1990–1999
„Er läßt mich lagern auf grünen Auen”
April 1993


„Er läßt mich lagern auf grünen Auen”

Häufig werden wir ängstlich, wenn wir mit den Widrigkeiten des Lebens konfrontiert sind. Wenn wir uns aber um göttliche Führung bemühen und den Weg des Evangeliums gehen, werden wir zu unserer Bestimmung hingeführt.

Es gibt in Hongkong eine Stelle, die bei Touristen sehr beliebt ist, nämlich den Victoria Peak. An einem klaren Tag kann man dort auf dem Gipfel stehen und den herrlichen Blick über den geschäftigen Hafen und den schönen Uferbezirk genießen, der von Wolkenkratzern und Fähranlegestellen gesäumt ist. Von dem Gipfel aus kann man, wenn man genau hinsieht, in der Ferne auch den Flughafen mit seinem regen Verkehr und der Rollbahn sehen, die sich bis ans Meer erstreckt. Nachts ist der Blick von diesem Gipfel noch atemberaubender. Der Hafen leuchtet dann mit zahllosen Lichtern, die wie Diamanten blitzen. Es ist ein herrlicher Anblick!

Das Bild ist allerdings nicht immer gleich. An einem nebligen Tag kann die Szenerie auch sehr düster wirken und eine große Enttäuschung sein. Genauso sieht für viele von uns das Leben aus. Manchmal ist es herrlich, dann aber wieder düster.

Ich habe schon als kleines Kind beide Eltern verloren. Tante Gu Ma, eine unverheiratete Schwester meines Vaters, hat meinen Bruder und mich bei sich aufgenommen. Wir wuchsen bei ihr in einem kleinen Bauerndorf auf, wo sie sich mit Gemüseanbau ihren Lebensunterhalt verdiente. Jeden Morgen trug sie ihr Gemüse in zwei großen Körben, die sie an eine lange Stange hängte, die sie sich über die Schultern legte, zum Markt. Dann brachte sie Reis und Fleisch mit, das sie von dem Geld, das sie für ihr Gemüse bekommen hatte, gekauft hatte.

Ich kann mich noch erinnern, wie ich in einem riesigen Wok, der auf einem Ofen stand, in dem wir Schilf verbrannten, Reis gekocht habe. Ich war damals sechs Jahre alt. Der Wok war so groß, daß mein Bruder und ich ihn zusammen vom Herd nehmen mußten. Wir standen dabei beide auf einem Hocker und hielten jeder einen der beiden

Griffe fest. Gelegentlich genossen wir als besondere Spezialität halbgaren oder halbverbrannten Reis oder beides.

Tante Gu Ma war ein wunderbarer Mensch. Sie hatte zwar keine Schule besucht, aber sie hatte eine edle Weltanschauung. Sie brachte uns richtige Grundsätze bei, dazu strenge Selbständigkeit und den Wert harter Arbeit. Wir werden immer dankbar sein für ihre Liebe und Opferbereitschaft.

Ich kann mich besonders noch an einen Vorfall erinnern. Mein Bruder und ich gingen nach einem schweren Tropenregen von der Schule nach Hause. Der Weg, den wir normalerweise gingen, war durch einen Erdrutsch verschüttet worden. Da wir recht erfinderische Jungen waren, beschlossen wir, daß nichts uns davon abhalten sollte, es bis nach Hause zu schaffen. An einem Hügel in der Nähe befand sich ein Abflußrohr, das recht hoch über dem felsigen Boden hing. Wenn wir bis zu unserem Dorf gelangen wollten, mußten wir an diesem Rohr entlanggehen. Das Rohr hing über einem Fluß, der normalerweise nicht viel Wasser führte, sich jetzt aber in einen reißenden Strom aus Schlamm und Wasser verwandelt hatte. Wir gingen mit unseren Schultaschen den Berg hinauf und setzten unsere Expedition fort.

Wir begannen beide, vorsichtig an dem schmalen, schlüpfrigen Abflußrohr entlangzugehen. Als ich an der anderen Seite angekommen war, schaute ich zurück, um nachzusehen, wie mein Bruder vorankam. Verblüfft sah ich, daß er es erst bis zur Hälfte geschafft hatte und dann nicht mehr weitergekommen war. Er war älter und klüger als ich, und ihm war plötzlich klar geworden, auf welch gefährlichem Hochsitz wir uns befanden, und da hatte er instinktiv nicht mehr weitergehen können. Es war ein erschreckender Augenblick, als wir uns bewußt wurden, in welcher Gefahr er schwebte. Gelähmt vor Angst hockte er dort auf dem schlüpfrigen, schmalen Abflußrohr über dem reißenden Strom.

