1990–1999
Eltern in Zion
Oktober 1998


Eltern in Zion

Allerdings möchte ich die Führer dazu anhalten, die Familie sorgsam in Betracht zu ziehen, damit sie keine Berufung aussprechen oder Aktivitäten planen, die Eltern oder die Kinder unnötigen Belastungen aussetzen.

1831 gab der Herr den Eltern in Zion eine Offenbarung.1 Und über die Eltern möchte ich sprechen.

Seit 28 Jahren diene ich im Kollegium der Zwölf, nachdem ich neun Jahre Assistent der Zwölf gewesen war. Insgesamt macht das 37 Jahre ­ genau die Hälfte meines Lebens.

Aber eine andere Berufung habe ich noch viel länger inne. Ich bin Vater und Großvater. Es hat Jahre gekostet, den Titel Großvater zu verdienen ­ und weitere 20 Jahre, den Titel Urgroßvater. Diese Titel ­ Vater, Großvater, Mutter, Großmutter ­ sind verbunden mit Verantwortung und einer Autorität, die zum Teil der Erfahrung entspringt. Die Erfahrung ist eine einflußreiche Lehrerin.

Meine Berufung im Priestertum definiert meine Position in der Kirche, der Titel Großvater meine Postion in der Familie. Ich möchte über beide zusammen sprechen.

Die Elternschaft gehört zu den wichtigsten Aktivitäten, denen die Heiligen der Letzten Tage sich widmen können. Viele Mitglieder stellt das Bemühen, ihre Verantwortung als Eltern mit treuer Aktivität in der Kirche in Einklang zu bringen, vor Konflikte.

So manches, was für das Wohlergehen der Familie unerläßlich ist, findet man nur, indem man zur Kirche geht. Da ist das Priestertum, das einen Mann ermächtigt, seine Frau und seine Kinder zu führen und zu segnen, und da sind die Bündnisse, die sie für immer verbinden.

Der Kirche wurde geboten, sich oft zu versammeln2, und ihr wurde aufgetragen: „Wenn ihr euch versammelt, so unterweist und erbaut einander.“3 Mosia und Alma gaben ihrem Volk dieselbe Anweisung.4

Es ist uns geboten, „das Herz der Väter den Kindern zu[zu]wenden, und das Herz der Kinder ihren Vätern“.5

Der Herr wandte sich namentlich an Joseph Smith jun. und sagte: „Du hast die Gebote nicht gehalten und mußt notwendigerweise gezüchtigt werden.“6 Er hatte seine Kinder nicht unterwiesen. Das ist das einzige Mal, daß das Wort züchtigen verwendet wird, wo er zurechtgewiesen wird.

Sein Ratgeber Fredrick G. Williams stand unter demselben Schuldspruch: „Du hast deine Kinder nicht Licht und Wahrheit gelehrt.“7 Sidney Rigdon wurdedasselbe gesagt, wie auch Bischof Newel K. Whitney8, und der Herr sagte noch: „Was ich zu einem sage, das sage ich zu allen.“9

Wir erleben, wie die sittlichen Maßstäbe immer tiefer sinken; heute befinden sie sich im freien Fall. Zugleich stellen wir fest, wie Eltern und Kinder in reichem Maße inspirierte Weisung erhalten.

Der ganze Lehrplan und alle Aktivitäten sind neu strukturiert und auf die Familie abgestimmtworden:

  • Aus den Gemeindelehrern wurden die Heimlehrer.

  • Der Familienabend wurde wieder eingeführt.

  • Die Genealogie wurde in Familiengeschichte umbenannt und schließt jetzt die Sammlung aller Unterlagen der Familie ein.

  • Die Erste Präsidentschaft und der Rat der Zwölf Apostel haben die historisch bedeutsame Proklamation zur Familie herausgegeben.

  • Die Familie wurde und bleibt in Versammlungen, Konferenzen und Ratssitzungen ein vorherrschendes Thema.

