2006
Die Butterdose
Juni 2006


Die Butterdose

„Von allem, was du mir schenkst, will ich dir den zehnten Teil geben.“ (Genesis 28:22.)

Nach einer wahren Begebenheit

Hier kommt der Rest der Familie“, rief Athena ihrer Mutter zu. „Sie kommen genau richtig zu deinem Geburtstagsessen!“

„Bitte stell eine Blumenvase auf den Tisch und hol die Butterdose“, sagte Mutter. Als Athena die schön gemusterte Glasdose auf den Küchentisch stellte, fielen Sonnenstrahlen darauf und zauberten an der Wand viele Regenbögen. Mutter fuhr sanft mit einem Finger über das filigrane Muster. Sie schloss die Augen und rief sich wieder die Geschichte ins Gedächtnis, die sie schon so oft gehört hatte.

Die zwölfjährige Louisa Bishop wiegte ihre kleine Schwester Emma, die noch ein Baby war, auf dem alten, handgearbeiteten Schaukelstuhl. Ihre Mutter lag im Bett, ihr Gesicht war fast so blass wie die weißen Kopfkissen. Eine tödliche Krankheit namens Diphtherie hatte die Kinder der Familie heimgesucht; drei von Louisas fünf Geschwistern waren daran gestorben. Ihre Mutter war von der vielen Arbeit und dem Kummer so erschöpft, dass auch sie krank wurde. Gerade, als es so aussah, als habe sich das Glück endgültig von ihrer Familie abgewandt, wurde die kleine Emma geboren. Louisa war wieder gesund geworden und sorgte liebevoll für ihre kleine Schwester, damit die Mutter sich ausruhen und gesund werden konnte. Und Emma vergötterte ihre große Schwester.

Im Laufe der Jahre wurden Emma und Louisa immer engere Vertraute. Als Emma 11 Jahre alt war, war Louisa schon verheiratet und ihr Mann war auf Mission in England. Emma ging voller Freude jeden Tag zu Louisas Blockhütte und half ihr.

Eines Tages fegte Emma gerade, da hielt sie plötzlich inne und sah still zu, wie Louisa die Butter aus der glitzernden Glasbutterdose in einen Topf umfüllte. „Ich hoffe, sie tut jetzt nicht das, was ich befürchte“, dachte Emma.

Louisa ging zum Waschbecken und goss aus der Kanne sauberes Wasser hinein. Dann wusch sie die Butterdose sorgfältig ab und legte sie auf ein Geschirrhandtuch zum Trocknen. Sie drehte sich zu Emma um und gab ihr den Topf mit der Butter. „Liebe Emma, bring das doch bitte zum Bischof und zahle meinen Zehnten.“

Emma verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. „Das mache ich nicht!“, rief sie. „Du brauchst diese Butter mehr als der Bischof.“

Louisas Mund wurde zu einer geraden Linie, aber ihre Augen zwinkerten amüsiert. „Emma“, wies sie sie liebevoll zurecht, „der Zehnte ist ein Gesetz, das man halten muss. Wenn ich willens bin, etwas so Großes zu leisten, wie meinen Mann an einen fernen Ort auf Mission gehen zu lassen, dann kann ich doch wohl auch etwas so Kleines schaffen, wie ein bisschen Butter wegzugeben.“

Emma war nicht überzeugt. „Wenn du nur so wenig hast, ist es aber schon eine große Sache.“

„Mach dir keine Gedanken“, sagte Louisa lächelnd. „Ich glaube daran, dass der Herr für mich sorgen wird.“

Emma sah genau hin und entdeckte Tränen in den Augen ihrer Schwester. Louisa glaubte wirklich, was sie da sagte! Emma nahm den Topf mit der Butter und ging ohne ein weiteres Wort hinaus, obwohl sie noch immer ihre Zweifel hatte.

Als sie zu Louisa zurückkam, blieb Emma in der Tür stehen und starrte mit offenem Mund in die Blockhütte. Die Butterdose stand wieder auf dem Tisch, und darin war ein Pfund Butter! Emmas Augen stellten die Frage, die ihr nicht über die Lippen kommen wollte – wo kam die Butter her?

Louisa lächelte. „Ich hab dir doch gesagt, der Herr wird für mich sorgen“, sagte sie. Sie nahm eine saubere Schüssel aus dem Küchenschrank und legte die Butter hinein. Dann ging sie wieder zum Waschbecken und füllte sauberes Wasser ein. Sie wusch die wunderschöne Glasbutterdose und den Deckel ab. Doch sie legte sie nicht auf das Handtuch, sondern trocknete beides ab und gab es Emma.

„Das möchte ich dir schenken“, sagte sie. „Und immer, wenn du die Dose ansiehst, sollst du daran denken, dass der Herr sich stets um uns kümmert, wenn wir seine Gebote halten. Vergiss das niemals, Emma. Der Zehnte kommt zuerst.“ Emma traten Tränen in die Augen, als sie die Butterdose entgegennahm.

Ihr ganzes Leben lang dachte Emma an die Lektion, die sie gelernt hatte. Jedes Jahr, wenn sich ihre Familie an ihrem Geburtstag einfand, erzählte sie diese Geschichte. Nachdem Emma gestorben war, wurde die Butterdose in der Familie als Erbstück weitergereicht. Und jeder, der die Dose sah, hörte die Geschichte, wie Emma gelernt hatte, immer ihren Zehnten zu zahlen.

Nach den Tagebucheinträgen von James Richard Lofthouse, Emmas Sohn.

„Zahlen Sie immer den Zehnten und überlassen Sie das Ergebnis der Hand des Herrn.“

Elder Joseph B. Wirthlin vom Kollegium der Zwölf Apostel, „Schulden auf Erden, Schulden im Himmel“, Liahona, Mai 2004, Seite 41.