1990–1999
Ein liebender Gott, der sich den Menschen mitteilt
Oktober 1992


Ein liebender Gott, der sich den Menschen mitteilt

„Christus steht an der Tür und klopft an;wer möchte, daß er eintritt, … muß … die Tür öffnen.”

Jeder, der so hat dienen dürfen wie wir, fühlt sich über jegliches persönliche Verdienst hinaus geehrt. Wir wissen das und sind dankbar.

Die Bibel verkündet, daß Gott der Vater und der Gott des Geistes aller Menschen ist (siehe Numeri 16:22; Hebräer 12:9). Der Apostel Paulus hat den Menschen in Athen erklärt, daß wir „von Gottes Art” sind, und den Römern: „So bezeugt der Geist selber unserem Geist, daß wir Kinder Gottes sind. Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; wir sind Erben Gottes und sind Miterben Christi.” (Apostelgeschichte 17:28,29; Römer 8:16,17.)

Weil unser Vater seine Kinder sehr liebt und weil er ihnen unbedingt Entscheidungsfreiheit gewährt, können die Menschen sich seit jeher frei entscheiden. Johannes verkündet in den ersten Versen seines Evangeliums: Christus, „das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt” (Johannes 1:9). In den heiligen Schriften steht auch: „Jedem Menschen ist der Geist Christi gegeben, damit er Gut von Böse unterscheiden könne.” (Moroni 7:16; siehe auch LuB 84:45,46.) Dazu gehört eine bedeutsame Schriftstelle, aus der hervorgeht, warum nicht jeder Mensch im Licht lebt und warum manche sich statt für das Gute für das Böse entscheiden: „Der Geist erleuchtet jeden Menschen auf der Welt, der auf die Stimme des Geistes hört.” (LuB 84:46; Hervorhebung hinzugefügt.)

Der himmlische Vater möchte, daß alle Menschen sich von dem Licht leiten lassen, aber er zwingt es niemandem auf. Christus steht an der Tür und klopft an; wer möchte, daß er eintritt und mit ihm Mahl hält, muß seine Stimme hören und die Tür öffnen (siehe Offenbarung 3:20). Die beiden erhabenen Grundsätze, um die sich das Evangelium dreht, nämlich Liebe und Entscheidungsfreiheit, werden also deutlich gelehrt. Jeder von uns ist hier, damit er lernt zu lieben und zu geben und auf den Geist zu hören und sich dafür zu entscheiden, den Willen des Vaters zu tun. Gott möchte, daß seine Kinder und Erben so werden, wie sie werden können, daß sie sich für ihr Erbteil qualifizieren. Aber wir müssen uns entscheiden; wir sind diejenigen, die die Entscheidung treffen, und aus dieser Verantwortung entläßt er uns nicht. Schon im Buch Deuteronomium steht geschrieben:

„Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor. … Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott, hör auf seine Stimme.” (Deuteronomium 30:15,19,20.)

Durch das Licht des Herrn hat die Wahrheit in gewissem Maß viele Wege und Elemente und Ebenen des Lebens erreicht. Ich freue mich sehr, an so vielen Orten und aus so vielen Quellen soviel Gutes zu finden. Präsident Joseph F. Smith hat die Personen der Gottheit als „Quelle der Wahrheit” bezeichnet und gesagt: „Von dieser Quelle haben alle antiken gelehrten Philosophen ihre Inspiration und Weisheit erhalten - von ihr haben sie alle ihre Erkenntnisse. Wenn wir in irgendeinem Zeitalter Bruchstücke der Wahrheit finden, dann stammt sie aus der Quelle - das ist eine unwiderlegbare Tatsache - und wurde den Philosophen, Erfindern, Patrioten, Reformern und Propheten durch Inspiration von Gott gegeben.” (Improvement Era, Juni 1907, Seite 629.)

Die Führer der Kirche vor und nach ihm haben Ähnliches bezeugt. In jedem Bereich, in dem ich tätig gewesen bin, habe ich mit guten, charakterfesten Menschen zu tun gehabt, die vielfach die gleichen Wertvorstellungen hatten wie ich. Betrachten Sie einmal das besondere Beispiel des beliebten Lehrers und Autors der Quäker, Rufus Jones, der gesagt hat:

„Eine lebendige Religion kann sich nicht auf die Theorie gründen, daß Gott nur in vergangenen Zeitaltern zum Menschengeschlecht gesprochen hat und daß die Bibel unser einziger Beweis dafür ist, daß Gott lebt und sich offenbart und mit den Menschen spricht. Wenn Gott jemals gesprochen hat, dann spricht er auch heute noch. Er ist der große Ich Bin, nicht der große Er War.” (A Flash ofEternity.)

Das ist eine bedeutsame Darlegung einer grundlegenden Wahrheit. Wir verstehen diesen Grundsatz so, daß Gott sich seinen Kindern mitteilt und daß er vieles Große und Wichtige in bezug auf sein Reich offenbart hat, jetzt offenbart und noch offenbaren wird.

