Platz in der Herberge
In dieser Osterzeit legt Jesus Christus uns ans Herz, so wie er ein barmherziger Samariter zu werden und seine Herberge (seine Kirche) für alle zu einer Zuflucht zu machen
Liebe Brüder und Schwestern, auch wenn mein Vater schon vor 20 Jahren verstorben ist, so gibt es Augenblicke, in denen ich ihn vermisse. Die Verheißung an Ostern lautet, dass ich ihn wiedersehen werde.
Als ich in England studierte, besuchte mich mein Vater. Sein Vaterherz wusste, dass ich meine Familie vermisste.
Mein Vater liebte das Abenteuer – außer beim Essen. Selbst in Frankreich, das für seine Küche bekannt ist, sagte er: „Gehen wir chinesisch essen.“ Als langgedienter Patriarch in der Kirche war mein Vater geistig gesinnt und mitfühlend. Eines Nachts, als Rettungsfahrzeuge mit lauten Sirenen durch Paris rasten, sagte er: „Gerrit, diese Schreie sind die Wunden einer Stadt.“
Auf unserer Reise damals spürte ich weitere Schreie und Wunden. Eine junge Frau stand bei einem kleinen Handkarren und verkaufte Eiscreme. Ihre Waffeltüten waren gerade groß genug für eine einzige Kugel Eis. Aus irgendeinem Grund stellte ein großer Mann die junge Frau zur Rede. Er schrie sie an, schubste sie, kippte ihren Wagen um und verschüttete die Waffeltüten. Als er die Tüten mit seinen Stiefeln zertrat, konnte ich nur tatenlos zusehen. Noch heute sehe ich, wie die junge Frau auf der Straße kniete und versuchte, einige der zerbrochenen Waffeln zu retten. Tränen der Verzweiflung liefen ihr über das Gesicht. Ihr Bild verfolgt mich – eine Erinnerung daran, wie lieblos, gefühllos und verständnislos wir einander allzu oft begegnen.
An einem anderen Nachmittag, unweit von Paris, besuchten mein Vater und ich die bedeutende Kathedrale von Chartres. Malcolm Miller,1 ein weltweit anerkannter Experte für die Kathedrale, zeigte uns in Chartres drei Satz Buntglasfenster. Sie erzählen eine Geschichte, sagte er.
Die ersten Fenster zeigen Adam und Eva beim Verlassen des Gartens von Eden.
In der zweiten Fenstergruppe wird das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt.
Die dritte stellt das Zweite Kommen des Herrn dar.
Zusammengenommen beschreiben diese Buntglasfenster unsere ewige Reise. Sie ermuntern uns, alle Menschen in der Herberge Gottes willkommen zu heißen und ihnen Platz zu geben.2
Wie Adam und Eva kommen wir in eine Welt voller Dornen und Disteln.3
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Auf unserem staubigen Weg nach Jericho werden wir bedrängt, verwundet und mit Schmerzen zurückgelassen.4
Obwohl wir einander helfen sollten, wechseln wir zu oft auf die andere Seite des Weges, aus welchen Gründen auch immer.
Doch der barmherzige Samariter hält voller Mitgefühl an und verbindet unsere Wunden mit Wein und Öl. Symbole des Abendmahls und anderer heiliger Handlungen, der Wein und das Öl weisen auf die geistige Heilung hin, die wir in Jesus Christus finden.5 Der barmherzige Samariter setzt uns auf seinen Esel oder trägt uns, wie in einigen Buntglasfenstern dargestellt, auf seinen Schultern. Er bringt uns in die Herberge – auch ein Symbol für seine Kirche. In der Herberge sagt der barmherzige Samariter: „Sorge für ihn[. Ich werde] es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.“6 Der barmherzige Samariter, ein Symbol für den Erretter, verspricht, wiederzukommen, dieses Mal in Majestät und Herrlichkeit.
