2006
Das Tanzpaar wurde vereint
Juni 2006


Das Tanzpaar wurde vereint

25 Jahre lang hatte ich in der Innenstadt von Wiener Neustadt gearbeitet. An einem milden Tag im Mai schlenderte ich in der Mittagspause durch die Fußgängerzone und kam zu einem Buchladen. Neben der Tür standen zwei große Kisten mit preisgesenkten Büchern. Ich war neugierig, was für Bücher denn wohl für einen so geringen Preis verkauft wurden, und ich nahm das oberste Buch aus einer Kiste. Ich hatte nicht die Absicht es zu kaufen, aber ich öffnete es und entdeckte das Bild eines Tanzpaares. Zu meiner größten Überraschung sah ich auch den Namen Gretl Stättner. Mir fiel sofort ein, dass die zweite Frau meines Vaters so geheißen hatte. Seit Jahren hatte ich nicht mehr an sie gedacht.

Mein Vater war Zollbeamter, aber er war auch ein leidenschaftlicher Tänzer und betrieb eine eigene Tanzschule. Ein paar Jahre nach der Scheidung meiner Eltern lernte mein Vater Gretl in der Tanzschule kennen. Sie kannten sich nur kurz, denn mein Vater starb mit nur 35 Jahren an einem Blinddarmdurchbruch. Als er im Sterben lag, hatte er wohl gehofft, Gretl würde sich meiner annehmen, weil er wusste, dass meine Mutter sich nicht um mich kümmerte. Aus diesem Grund heiratete mein Vater Gretl nur drei Stunden vor seinem Tod. Doch Gretl war noch sehr jung und ihre Eltern hatten noch großen Einfluss auf sie. Sie konnte sich also nicht um mich kümmern, und ich wuchs bei Pflegefamilien auf.

Als ich mit dem Buch in der Hand dastand und nicht nur den Namen Stättner, sondern auch das Tanzpaar sah, wurde mir plötzlich bewusst, dass sie rechtskräftig mit meinem Vater verheiratet war. Sie hatte ein Recht darauf, an ihn gesiegelt zu werden.

Meine Nachforschungen ergaben, dass Gretl nicht wieder geheiratet hatte, dass sie in Wien gelebt und dort einen Fußpflegesalon betrieben hatte. Ich konnte mich noch an ihren Mädchennamen erinnern und auch daran, wo ihre Familie – die Weißenbergs – gewohnt hatte. Meine Frau und ich suchten nach ihnen, aber zu unserer Enttäuschung mussten wir feststellen, dass niemand aus dieser Familie noch am Leben war. Wir gingen auf den Friedhof und kamen dort zunächst auch nicht weiter, weil auf dem Stein auf dem Familiengrab nur die Nachnamen standen. Dann kamen wir darauf, dass ja schließlich jemand für das Grab und die Grabpflege aufkommen müsse, und wir erkundigten uns bei den zuständigen Behörden, wer der Eigentümer des Grabes sei. Man nannte uns einen Namen. Wir fuhren nach Wien und trafen dort eine Frau, die, wie sich herausstellte, Gretls Nichte war. Sie gab uns nicht nur die erforderlichen Angaben für Gretls Tempelarbeit, sondern hatte auch Angaben zu allen verstorbenen Mitgliedern der Familie: Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel.

Außerdem stellte sich heraus, dass meine Frau und Gretls Nichte als Mädchen die gleiche Schule besucht und am gleichen Tag ihren Schulabschluss gemacht hatten. Die Welt ist wirklich ein Dorf.

Meine Frau und ich reichten alle Namen aus der Familie für die Tempelarbeit ein und konnten dann selbst die heiligen Handlungen im Frankfurt-Tempel vollziehen. Ich bin dafür von ganzem Herzen dankbar und ich bin fest davon überzeugt, dass es kein Zufall war, dass ich das Buch von meiner Stiefmutter gefunden hatte. Bei unserem Gespräch mit Gretls Nichte stellte sich heraus, dass Gretl viele Bücher besessen hatte. Ein paar hatte ihre Nichte verschenkt, einige hatte sie behalten und andere hatte sie verkauft. Nur ein einziges Buch fand den Weg nach Wiener Neustadt, und ich bin darüber gestolpert.