1990–1999
Die Christusliebe
Oktober 1992


Die Christusliebe

„Der Ausdruck, Christusliebe’ kann dreierlei bedeuten, nämlich: Liebe zu Christus, Liebe von Christus und Liebe wie die Liebe von Christus/’

Mir ist ein wenig klar geworden, wie kostbar das Buch Mormon als Zeuge für Christus ist, und ich schätze die Lehren, die diese heilige Schrift enthält, sehr. Ich möchte heute auf einiges davon näher eingehen.

Als junger Missionar habe ich einmal die Worte des Paulus an die Heiligen in Korinth gelesen und vor allem über diesen Vers nachgedacht: „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.” (l Korinther 13:13.) Im Buch Mormon, und zwar bei Mormon, habe ich etwas ganz Ähnliches gefunden, nämlich: „Die Nächstenliebe ist die reine Christusliebe, und sie dauert für immer fort.” (Moroni 7:47.)

Ich habe darüber nachgedacht, was mit der „Christusliebe” gemeint sein mag. Die Antwort ist sehr wichtig, weil „der Herr Gott das Gebot gegeben [hat], daß alle Menschen Nächstenliebe haben sollen, und diese Nächstenliebe ist Liebe” (2 Nephi 26:30). Wenn wir Nächstenliebe haben wollen, dann müssen wir wissen, was das ist. Der Ausdruck „Christusliebe” kann dreierlei bedeuten, nämlich:

  1. Liebe zu Christus

  2. Liebe von Christus

  3. Liebe wie die Liebe von Christus Zunächst die Liebe zu Christus. Sie macht Jesus Christus zum Gegenstand unserer

Liebe, und unsere Dankbarkeit für ihn muß dann in unserem Leben zum Ausdruck kommen. Das ist manchmal nicht so einfach. Ich habe einmal die Versammlung einer Hohepriestergruppe besucht, in der ein älterer Bruder den Unterricht hielt. Er meinte: „Wir Mitglieder der Kirche beten oft:, Wir danken dir für die Segnungen, mit denen du uns erfreust/ Aber was ist mit den Segnungen, über die wir uns nicht freuen? Es kann manchmal sehr schwer fallen, auch für solche Segnungen dankbar zu sein.” Dieser gute Mann hatte gerade sein erstes Weihnachtsfest ohne seine Frau erlebt nach fünfzig Jahren Ehe. Es ist schwer, dem Herrn auch dann dankbar zu sein, wenn uns die Umstände keine Freude machen.

Unser geliebter Präsident Benson hat davon erzählt, was er bei den Mitgliedern in den vom Zweiten Weltkrieg heimgesuchten Ländern erlebt hat. Unter anderem hat er die folgende Begebenheit geschildert: „Eine Schwester legte mit vier kleinen Kindern über tausend Meilen zu Fuß zurück, nachdem sie ihr Zuhause in Polen verlassen hatte. Sie verlor alle vier Kinder - sie verhungerten und erfroren. Aber dann stand sie ausgemergelt, wie sie war, vor uns, mit zerrissener Kleidung und Jutelappen um die Füße, und gab Zeugnis davon, wie gesegnet sie sei.” (Generalkonferenz, April 1980.) Das, woran wir keine Freude haben, darf unsere Gründe, die Liebe zu Jesus Christus zu wahren, nicht überschatten. Sonst verlieren wir vielleicht die Perspektive oder werden bitter und verlieren vielleicht die Liebe zu Christus.

Wie sehr lieben wir ihn? Hängt unsere Liebe davon ab, ob die Umstände günstig sind? Wird sie durch das, was wir erleben, schwächer oder stärker? Wird an unserem Verhalten und unserer Einstellung sichtbar, daß wir ihn lieben? Nächstenliebe, die Liebe zu Christus, macht uns in jeder Hinsicht stark und beeinflußt alle unsere Entscheidungen.

Die zweite Bedeutung der Nächstenliebe ist die Liebe von Christus. Bei einem Propheten im Buch Mormon finden wir eine inspirierte Erklärung dazu. Moroni hat in bezug auf den Herrn gesagt: „Ich denke daran, daß du gesagt hast, du habest die Welt geliebt, ja, so daß du dein Leben für die Welt niedergelegt hast. … Und nun weiß ich, daß diese Liebe, die du für die Menschenkinder gehabt hast, Nächstenliebe ist.” (Ether 12:33,34.)

Dadurch, daß Jesus Christus die harten Forderungen des Sühnopfers erfüllt hat, hat er höchste Liebe bekundet. „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.” (Johannes 15:13.) Und dadurch, daß der Vater seinem Sohn gestattet hat, ein selbstloses und leidvolles Opfer zu bringen, hat er uns, seinen übrigen Kindern, seine größte Liebe erwiesen.

Der Apostel Johannes hat mit folgenden Worten von dieser grenzenlosen, aber bedingten Kundgebung der Nächstenliebe der Götter Zeugnis gegeben: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.” (Johannes 3:16.) Die Nächstenliebe, die uns da geschenkt wird, müssen wir auch annehmen. Die Erlösung von unseren Sünden, die Christus gewährt, tritt nur dann in Kraft, wenn wir bereit sind, den Bedingungen seines Sühnopfers zu entsprechen.

Darüber, daß wir die Liebe Gottes annehmen müssen, hat Moroni gebeterfüllt gesagt: „Wenn die Menschen keine Nächstenliebe haben, können sie die Stätte nicht ererben, die du in den Wohnungen deines Vaters bereitet hast.” (Ether 12:34.)