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In dieser Osterzeit legt Jesus Christus uns ans Herz, so wie er ein barmherziger Samariter zu werden und seine Herberge (seine Kirche) für alle zu einer Zuflucht vor den Striemen und Stürmen des Lebens zu machen.7 Wir machen uns für sein verheißenes Zweites Kommen bereit, indem wir Tag um Tag „für einen [seiner] geringsten Brüder“8 tun, was wir für ihn tun würden. „Der geringste Bruder“ ist jeder von uns.
Wenn wir mit dem barmherzigen Samariter zur Herberge kommen, lernen wir fünferlei über Jesus Christus und uns selbst.
Erstens: Wir kommen so zur Herberge, wie wir sind, mit all unseren Schwächen und Unvollkommenheiten. Doch haben wir alle etwas beizutragen, was gebraucht wird. Unseren Weg zu Gott finden wir oft gemeinsam. Wir gehören als geeinte Gemeinschaft zusammen – ob wir uns nun Pandemien, Stürmen, Waldbränden oder Dürreperioden stellen oder in aller Stille tägliche Bedürfnisse erfüllen. Wir erhalten Inspiration, wenn wir uns miteinander beraten. Dabei müssen wir jedem Einzelnen zuhören, auch jeder Schwester, und dem Heiligen Geist.
Wenn unser Herz sich wandelt und wir Jesu Abbild in unseren Gesichtsausdruck aufgenommen haben,9 sehen wir ihn und uns selbst in seiner Kirche. In ihm finden wir Klarheit, nicht Unstimmigkeit. In ihm finden wir Anlass, Gutes zu tun, Grund, gut zu sein, und die zunehmende Fähigkeit, besser zu werden. In ihm entdecken wir beständigen Glauben, befreiende Selbstlosigkeit, fürsorgliche Veränderung und Vertrauen in Gott. In seiner Herberge finden und vertiefen wir unsere persönliche Beziehung zu Gott, unserem Vater, und zu Jesus Christus.
Er vertraut darauf, dass wir mithelfen, die Herberge zu dem Ort zu machen, der sie sein muss. Werfen wir unsere Talente und besten Bemühungen in die Waagschale, schenken auch seine Geistesgaben10 Kraft und Segen.
Ein spanischsprachiger Dolmetscher sagte mir: „Elder Gong, ich wusste durch den Geist, was Sie sagen wollten, sodass ich übersetzen konnte.“ Dieser treue Bruder sprach von der „Gabe der Zungenrede“.
Die Gaben Glaube und Zuversicht treten in Erscheinung. Sie tun sich in verschiedenen Situationen unterschiedlich kund. Eine liebe Schwester erhielt geistigen Trost, als ihr Mann an COVID-19 verstarb. Sie sagte: „Ich weiß, dass mein lieber Mann und ich wieder zusammen sein werden.“ Eine andere liebe Schwester, deren Mann an COVID-19 erkrankt war, sagte: „Ich hatte das Gefühl, ich solle den Herrn und die Ärzte anflehen, meinem Mann noch ein wenig Zeit zu geben.“
Zweitens: Der Herr bittet uns, seine Herberge zu einem Ort der Gnade zu machen und groß genug, sodass alle sich versammeln können und jeder seinen Platz findet. Als Jüngerinnen und Jünger Jesu Christi sind alle gleich. Es gibt keine Gruppen zweiter Klasse.
Jedermann darf gern die Abendmahlsversammlung und die übrigen Versammlungen am Sonntag sowie die geselligen Veranstaltungen der Kirche besuchen.11 Andachtsvoll ehren wir unseren Erretter und gehen fürsorglich und rücksichtsvoll miteinander um. Wir sehen jeden und nehmen ihn bewusst wahr. Wir lächeln, setzen uns zu denen, die allein sitzen, und erkundigen uns nach dem Namen, sei es von Neubekehrten, Brüdern und Schwestern, die wieder aktiv werden, jungen Damen und jungen Männern, jedem unserer PV-Kinder.
