1990–1999
Von guten Eltern stammen
Oktober 1992


Von guten Eltern stammen

„Wenn Zurechtweisung und Strafe sein müssen, so ist es sehr wichtig, daß man den anderen dennoch weiterhin aufrichtet und stärkt und darauf achtet, daß er das Gefühl, wichtig und fähig zu sein, nicht verliert.”

Vor kurzem saß ich hinten in einer Ka pelle; es war während des Miteinanders der Primarvereinigung, und beobachtete einige lebhafte Kinder, die ihre Musiklehrerin schwer beschäftigten. Die Gesangsleiterin bat die Kinder, als Schlußlied „Ich bin ein Kind des Herrn” zu singen. Alle wurden still, und bei diesem Lied vereinigten sich zum ersten Mal während dieser Versammlung ihre Stimmen zu Qualität statt zu Quantität. Die Worte klangen mit engelgleicher Resonanz in der Kapelle wieder:

Führ mich, leit mich und begleit mich

durch die Prüfungszeit.

Lehr mich alles, was ich brauch’

Zur ewgen Seligkeit.

Diese bittenden Worte gingen mir an jenem Tag sehr zu Herzen und berührten mich tief. Wie schwer wiegt doch die Verantwortung, die der Herr uns als Eltern auferlegt hat, nämlich diese Kinder auf den Wegen der Heiligkeit zu leiten, sie durch die Gefahren der Sterblichkeit zu führen, und mit ihnen auf dem engen und schmalen Pfad zu gehen, der zur Ewigkeit führt. Ja, uns obliegt es, ihnen alles beizubringen, was sie tun müssen, damit sie eines Tages, wenn das Sterbliche ins Unsterbliche verwandelt wird, in die Gegenwart des Vaters zurückkehren und bei ihm und ihrem älteren Bruder, Jesus Christus, leben können.

Das Buch Mormon zeigt deutlich, wie wichtig Rechtschaffenheit und Hingabe seitens der Eltern sind. Das erste, was Nephi schreibt, ist eine Achtungsbezeigung für seine Eltern: „Ich Nephi, stamme von guten Eltern, und darum ist mir von allem Wissen meines Vaters etwas beigebracht worden.” (l Nephi 1:1.) Enos schreibt: „Und die Worte, die ich meinen Vater in bezug auf das ewige Leben und die Freude der Heiligen oft hatte sprechen hören, waren mir tief ins Herz gedrungen.” (Enos 1:3.) Mormon berichtet über Nephi und Lehi, die beiden Söhne Helamans: „Sie gedachten der Worte, die ihr Vater Helaman zu ihnen gesprochen hatte. Und dies sind die Worte, die er gesprochen hatte.” (Helaman 5:5.) Hier finden wir eine Achtungsbezeigung für einen guten Vater so wie die Worte, die er zu seinen Kindern gesagt hatte. Er erinnerte sie an die Namen, die er ihnen gegeben hatte, damit sie immer danach trachteten, gute Werke zu tun und die kostbare Gabe des ewigen Lebens anzustreben (siehe Vers 6-7). Dann sagte er ihnen: „O gedenkt, gedenkt, meine Söhne, der Worte, die König Benjamin zu seinem Volk gesprochen hat; ja, denkt daran, daß es keinen anderen Weg und keine anderen Mittel gibt, wodurch der Mensch errettet werden kann, als nur das sühnende Blut Jesu Christi.” (Vers 9.)

Der Hinweis auf die Worte König Benjamins zeigt, daß Helaman, in seiner Eigenschaft als Vater, die heilige Schrift kannte und seine Kinder lehrte, die Worte der Propheten zu befolgen. Er fuhr fort: „Und nun, meine Söhne, denkt daran, denkt daran, daß ihr euren Grund auf dem Fels eures Erlösers - und das ist Christus, der Sohn Gottes legen müßt.” (Vers 12.)

Was können die Eltern einem Kind besseres beibringen, als daß es den Propheten folgen und auf Jesus Christus bauen soll? Jakob, ein Prophet im Buch Mormon, lehrt: Wenn wir die Kinder belehrt haben und sie „in Christus Hoffnung erlangt” haben, dann können wir sie lehren, wie man Reichtum erwirbt, damit sie diesen Reichtum verwenden, „die Nackten zu kleiden und die Hungrigen zu speisen” (Siehe Jakob 2:18,19). Wir müssen ihnen all das beibringen, was sie tun müssen, um bei Gott zu wohnen - und der beste Lehrer ist das Beispiel.

Als ich damals hinten in der Kapelle saß, fragte ich mich: „Tue ich alles, was ich tun muß? Können meine Frau und meine Tochter an meiner Seite gehen und darauf vertrauen, daß ich sie ins celestiale Reich führe?, Führ mich, leit mich und begleit mich. …’” Halt! Halten Sie einen Moment inne, und fragen Sie sich selbst so wie ich: „Können meine Frau und meine Kinder an meiner Seite gehen und darauf vertrauen, daß ich sie ins celestiale Reich führe?” Der Erretter sagt: „Euch muß es zuerst um sein - Gottes - Reich und um seine Gerechtigkeit gehen.” (Matthäus 6:33.)