Die jüdische Überlieferung vermittelt uns einen weiteren Einblick in das Wesen des himmlischen Vaters: Zu Pessach, wenn der Auszug der Israeliten aus Ägypten und der Durchzug durch das Rote Meer gefeiert wird, gibt es auch den Brauch des halben Hallels. Als die Israeliten das Rote Meer erreichten, holten die Ägypter sie fast ein. Durch Mose ließ Gott das Wasser sich teilen, und „die Israeliten zogen auf trockenem Boden ins Meer hinein” (Exodus 14:22). Die Ägypter eilten ihnen nach. Da streckte Mose wieder die Hand über das Rote Meer aus, und die Fluten kamen zurück. Die Israeliten waren in Sicherheit, und die ägyptischen Heere ertranken. Triumphierend begannen die Israeliten dem Herrn Loblieder zu singen. Aber der Allmächtige gebot ihnen Einhalt und sagte: „Wie könnt ihr Lob- und Jubellieder singen, wenn so viele meiner Kinder im Meer ertrinken?”

Zur Erinnerung an dieses Ereignis singen die Juden gegen Ende des Pessachfests verkürzte Lobespsalmen, eben halbe Hallels. Ja, das Licht aus der Quelle leuchtet in aller Welt. Wir freuen uns darüber und bezeugen von Herzen: Gott lebt wirklich, er ist ein Vater, der sich offenbart und mit den Menschen spricht.

Wenn die umfangreichen Aufzeichnungen der antiken Propheten und Verfasser der Bibel mit den sie unterstützenden und bereichernden Wahrheiten zusammenkommen, die in den heiligen Schriften der Wiederherstellung enthalten sind, dann werfen diese vereinten Schätze ein neues Licht auf die meisten wichtigen Fragen, die die Menschheit in allen Zeitaltern gestellt hat und noch immer stellt und auch in Zukunft mit immer größerer Sorge stellen wird, wenn die Bevölkerungszahlen und die Deutungen sich vervielfachen. Sie enthalten die Wahrheit über Gott und Christus und den Heiligen Geist - die Gottheit, über den Menschen selbst, über die Sterblichkeit und ihre Bedeutung und über die Ewigkeit und die damit verbundenen Verheißungen.

Ein bedeutsames Beispiel für dieses größere Licht ist auch darin zu sehen, daß es sich zu dem immer umfangreicher werdenden Katalog der Sorgen, die die Menschen persönlich, als Institution, als Land, als Kulturkreis - bedrängen, äußert. Vor mehreren tausend Jahren rief der Psalmist: „Herr, sei mir gnädig, denn mir ist angst.” (Psalm 31:10.) Dann sprach er über Probleme, die dem heutigen Ohr zum Teil merkwürdig vertraut klingen. In unserer heutigen unruhigen Welt bedrängen Katastrophen und Zerstörung, Angst, Hunger und Auseinandersetzungen die Erde; viele Menschen sind bedrängt und unglücklich. Es gibt immer mehr Bücher, in denen es um das geht, was den einzelnen, die Familie und die Gesellschaft beunruhigt. Oft stimmen sie darin überein, daß die Frage, die es zu stellen gilt, nicht lautet: Warum müssen gute Menschen Prüfungen durchmachen?, sondern daß man fragen muß: Wie soll ein guter Mensch mit seinen Prüfungen umgehen? Die heiligen Schriften helfen uns, einige wichtige Fragen zu beantworten.

  • Verheißt Gott seinen Kindern, daß ihnen Unannehmlichkeiten und Bedrängnis erspart bleiben?

  • Ist Drangsal ein Anzeichen dafür, daß er mit uns unzufrieden ist?

  • Haben die Propheten in alter Zeit und Christus und seine Apostel kein Ungemach erfahren?

  • Hat er seinen Anhängern verheißen, ihnen würden Unannehmlichkeiten erspart bleiben?

Die heiligen Schriften äußern sich dazu. Die Bergpredigt wendet sich an diejenigen, die trauern, die arm sind vor Gott, die beschimpft und verfolgt und verleumdet werden (siehe Matthäus 5:3,4,11).

Uns wird geraten, die andere Wange hinzuhalten, wenn wir geschlagen werden, und mit dem, der uns zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, noch eine weitere zu gehen. Es ist die Rede von denen, die übertreten, die Feinde sind, die verfluchen und hassen und unschuldige Mitmenschen mißhandeln. Die Sonne scheint für die Bösen und die Guten, der Regen fällt auf die Gerechten und die Ungerechten (siehe Matthäus 5:39-45).

Die frühen Führer der Kirche wurden folgendermaßen ermahnt: „Sei geduldig in deinen Bedrängnissen, denn du wirst viele haben.” (LuB 24:8.)

Gott läßt uns die Erfahrungen, die wir hier auf der Erde machen sollen, durchaus machen. Er hält uns nicht von Drangsal fern und garantiert uns keine Immunität gegen Unannehmlichkeiten.

Manches von dem Schmerz, den wir durchmachen und den wir unvermeidlich auch anderen zufügen, haben wir uns selbst zu verdanken - unserer falschen Einschätzung, unseren falschen Entscheidungen.