  • All das war das Vorspiel einer nie dagewesenen Ära des Baus von Tempeln, in denen die Vollmacht, Familien aneinander zu siegeln, ausgeübt wird.

Sehen Sie, wie der Geist der Offenbarung auf den Dienern des Herrn und auf den Eltern ruht, so daß wir den Angriffen, die auf die Familie gerichtet sind, widerstehen können?

Bei der Veranstaltung von Aktivitäten für die Familie, die außerhalb ihrer Wohnung stattfinden, müssen wir umsichtig vorgehen; sonst könnten wir wie der Vater sein, der entschlossen ist, seine Familie mit allem zu versorgen. Seine ganze Energie wendet er dafür auf und hat Erfolg; erst dann entdeckt er, daß das, was sie am meisten brauchen ­ nämlich als Familie zusammen zu sein ­ am meisten vernachlässigt hat. Und er erntet Kummer statt Zufriedenheit.

Wie leicht übersehen wir doch die Pflichten der Eltern und das wesentliche Bedürfnis der Familie, miteinander Zeit zu verbringen, weil wir den Wunsch haben, Programme und Aktivitäten bereitzustellen.

Wir müssen Umsicht walten lassen, damit die Programme und Aktivitäten der Kirche nicht für manche Familien zur Bürde werden, die sie nicht tragen können. Wenn die Evangeliumsgrundsätze verstanden und umgesetzt werden, stärken und schützen sie sowohl den einzelnen als auch die Familie. Engagement für die Familie und Engagement für die Kirche schließen einander nicht aus.

Vor kurzem sah ich, wie eine Frau reagierte, als jemand sagte: „Seit sie ein Baby hat, tut sie in der Kirche nichts mehr.“ Man konnte fast ein Baby in ihren Armen sehen, als sie engagiert protestierte: „Natürlich tut sie etwas in der Kirche. Sie hat dem Baby das Leben geschenkt. Sie nährt und belehrt es. Sie tut das Wichtigste, das sie in der Kirche überhaupt tun kann.“

Wie würden Sie auf die folgende Frage reagieren: „Wegen ihres behinderten Kindes kann sie ihre Wohnung nicht verlassen, und er hat einen Nebenjob, um die Extrakosten zu decken. Darum kommen sie selten ­ können wir sie als in der Kirche aktiv betrachten?“

Haben Sie jemals eine Frau sagen hören: „Mein Mann ist ein sehr guter Vater, aber er ist nie Bischof oder Pfahlpräsident gewesen und hat auch sonst nie etwas Wichtiges in der Kirche getan.“ Darauf sagte ein Vater energisch: „Was ist in der Kirche wichtiger, als ein guter Vater zu sein?“

Die treue Anwesenheit in der Kirche in Verbindung mit aufmerksamer Fürsorge für die Familie ist eine nahezu vollkommene Kombination. In der Kirche wird uns der große Plan des Glücklichseins gelehrt.10 Zu Hause wenden wir an, waswir gelernt haben. Jede Berufung, jeder Dienst in der Kirchebringt Erfahrungen und wertvolle Einsichten, die sich auch auf das Familienleben auswirken.

Wäre unser Blickwinkel klarer, wenn wir einen Augenblick lang die Elternschaft als eine Berufung in der Kirche betrachteten? Eigentlich ist sie mehr; wenn wir sie jedoch auf diese Weise sehen könnten, dann könnten wir Aktivitäten, die die Familien betreffen, ausgeglichener planen.

Ich möchte nicht, daß irgend jemand das, was ich sage, zum Vorwand dafür nimmt, eine inspirierte Berufung in der Kirche abzulehnen. Allerdings möchte ich die Führer dazu anhalten, die Familie sorgsam in Betracht zu ziehen, damit sie keine Berufung aussprechen oder Aktivitäten planen, die Eltern oder die Kinder unnötigen Belastungen aussetzen.