Da erlebte ich eine große Überraschung. Ich hörte den lautesten Hilfeschrei, den ich jemals gehört hatte. Das unglaubliche Gebrüll tönte über Berge und Täler hinweg. Zum Glück arbeitete Tante Gu Ma gerade unten auf dem Feld und hörte uns. Sie eilte ihm zu Hilfe und führte ihn liebevoll an dem Rohr entlang und uns beide nach Hause, wo wir in Sicherheit waren.

Häufig werden wir ängstlich, wenn wir mit den Widrigkeiten des Lebens konfrontiert sind. Wenn wir uns aber um göttliche Führung bemühen und den Weg des Evangeliums gehen, werden wir zu unserer Bestimmung hingeführt. Manchmal erscheinen uns die Schwierigkeiten so unüberwindlich, daß wir das Gefühl haben, wir könnten nicht mehr weitermachen. Wenn wir aber demütig und gläubig um Hilfe flehen, zeigt der himmlische Vater uns den Weg und hilft uns liebevoll weiter.

Als ich siebzehn war, traf ich einmal einen früheren Nachbarn. Er lud mich ein, am nächsten Sonntag mit in seine Kirche zu gehen, weil er dort in der Versammlung sprechen sollte. Dort hielt er seine Zweieinhalb-Minuten-Ansprache, und ich lernte die Missionare kennen. Ein Jahr darauf wurde ich im Swimmingpool des Missionsheims in Hongkong getauft und dadurch Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage.

Die Lage in China war in den vierziger Jahren sehr schwierig. Eine Familie mit einem drei Monate alten Kind verließ das chinesische Festland und kehrte in ihre Heimat Taiwan zurück. Zwanzig Jahre darauf, 1963, kam das kleine Kind, aus dem eine junge Frau geworden war, zum Studium nach Hongkong. Sie lernte die Missionare kennen und ließ sich 1964 taufen.

Ein jeder darauf kehrte ich aus Sydney zurück, wo ich studiert hatte, und lernte im Zweig Kowloon in Hongkong, diese schöne junge Frau, Hui Hua, kennen. Ein Jahr darauf heirateten wir in der Köm Tong Hall in Hongkong. Daß wir uns überhaupt kennengelernt haben, ist in unseren Augen ein Wunder.

Wir ahnten kaum, was der Herr alles mit uns vorhatte. Auf den Monat genau dreißig Jahre nach meiner Taufe (und an meinem Geburtstag) kehrte ich mit meiner Frau an den Ort meiner Taufe zurück, um als Missionspräsident über die Mission Hongkong zu präsidieren.

In diesen drei Jahren haben wir unaussprechliche Freude erfahren, während wir erlebten, wie die Menschen sich änderten, wenn sie das Evangelium annahmen. Das Evangelium machte ihr Leben hell. Durch das Evangelium kann sich Haß in Liebe verwandeln, Stolz in Demut, Schlechtigkeit in Rechtschaffenheit, Kummer in Glück, Angst in Frieden. Das Evangelium verheißt uns die Hoffnung, daß wir einmal in die Gegenwart des himmlischen Vaters zurückkehren können.

Das Evangelium hat auch mir, dem Waisenjungen, die unerschütterliche Hoffnung geschenkt, daß ich eines Tages für immer mit meiner Familie Zusammensein kann. Vielleicht kann ich mit meinem Vater sogar einen Ausflug machen, der mich für die verlorene Kindheit entschädigt!

Als besonderer Zeuge des Herrn Jesus Christus empfinde ich wie der Apostel Paulus: „Mir, dem Geringsten unter allen Heiligen, wurde diese Gnade geschenkt: Ich soll den Heiden als Evangelium den unergründlichen Reichtum Christi verkündigen.” (Epheser 3:8.)

Ich bin dankbar für alles, was ich im Dienst des himmlischen Vaters erleben durfte. Er hat mich mit einer lieben Frau und drei wunderbaren Kindern gesegnet, die alle eine Mission erfüllt haben. Ich bin dankbar für ihre unermüdliche Unterstützung.

Im dreiundzwanzigsten Psalm steht: „Der Herr ist mein Hirte. … Er läßt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.” (Psalm 23:1,2.)

Ich weiß, daß Gott lebt. Der Herr ist mein Hirte. Er läßt mich wirklich auf grünen Auen lagern und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Jesus ist der Messias, unser Erretter und Erlöser. Das bezeuge ich in seinem heiligen Namen. Amen.”