Wir versetzen uns in die Lage von Freunden, Besuchern, Neuzugezogenen, Vielbeschäftigten, die ständig hin- und hergezerrt werden, und heißen sie willkommen. Wir trauern und freuen uns miteinander und sind füreinander da. Wenn wir unsere eigenen Ideale nicht erfüllen und voreilig, unaufmerksam, voreingenommen sind oder Vorurteile haben, bitten wir einander um Vergebung und bessern uns.
Eine Familie aus Afrika, die jetzt in den Vereinigten Staaten lebt, sagte: „Vom ersten Tag an waren die Mitglieder der Kirche freundlich und aufnahmebereit. Jeder gab uns das Gefühl, zuhause zu sein. Keiner schaute auf uns herab.“ Der Vater meinte: „Die Bibel lehrt ja, dass die Früchte des Evangeliums den Wurzeln des Evangeliums entstammen.“ Und über die Missionare sagten Vater und Mutter begeistert: „Wir möchten, dass unser Sohn und unsere Tochter wie die Missionare aufwachsen!“ Brüder und Schwestern, möge jeder von uns alle herzlich in der Herberge des Herrn willkommen heißen.
Drittens: Wir lernen in seiner Herberge, dass die Perfektion in Jesus Christus liegt, nicht im Perfektionismus der Welt, der unecht und unrealistisch ist und wo so gefiltert wird, dass man auf Instagram perfekt erscheint. Dies kann dazu führen, dass wir uns unzulänglich fühlen und von „Swipes“, „Likes“ und „Double Taps“ abhängig sind. Im Gegensatz dazu weiß unser Erretter Jesus Christus all das über uns, was wir lieber für uns behalten möchten, und liebt uns dennoch. In seinem Evangelium gibt es auch die zweite und dritte Chance, möglich gemacht durch sein Sühnopfer.12 Er bittet uns alle, ein barmherziger Samariter zu sein, weniger zu urteilen und uns selbst und einander mehr zu vergeben, während wir danach streben, seine Gebote noch vollständiger zu halten.
Wir helfen uns selbst, indem wir einander helfen. Eine Familie, die ich kenne, lebte an einer stark befahrenen Straße. Oft hielten Reisende an und baten um Hilfe. Eines Nachts hörte die Familie ein lautes Klopfen an der Tür. Müde und besorgt fragten sich die Eltern, wer das um zwei Uhr morgens wohl sein könne. Könnte dieses eine Mal nicht jemand anders helfen? Als das hartnäckige Klopfen nicht aufhörte, hörten sie jemanden rufen: „Feuer! Es brennt bei Ihnen hinten im Haus!“ Barmherzige Samariter helfen einander.
Viertens: In der Herberge des Herrn werden wir Teil einer Evangeliumsgemeinschaft, in deren Mittelpunkt Jesus Christus steht und die in der wiederhergestellten Wahrheit, lebenden Propheten und Aposteln und einem weiteren Zeugen für Jesus Christus – dem Buch Mormon – verankert ist. Der Herr bringt uns in seine Herberge und auch in sein Haus, den heiligen Tempel. Das Haus des Herrn ist ein Ort, wo der barmherzige Samariter uns – wie den verwundeten Mann auf der Straße nach Jericho – reinigen und bekleiden, uns auf die Rückkehr in Gottes Gegenwart vorbereiten und uns auf ewig in Gottes Familie vereinen kann. Seine Tempel stehen allen offen, die gläubig und gehorsam nach seinem Evangelium leben.
Zur Freude am und im Tempel gehört die Einigkeit im Evangelium inmitten verschiedenster Abstammungen, Kulturen, Sprachen und Generationen. Beim ersten Spatenstich für den Taylorsville-Utah-Tempel erzählte der 17-jährige Max Harker vom Erbe des Glaubens in seiner Familie. Dieses hatten sechs Generationen zuvor sein Urururgroßvater Joseph Harker und dessen Frau Susannah Sneath begründet. Im wiederhergestellten Evangelium Jesu Christi kann jeder von uns zu einem starken Bindeglied in den Generationen unserer Familie werden.