Vor kurzem las ich einen Brief von einem jungen Ehepaar. Sie müssen aufgrund ihrer Berufungen in der Kirche häufig einen Babysitter für ihre kleinen Kinder engagieren, damit sie an ihren Sitzungen teilnehmen können. Es ist für sie sehr schwierig geworden, beide gleichzeitig mit den Kindern zu Hause zu sein. Fällt Ihnen auf, daß da etwas aus dem Lot geraten ist?

Jedesmal, wenn Sie eine Aktivität für das Kind ansetzen, setzen Sie eine Aktivität für die Familie an ­ vor allem für die Mutter.

Nehmen Sie Rücksicht auf die Mutter, die über ihre Berufung und die ihres Mannes hinaus ihre Kinder bereitmachen und von einer Aktivität zur nächsten hetzen muß. Manche Mutter wird mutlos ­ und sogar deprimiert. Ich bekomme Briefe, in denen von Schuldgefühlen die Rede ist, weil sie nicht alles schaffen können.

Der Versammlungsbesuch ist oder sollte eine Ruhepause vom täglichen Leben sein. Er sollte Frieden und Zufriedenheit schenken. Wenn er zu Streß und Mutlosigkeit führt, dann ist etwas aus dem Lot geraten.

Die Kirche ist nicht die einzige Aufgabe der Eltern. Auch andere Organisationen haben einen legitimen Grund, auf die Familie Anspruch zu erheben: die Schule, der Arbeitgeber und das Gemeinwesen ­ alle müssen zum Zuge kommen können.

Vor kurzem erzählte mir eine Mutter, ihre Familie sei von einer verstreut lebenden Gemeinde auf dem Land weggezogen, wo alle Aktivitäten notwendigerweise am selben Wochentag stattfanden. Es war wunderbar. Sie hatten Zeit für ihre Familie. Ich kann sie alle miteinander am Tisch sitzen sehen.

Sie zogen nach Westen in eine größere Gemeinde, wo die Mitglieder näher bei der Kirche wohnen. Sie sagte: „Jetzt hat unsere Familie am Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag und Sonntag abend Aktivitäten. Das ist für unsere Familie nicht leicht.“

Bedenken Sie: Jedesmal, wenn Sie eine Aktivität für das Kind ansetzen, setzen Sie eine Aktivität für die Familie an ­ vor allem für die Mutter.

Die meisten Familien geben sich große Mühe; aber einige, die mit Gesundheitsproblemen oder finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, erschöpfen sich bei dem Versuch, Schritt zu halten, und ziehen sich schließlich in die Inaktivität zurück. Sie sehen nicht, daß sie sich mit ihrer Familie von der besten Quelle von Licht, Wahrheit und Hilfe entfernen ­ hin in den Schatten, wo Gefahr und Kummer lauern.

Ich muß auf ein Problem eingehen, das sicher am schwierigsten zu lösen ist. Es gibt Kinder, die zu Hause kaum unterwiesen werden oder Unterstützung erfahren. Es steht außer Frage, daß wir ihnen dies geben müssen. Aber wenn wir ständig Aktivitäten veranstalten, die den Mangel in diesen Familien wettmachen sollen, kann es dadurch den pflichtbewußten Eltern schwer werden, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen und sie zu unterweisen. Nur durch Beten und Inspiration können wir da ein Gleichgewicht finden, was nicht einfach ist.

Wir hören oft: „Wir müssen häufige und aufregende Aktivitäten veranstalten, damit unsere Jugendlichen nicht dorthin gehen, wo es weniger gut ist.“ Einige gehen wohl hin. Aber ich bin davon überzeugt, wenn wir die Eltern Verantwortungsbewußtsein lehren und ihnen ausreichend Zeit geben, werden die Kinder langfristig zu Hause sein.

Dort, zu Hause, können sie lernen, was in der Kirche oder in der Schule nicht wirksam vermittelt werden kann. Zu Hause können sie arbeiten und Verantwortung übernehmen lernen. Sie werden lernen, was sie zu tun haben, wenn sie selbst Eltern sind.