Die Anweisungen sind klar. Wir müssen lehren, und wir müssen ein Beispiel für diese Lehren sein. In unserem Eifer, andere Menschen zur Rechtschaffenheit zu bringen, fangen wir manchmal an, Zwang auszuüben, und das führt zu Rebellion. Wenn wir versuchen, anderen Menschen unsere Denkweise aufzuzwingen, verschließen sie sich unseren Lehren und lehnen schließlich unsere Worte ab. Sie haben ja Entscheidungsfreiheit,

In, Lehre und Bündnisse’, Abschnitt 121, erklärt der Herr, wie man lehren soll. Er sagt: „Nur mit überzeugender Rede, mit Langmut, mit Milde und Sanftmut und mit ungeheuchelter Liebe, mit Wohlwollen und mit reiner Erkenntnis, wodurch sich die Seele sehr erweitert.” (Vers 41-42.) Den Ausdruck die Seele erweitern liebe ich sehr. Richtiges Lehren erweitert die Seele.

Zum Beispiel: Vergleichen wir einmal ein Kind mit einem leeren Glas und unsere Erkenntnis und Erfahrung, die wir über die Jahre angesammelt haben, mit einem Eimer Wasser. Logik und Physik sagen uns, daß wir einen Eimer Wasser nicht direkt in ein kleines Glas schütten können. Indem man aber Erkenntnis vermittels richtiger Grundsätze überträgt, kann man das Glas erweitern. Diese Grundsätze sind überzeugende Rede, Langmut, Milde und Sanftmut, ungeheuchelte Liebe, Wohlwollen und reine Erkenntnis. Dadurch wird das Glas, nämlich die Seele des Kindes, erweitert, sodaß es viel mehr als den ursprünglichen Eimer voll aufzunehmen vermag.

Verhaltensforscher haben ganze Bibliotheken mit Büchern über dieses Thema gefüllt. Dieselbe Information hat uns der Herr in nur ein paar Versen heiliger Schrift gegeben. Wir müssen stets so lehren, leiten und führen, daß wir in unseren Kindern und in anderen Menschen ein hohes Maß an Selbstachtung schaffen.

Damit die Selbstachtung geschaffen und gepflegt wird, müssen unsere Worte und Taten dem Betreffenden immer zeigen, daß er wichtig und fähig ist. Die Schrift nennt das „aufrichten”. Die Psychologen nennen es „das Positive bekräftigen”. Das Geheimnis ist simpel. Suche stets nach dem Guten im Menschen und richte ihn auf, bekräftige das Positive mit Wort und Tat. Niederdrückendes, Wörter wie „dumm” oder „Dummkopf”, Redensarten wie „Warum kannst du bloß nichts richtig machen?” zerstören die Selbstachtung und dürfen in unserem Vokabular nicht vorkommen. Es ist unmöglich, das Gute im anderen Menschen zu betonen, wenn einem ständig negative Worte und Redensarten auf der Zunge liegen oder man sie durch Gesten ausdrückt. Die Bitte, die mit „führ mich, leit mich und begleit mich” angedeutet wird, lautet: „Richte mich auf. Stärke meine müden Knie. Laß mich wissen, daß ich wichtig und fähig bin.” (Siehe LuB 81:5.)

Wenn Zurechtweisung und Strafe sein müssen, so ist es sehr wichtig, daß man den anderen dennoch weiterhin aufrichtet und stärkt und darauf achtet, daß er das Gefühl, wichtig und fähig zu sein, nicht verliert. Im 121. Abschnitt von, Lehre und Bündnisse’ erklärt der Herr, wie man das macht: „Alsbald mit aller Deutlichkeit zurechtweisend, wenn dich der Heilige Geist dazu bewegt, wirst du danach aber demjenigen, den du zurechtgewiesen hast, vermehrte Liebe erweisen.” (Vers 43.)

Wie Eider Maxwell angemerkt hat, wird dem Wort „alsbald” oft die Bedeutung von „von Zeit zu Zeit” oder „gelegentlich” beigemessen, es bedeutet jedoch „frühzeitig”. Die Zurechtweisung muß also frühzeitig stattfinden, auf Weisung des Heiligen Geistes und ohne Zorn. Vor einhundertzweiunddreißig Jahren hat Brigham Young in einer Ansprache hier im Tabernakel diesen Rat gegeben: „Züchtige nie stärker, als du heilenden Balsam in dir hast.” (Journal of Discourses, 9:124,125.) Der Herr sagt: „… danach vermehrte … Liebe erweisen” (siehe LuB 121:43).

Wie richtig zurechtgewiesen wird, ist klar und einfach bestimmt worden: frühzeitig, mit dem Frieden des Heiligen Geistes. Wir müssen dabei so viel von der heilenden Kraft in uns haben, daß die Selbstachtung bestimmt nie verletzt wird, und sichergehen, daß der Betreffende sich als wichtig und fähig betrachtet.

O, ihr guten Eltern, hört diese Worte und handelt entsprechend:

Führ mich, leit mich und begleit mich durch die Prüfungszeit. Lehr mich alles, was ich brauch’ Zur ewgen Seligkeit.

Im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.