Und fünftens: Wir freuen uns, dass Gott seine Kinder liebt, ganz gleich, woher sie kommen und wie sie leben, in jeder Nation, jedem Geschlecht und jeder Sprache. Für alle ist in seiner Herberge Platz.
In den letzten 40 Jahren ist die Kirche in Bezug auf ihre Mitglieder immer internationaler geworden. Seit 1998 leben mehr Mitglieder der Kirche außerhalb als innerhalb der Vereinigten Staaten und Kanadas. Wir gehen davon aus, dass bis 2025 genauso viele Mitglieder der Kirche in Lateinamerika leben werden wie in den Vereinigten Staaten und Kanada. Mit der Sammlung der treuen Nachkommen von Vater Lehi erfüllt sich eine Prophezeiung. Treue Heilige einschließlich derer in den Sammelbecken der früheren Pioniere sind und bleiben ein Reservoir der Hingabe und des Dienstes für die weltweite Kirche.
Zudem ist die Mehrheit der erwachsenen Mitglieder heutzutage unverheiratet, verwitwet oder geschieden. Dies ist eine bedeutende Veränderung. Sie schließt über die Hälfte unserer FHV-Schwestern und über die Hälfte unserer erwachsenen Priestertumsträger ein. Dieses demografische Muster ist in der Kirche weltweit gesehen seit 1992 vorherrschend und in den Vereinigten Staaten und Kanada seit 2019.
Unser Stand vor dem Herrn und in seiner Kirche ist keine Frage unseres Familienstandes. Es geht darum, dass wir ein gläubiger und tapferer Jünger Jesu Christi werden.13 Erwachsene möchten als Erwachsene respektiert werden und Verantwortung übernehmen dürfen. Jüngerinnen und Jünger Jesu Christi kommen von überall her, in jeder Form, Größe, Schattierung, jeden Alters, jeder mit Talenten, rechtschaffenen Wünschen und immensen Fähigkeiten, sich zum Wohle anderer einzubringen. Wir bemühen uns jeden Tag, Jesus Christus nachzufolgen, mit Glauben zur Umkehr14 und mit anhaltender Freude.
In diesem Leben harren wir manchmal des Herrn. Noch stehen wir vielleicht nicht dort, wo wir es uns für die Zukunft erhoffen und wünschen. Eine tiefgläubige Schwester hat gesagt: „Treu der Segnungen des Herrn zu harren, ist eine heilige Einstellung. Darauf darf man nicht mitleidig, herablassend oder wertend blicken, sondern mit heiliger Ehrerbietung.“15 Unterdessen leben wir im Jetzt und warten nicht darauf, bis das Leben anfängt.
Jesaja verheißt: „Die … auf den Herrn hoffen, empfangen neue Kraft, wie Adlern wachsen ihnen Flügel. Sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und werden nicht matt.“16
Unser barmherziger Samariter verspricht, wiederzukommen. Wunder geschehen, wenn wir uns so umeinander kümmern, wie er es täte. Wenn wir mit reuigem Herzen und zerknirschtem Geist17 zu Jesus Christus kommen, finden wir in ihm eine Stimme und er umschließt uns verständnisvoll mit den Armen der Sicherheit.18 Heilige Handlungen bieten uns Zugehörigkeit durch Bündnisse und öffnen den Weg zur „Macht des Göttlichen“19, wodurch sowohl die innere Absicht als auch das äußere Handeln geheiligt werden. Mit der liebevollen Güte und der Langmut des Erretters wird seine Kirche zu unserer Herberge.
Wenn wir in seiner Herberge Platz schaffen und alle aufnehmen, kann unser barmherziger Samariter uns auf den staubigen Straßen des Erdenlebens heilen. Voll vollkommener Liebe verheißen der Vater im Himmel und sein Sohn Jesus Christus „Frieden in dieser Welt und ewiges Leben in der künftigen Welt“20 – „damit, wo ich bin, auch ihr sein werdet“21. Dies bezeuge ich voller Dankbarkeit im hochheiligen Namen Jesu Christi. Amen.