Vor ein paar Jahren habe ich mich einmal auf eine Unterrichtsstunde zu einem Thema vorbereitet, das ich mir besonders schwierig vorstellte. Am Abend vor dem Unterricht betete ich um Weisung und ging dann schlafen, wobei ich immer noch innerlich unruhig war. Als ich aufwachte, kam mir ein bestimmter Gedanke in den Sinn, den ich dann später an dem Vormittag meiner Klasse vortrug. Nach dem Unterricht sprach ein junger Mann mich an und sagte: „Der Unterricht war für mich bestimmt. Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.” Später erfuhr ich, daß dieser Unterricht nach vielen Jahren sein erster erneuter Kontakt mit der Kirche gewesen war. Er brachte sein Leben in Ordnung und erfüllte dann treu eine Mission. Jetzt erfährt er, welches Glück damit verbunden ist, wenn man Familienbündnisse für die Ewigkeit eingeht. Er besitzt Nächstenliebe, weil er die sühnende Liebe Christi angenommen hat.

Der dritte Gedanke, den ich mit der Nächstenliebe verbinde, ist, daß man solche Liebe hat wie Christus. Mit anderen Worten: unsere Mitmenschen sind der Gegenstand unserer christlichen Liebe. Nephi hat gesagt: „Ich habe Nächstenliebe für mein Volk. … Ich habe Nächstenliebe für die Juden. … Ich habe auch Nächstenliebe für die An-

dem.” (2 Nephi 33:7,8,9.) Wir möchten wissen, wie Nephi alle Menschen lieben gelernt hat. Er muß die göttliche Weisung vorweggenommen haben, die der Herr später als den Schlüssel dazu bezeichnet hat, wie man lieben lernt, nämlich: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.” (Johannes 13:34; Hervorhebung hinzugefügt.) Die Liebe Jesu war untrennbar mit seinem Leben voll Dienst- und Opferbereitschaft verbunden und resultierte daraus. Christliche Liebe können wir uns nur aneignen, indem wir den Weg gehen, den der Herr vorgezeichnet hat.

Der Apostel Johannes wurde nicht nur vom Herrn geliebt, sondern er liebte auch seine Mitmenschen so, wie der Herr sie liebte. Das bekräftigte er mit den folgenden Worten: „Daran haben wir die Liebe erkannt, daß Er sein Leben für uns hingegeben hat. So müssen auc wir für die Brüder das Leben hingeben.” (l Johannes 3:16.)

Ist es ein Zufall, daß die Missionare einen Teil ihres Lebens für andere hingeben und dann nach Hause kommen und bezeugen, wie sehr sie die Menschen lieben, denen sie gedient haben? Ist es ein Wunder, daß Bischöfe und andere Priestertumsführer und HO-Führungsbeamte, die für andere Opfer bringen, von Liebe zu denen erfüllt sind, für die sie sich abmühen? Gibt es unter den Menschen größere Liebe als die Liebe der Mutter, die für ihr Kind alles opfert? Viele, die sich solche Nächstenliebe wünschen, wie Jesus sie hatte, erlangen sie, indem sie ihm nacheifern.

Meine Frau war an einem Wochenende nicht da und bat deshalb im voraus eine der Schwestern in unserer Gemeinde, für sie den FHV-Unterricht zu übernehmen. In der Woche danach kam diese Schwester zu uns nach Hause und brachte den Leitfaden zurück. Außerdem brachte sie meiner Frau ein frischgebackenes Brot mit einer Karte, auf die sie geschrieben hatte: „Ich habe Sie lieb. Sie sind ein ganz besonderer Mensch. Danke, daß Sie an mich gedacht haben.” Sie war dankbar, daß sie gebeten worden war, zu dienen. Sie war von der Christusliebe erfüllt.

Nächstenliebe ist nicht bloß eine Idee oder ein Grundsatz, nicht bloß ein Wort, mit dem man Verhalten und Einstellung beschreibt. Sie ist vielmehr eine innere Haltung, die man entwickeln und erfahren muß, um sie verstehen zu können. Wir haben Nächstenliebe, wenn sie Teil unseres Wesens ist. Jemand, der Nächstenliebe hat, liebt Jesus Christus; er hat von seiner Liebe empfangen und liebt seine Mitmenschen so, wie Christus sie liebt.

Es ist vielleicht bedeutsam, daß das Wort Nächstenliebe in keinem einzigen Vers im Alten Testament auftaucht. Gewiß wussten auch die Propheten im Altertum darum, wie notwendig die Nächstenliebe ist, ebenso wie der Apostel Paulus und die Propheten im alten Amerika. Und gewiß wußten und lehrten diese Propheten auch, daß die „Nächstenliebe … die reine Christusliebe” ist (Moroni 7:47). Wir können nur mutmaßen, ob die Feinde Christi diese errettenden Wahrheiten bewußt aus den heiligen Schriften herausgenommen haben, denn Nephi hat ja prophezeit, es würden viele Teile herausgenommen werden, die klar und kostbar sind (siehe l Nephi 13:20-29). Auch im Neuen Testament ist die Nächstenliebe nur zum Teil erklärt. Aber glücklicherweise hat uns das Buch Mormon, als zweiter Zeuge für Christus, von neuem einen Einblick in diesen ewig gültigen Grundsatz vermittelt. Ich bezeuge: wenn wir uns daran halten, kommen wir Gott näher. Ja, wir werden ihm ähnlicher.

Ganz persönlich und als Gemeinschaft können wir den inneren Frieden und das Glücklichsein finden, die in alter Zeit fast zweihundert Jahre herrschten: „Wegen der Gottesliebe, die dem Volk im Herzen wohnte, gab es im Land keinen Streit.” (4 Nephi 1:15.) Das weiß ich, so wie ich weiß, daß Jesus Christus lebt. Im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.