Und dafür gibt es Abhilfe. Dem reumütigen Sünder wird zugesichert, daß Gott die Sünden, von denen wir aufrichtig umgekehrt sind, vergibt und vergißt und daß er sie niemals wieder erwähnt.

Aber auf manches, das uns in diesem Leben geschieht, haben wir keinen Einfluß; wir können nur darauf reagieren. Das Bewußtsein dessen, was Gott verheißen hat, kann uns den nötigen Mut und Glauben verleihen. In den heiligen Schriften wird uns versichert, daß wir mit Gewißheit wissen können, daß der Herr die Menschen in ihren Bedrängnissen besucht (siehe Mosia 24:13,14). Und: Wer sein Vertrauen in Gott setzt, der wird in seinen Prüfungen, in seinen Beunruhigungen und Bedrängnissen gestärkt und am letzten Tag emporgehoben werden.” (Alma 36:3.)

Jesus hat zu denen, die um einen geliebten Menschen trauerten, einmal gesagt: „So seid auch ihr jetzt bekümmert, aber ich werde euch wiedersehen; dann wird euer Herz sich freuen, und niemand nimmt euch eure Freude.” (Johannes 16:22.)

Zu den Einsamen und denen ohne Hoffnung und denen, die Angst haben, sagt er: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.” (Hebräer 13:5.)

Uns ist also verheißen, daß in Kummer und Bedrängnis, wenn wir ausharren und treu bleiben und unser Vertrauen in ihn setzen und mutig sind, der Herr uns in unseren Bedrängnissen besucht und uns stärkt, so daß wir unsere Last tragen können, und daß er uns stützt. Er ist mit uns bis ans Ende unserer Tage, er richtet uns am letzten Tag auf, damit wir noch größere Möglichkeiten zum Dienen haben, und am Ende erhöht er uns, daß wir mit unseren Lieben bei ihm sein können; er weiht unsere Bedrängnisse, daß sie uns zum Gewinn gereichen.

Eine Erfahrung der letzten Jahre, die mir sehr zu Herzen gegangen ist, war, als ein Bischof in einer Versammlung darüber gesprochen hat, wie ihm zumute war, als er seine Frau durch Krebs verloren hat, eine Erfahrung, die viele andere Männer und Frauen und Familien auch schon durchlitten haben.

Zwanzig Jahre zuvor hatte er mitansehen müssen, wie seine Mutter schwer zu leiden hatte, ehe sie starb, und in all den Jahren hatte er immer noch einen heimlichen Groll gegen die Qualen gehegt, die sie durchgemacht hatte. Als dann aber seine Frau die gleichen Qualen erlitt, verwandelte sich sein Zorn, so schlimm es für sie und in gewissem Maße für die ganze Familie war, in eine engere geistige Beziehung zum Herrn, und es quälte ihn nicht so sehr, die Last gemeinsam mit ihr zu tragen.

Kurz bevor seine Frau gestorben war, hatte sie ihn gebeten, ihr einen Segen zu geben, um die schrecklichen Schmerzen zu lindern. Sie weinten beide, als er ihr die Hände auflegte und mit dem Herrn sprach. Später sagte er dann darüber: „Ich spürte die geistige Gegenwart des Vaters im Himmel. Ich hatte das untrügliche Gefühl, daß da noch jemand bei uns war und mit uns weinte!” Als es zu Ende ging, sagte sie, die doch körperlich schwer litt: „Nie habe ich mich unversehrter gefühlt!”

Das eindringliche Gefühl, daß er dort war und mit ihnen weinte. Natürlich, warum nicht? Jesus hat am Grab des Lazarus geweint; er hat wegen der Bedrängnisse geweint, die Jerusalem bevorstanden; und er hat geweint, als er auf den amerikanischen Kontinent kam und mit seinem Volk niederkniete und vor allem, als er ihre kleinen Kinder nahm, eines nach dem anderen, und sie segnete und für sie zum Vater betete (siehe 3 Nephi 17:21,22; siehe auch Johannes 11:35; Lukas 19:41).

Als wir gestern abend nach unseren Versammlungen nach Hause kamen, haben wir den Brief einer lieben Mutter aus der Kirche geöffnet, die ihren Mann vor zwei Jahren durch einen Unfall verloren hat. Sie und ihre Kinder haben, so schrieb sie, in dem Satz, der bei mir im Büro gerahmt an der Wand hängt, Trost gefunden: „An Gott glauben heißt wissen, daß alle Regeln fair sind und daß es wunderbare Überraschungen gibt.”

Ich danke Gott für seine Liebe und die Liebe seines Sohnes. Wer den Namen seines Sohnes auf sich genommen hat, so wie wir, muß die Last des Vermächtnisses tragen, das er uns hinterlassen hat - Liebe, Barmherzigkeit und Dienen, unser Erbteil der Hoffnung und Hilfsbereitschaft annehmen und voll Glauben und Tatkraft darum bemüht sein, die Nöte und Leiden der Menschheit zu lindern. Gott helfe uns, diesem Auftrag gerecht zu werden. Darum bitte ich von Herzen im Namen Jesu Christi. Amen.