von diesen Mädchen oder mehrere von ihnen werden sich der Kirche anschließen und viel Gutes bewirken.’”

Sie fuhr fort: „Auch als ich schon wieder zu Hause war, sah ich im Geist noch oft die lieben Gesichter dieser vier Mädchen vor mir und dachte über sie nach. Eine von ihnen, Chieko Nishimura, blieb mir besonders im Gedächtnis, und ich sah das Bild, das ich von ihnen gemacht hatte, oft an.

Zehn Jahre später saß ich mit meinem Mann in unserer Gemeinde in Salt Lake City in der Abendmahlsversammlung, als bekannt gegeben wurde, daß ein junges japanisches Ehepaar aus Hawaii zu uns sprechen sollte. … Ich bekam heftiges Herzklopfen. Ja, es war meine kleine Chieko. … Chieko und ich feierten nach der Versammlung ein freudiges Wiedersehen. Wir staunten, daß sie ausgerechnet in unserer Gemeinde gesprochen hatten, wo es in dieser großen Stadt doch so viele Gemeinden gab. Wir waren sicher, daß die Hand des Herrn es so gefügt hatte.”

Rosetta verlor mich aus den Augen, nachdem ich mit meinem Mann nach Colorado gezogen war, aber zu ihrer Überraschung und großen Freude hörte sie meinen Namen wieder, als sie am 14. März 1992 die Fernsehübertragung von der Hundertfünfzigjahrfeier der FHV anschaute. An jenem Nachmittag setzte sie sich in Arizona an ihre Schreibmaschine und begann ihren Brief an mich. Sie schrieb: „Als ich hörte, wie Schwester Jack dich ankündigte, … setzte ich mich ganz gerade hin und schaute aufmerksam auf den Bildschirm und sah, wie dort dein Name erschien. Dann fingst du an zu sprechen. Die dunklen Haare sind jetzt silberfarben, aber dein liebes Gesicht habe ich sofort erkannt. Ja, das ist meine kleine Chieko, die ich vor vielen Jahren im Gemeindehaus von Honomakau in Kohala unterrichtet habe. Während ich dir zuhörte, liefen mir Freudentränen über das Gesicht. …

Ich danke dem himmlischen Vater, daß ich dich in jener kleinen Kapelle über Jesus Christus, unseren Erlöser, belehren durfte. … Ich bin dadurch in dreifacher Hinsicht gesegnet worden; erstens hatte ich damals das Erlebnis mit dem Licht aus dem Himmel; zweitens bist du als Sprecherin in unsere Gemeinde in Salt Lake City gekommen; und heute habe ich dich über Satelliten zu den Frauen in aller Welt sprechen hören.”

Rosetta schrieb, sie sei gesegnet worden, aber sie wußte nicht, welch großer Segen ihre Güte für mich war. Während sie diesen Brief schrieb, wurde mein Mann, Ed, ins Krankenhaus gebracht. Er hatte an dem Nachmittag, als die Hundertfünfzigjahrfeier stattfand, einen Herzstillstand gehabt. Ihr Brief kam mit besonderer Anteilnahme und Liebe bei mir an, während meine Söhne und ich darum rangen, die Tatsache zu akzeptieren, daß Ed sich nicht erholen würde. Ich habe damals das Licht, das sie spürte, als wir vier kleinen Buddhistinnen zusammen mit ihr das Vaterunser Zeile für Zeile aufsagten, nicht gesehen. Aber ich weiß, daß der Geist damals immer wieder leise zu mir gesprochen und mich daran erinnert hat, daß ich wahrhaftig eine Tochter Gottes bin, und daß er mir eingegeben hat, daß ich diese Lehren von ganzem Herzen annehmen sollte, damit ich im Wasser der Taufe auch eine Tochter Christi werden konnte.

Rosettas Lebensweg hat den meinigen nur dreimal gekreuzt, aber die Liebe des Herrn war bei jeder Begegnung zu spüren. Rosetta hat mir das Evangelium gebracht, sie hat sich mit mir und Ed nach unserer Taufe gefreut, und als Ed im Sterben lag, hat sie mich sehr getröstet, indem sie mich daran erinnert hat, wie sehr der himmlische Vater mich liebt. Ich brauchte diesen Zuspruch und diese Liebe. Ich mußte daran erinnert werden, daß der himmlische Vater fünfzig Jahre zuvor vom Himmel herab einer mageren kleinen Buddhistin die Hand aufgelegt und ihr gesagt hatte: „Du bist mein Kind, und ich habe dich lieb.”

Ich habe Ihnen das erzählt, weil daraus auf so wunderbare Weise hervorgeht, wie unsere Lebenswege auf eine Weise miteinander verwoben werden können, die wir uns nicht vorstellen und die wir nicht planen können. Weil Rosetta voll Glauben und Güte und Liebe gehandelt hat, ist das Muster unserer Begegnungen wunderschön. Ich weiß, daß sie auch in den Lebensweg vieler anderer Menschen leuchtende Fäden eingewoben hat.

Brüder und Schwestern, wir können niemals ermessen, wie weit unser Dienst reicht. Wir können es uns niemals leisten, grausam oder gleichgültig oder kleinlich zu sein, denn wir sind alle miteinander verbunden, wenn auch vielleicht nach einem Muster, das nur Gott sieht. Ich bin Teil dieses Musters. Rosetta ist Teil dieses Musters. Sie sind Teil dieses Musters. Und Jesus Christus ist Teil dieses Musters. Ich stelle es mir eigentlich gern so vor, daß Jesus Christus die Zwischenräume in dem Muster darstellt, denn ohne sie gäbe es gar kein Muster.

Mögen wir einander immer liebevoll begegnen und, wie der Apostel Paulus gesagt hat, „getröstet werden” und „in Liebe zusammenhalten” (siehe Kolosser 2:2). Darum bete ich von ganzem Herzen im Namen Jesu Christi. Amen.