Beispielsweise lernen die Kinder in der Kirche den Grundsatz des Zehnten, aber zu Hause wird der Grundsatz angewandt. Zu Hause kann sogar ein kleines Kind gezeigt bekommen, wie es den Zehnten ausrechnet und zahlt.

Einmal waren Präsident Harold B. Lee und seine Frau bei uns zu Hause. Schwester Lee legte eine Handvoll Ein-Cent-Münzen auf den Tisch vor unseren kleinen Sohn. Sie ließ ihn die glänzenden Münzen auf eine Seite schieben und sagte: „Die hier sind dein Zehnter ­ sie gehören dem Herrn. Die anderen kannst du behalten.“ Nachdenklich guckte er von einem Stapel auf den anderen und sagte dann: „Hast du nicht noch mehr schmutzige?“ Das war der Zeitpunkt, wo das Unterweisen beginnen konnte!

Der Gemeinderat ist der perfekte Ort, wo das Gleichgewicht zwischen der Familie und der Kirche hergestellt werden kann. Hier können die Brüder des Priestertums, die ja selbst Väter sind, und die Schwestern der Hilfsorganisationen, die selbst auch Mütter sind, mit inspiriertem Einblick die Arbeit der Organisationen koordinieren, die alle den verschiedenen Familienangehörigen dienen.

Die Mitglieder des Rates können vergleichen, was jede Organisation für die Eltern und jedes Kind tut und wieviel Zeit und Geld dafür nötig ist. Sie können die Familien einen, statt sie zu trennen. Die Betreuung der Familien von Alleinerziehenden oder anderer mit besonderen Bedürfnissen kann korreliert werden, um mehr als bloß Aktivitäten für die Kinder zu veranstalten.

Der Gemeinderat hat Hilfsmittel, die oft übersehen werden. So können beispielsweise Großeltern, die selbst keine Berufungen erfüllen, jungen Familien helfen, die heute genau dieselben Erfahrungen machen wie sie früher einmal.

Der Herr hat die Eltern gewarnt: „Wenn Eltern in Zion … Kinder haben und sie nicht lehren, die Lehre von der Umkehr, vom Glauben an Jesus Christus, den Sohn des lebendigen Gottes, und von der Taufe und der Gabe des Heiligen Geistes durch Händeauflegen zu verstehen, wenn sie acht Jahre alt sind, so sei die Sünde auf dem Haupt der Eltern.“11

Der Gemeinderat ist für unseren gegenwärtigen Bedarf ideal. Hier können dem Zuhause und der Familie der richtige Platz eingeräumt werden, und die Kirche kann die Eltern unterstützen, statt an ihre Stelle zu treten.

In dem Maß, wie die Welt immer bedrohlicher wird, nahen sich die Mächte des Himmels den Eltern und der Familie.

Ich habe schon viel in den heiligen Schriften studiert und daraus gelehrt. Ich habe viel von dem gelesen, was die Propheten und Apostel gesprochen haben. Sie haben einen tiefgehenden Einfluß auf mich als Mann und als Vater.

Aber das meiste von dem, was ich über die Gefühle unseres Vaters im Himmel gegenüber uns, seinen Kindern, weiß, habe ich dadurch gelernt, wie ich meiner Frau und meinen Kindern und deren Kindern gegenüber empfinde. Das habe ich zu Hause gelernt. Ich habe es von meinen Eltern gelernt, von den Eltern meiner Frau, von meiner geliebten Frau und von meinen Kindern. Deshalb kann ich von unserem liebenden himmlischen Vater und vom Herrn und Erlöser Zeugnis geben. Im Namen Jesu Christi, amen.

  1. Siehe LuB 68:25.

  2. Siehe LuB 20:75.

  3. LuB 43:8.

  4. Siehe Mosia 18:25; Alma 6:6.

  5. Maleachi 4:6; siehe auch 3 Nephi 25:5,6; LuB 2:2,3.

  6. LuB 93:47.

  7. Siehe LuB 93:41,42.

  8. LuB 93:44,50.

  9. LuB 93:49.

  10. . Siehe Alma 12:32.

  11. . LuB 68:25.