Generalkonferenz
Die Ärmsten
Frühjahrs-Generalkonferenz 2021


Die Ärmsten

In jeder Gemeinde und jedem Zweig brauchen wir einen jeden – jene, die vielleicht stark sind, sowie jene, die vielleicht gerade zu kämpfen haben. Jeder ist unentbehrlich.

Wenn ich als Junge mit meinem Vater im Auto unterwegs war, sah ich mitunter am Straßenrand Menschen in schwierigen Lebensverhältnissen, die Hilfe brauchten. Mein Vater sagte dann immer „Pobrecito“, also „der Ärmste“ oder „die Ärmste“.

Des Öfteren konnte ich beobachten, wie mein Vater – vor allem auf der Fahrt zu meinen Großeltern in Mexiko – vielen dieser Menschen half. Wenn er merkte, dass jemand Hilfe benötigte, kümmerte er sich ohne viel Aufhebens um ihn. Erst im Nachhinein fand ich heraus, dass er etwa Leuten geholfen hatte, sich in einen Kurs einzuschreiben, dass er ihnen etwas zum Essen gekauft oder sich anderweitig um ihr Wohlergehen gekümmert hatte. Er kümmerte sich um den „Ärmsten“, der seinen Weg kreuzte. Ich kann mich nicht entsinnen, dass es in meiner Kindheit je eine Zeit gegeben hätte, wo nicht jemand bei uns gewohnt hatte, der als ersten Schritt in die Eigenständigkeit ein Dach über dem Kopf brauchte. Solch prägende Erlebnisse haben mich zu Mitgefühl mit meinen Mitmenschen und allen, die Hilfe brauchen, erzogen.

In der Anleitung Verkündet mein Evangelium! steht: „Sie sind von Menschen umgeben – Sie gehen auf der Straße an ihnen vorbei, besuchen sie zuhause und treffen sie in Bus oder Bahn. Sie sind alle Kinder Gottes, Ihre Brüder und Schwestern. … Viele dieser Menschen möchten wissen, was der Sinn des Lebens ist. Sie sorgen sich um ihre Zukunft und um ihre Familie.“ (Siehe Verkündet mein Evangelium!, Anleitung für den Missionsdienst, Seite 1.)

In den Jahren meines Dienstes in der Kirche habe ich mich stets bemüht, auf die Menschen zuzugehen, die sowohl zeitliche als auch geistige Hilfe brauchten. Oft war es mir, als hörte ich dabei meines Vaters Stimme „Pobrecito“, „der Ärmste“, sagen.

In der Bibel finden wir ein rührendes Beispiel dafür, wie sich jemand um so einen „Ärmsten“ gekümmert hat:

„Petrus und Johannes gingen zur Gebetszeit um die neunte Stunde in den Tempel hinauf.

Da wurde ein Mann herbeigetragen, der von Geburt an gelähmt war. Man setzte ihn täglich an das Tor des Tempels, das man die Schöne Pforte nennt; dort sollte er bei denen, die in den Tempel gingen, um Almosen betteln.

Als er nun Petrus und Johannes in den Tempel gehen sah, bat er sie um ein Almosen.

Petrus und Johannes blickten ihn an und Petrus sagte: Sieh uns an!

Da wandte er sich ihnen zu und erwartete, etwas von ihnen zu bekommen.

Petrus aber sagte: Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, steh auf und geh umher!

Und er fasste ihn an der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich kam Kraft in seine Füße und Gelenke.“ (Apostelgeschichte 3:1-7; Hervorhebung hinzugefügt.)

Beim Lesen sind mir besonders die Worte blickten ihn an aufgefallen. Das Wort anblicken bedeutet, Auge und Sinn konzentriert auf etwas zu richten. Als Petrus diesen Mann „anblickte“, erblickte er in ihm etwas anderes, als man gemeinhin in ihm sah. Er sah über dessen Unvermögen, gehen zu können, und dessen Schwächen hinaus und konnte erkennen, dass der Glaube in ihm stark genug war, sodass er geheilt werden, in den Tempel eintreten und die Segnungen erlangen könnte, nach denen er sich sehnte.

Mir ist auch aufgefallen, dass Petrus den Mann an der rechten Hand fasste und ihn aufrichtete. Während er den Mann also dergestalt stützte, heilte diesen der Herr durch ein Wunder, und „Kraft [kam] in [dessen] Füße und Gelenke“ (Apostelgeschichte 3:7). Die Liebe, die Petrus für diesen Menschen empfand, und der Wunsch, ihm beizustehen, bewirkten, dass dieser Schwache zu etwas fähig wurde, was ihm zuvor unmöglich gewesen war.

Als Gebietssiebziger hatte ich mir jeden Dienstagabend eigens dafür freigehalten, mit den Pfahlpräsidenten in dem Gebiet Menschen zu besuchen und zu betreuen. Ich bat die Pfahlpräsidenten, Termine mit jenen auszumachen, denen eine heilige Handlung des Evangeliums Jesu Christi fehlte oder die derzeit die Bündnisse, die sie eingegangen waren, nicht hielten. Durch unseren beständigen und ganz bewussten Dienst machte der Herr unsere Bemühungen groß, sodass wir Einzelne und Familien finden konnten, die Hilfe benötigten. Dies waren gewissermaßen „die Ärmsten“ aus den verschiedenen Pfählen, wo wir dienten.

Einmal war ich mit Präsident Bill Whitworth unterwegs, dem Präsidenten des Pfahls Canyon View in Sandy, Utah. Er betete darüber, wen wir besuchen sollten, denn er wollte Nephis Beispiel folgen, der vom Geist geführt worden war und nicht im Voraus gewusst hatte, was er tun sollte (siehe 1 Nephi 4:6). Er lebte vor, wie wir bei der Betreuungsarbeit durch Offenbarung zu denen geführt werden sollen, die uns am meisten brauchen, statt eine Liste abzuhaken oder eine bestimmte Reihenfolge einzuhalten. Wir sollten uns von kraftvoller Inspiration leiten lassen.

Ich weiß noch, dass wir ein junges Ehepaar namens Jeff und Heather und deren kleinen Sohn Kai besuchten. Als Kind war Jeff in der Kirche aktiv gewesen. Er war ein ausgezeichneter Sportler und hatte gute Karrierechancen. Als Jugendlicher hatte er sich von der Kirche entfernt. Später veränderte ein Verkehrsunfall sein ganzes Leben. Wir kamen also hin und stellten uns vor. Jeff wollte wissen, was der Grund unseres Besuchs sei. Wir entgegneten, dass im Pfahlgebiet etwa 3000 Mitglieder lebten. Dann fragte ich ihn: „Jeff, sagen Sie uns doch, weshalb der Herr uns von all den Familien, die wir hätten besuchen können, gerade zu Ihnen schickt.“

Daraufhin erzählte Jeff uns sichtlich aufgewühlt von einigen seiner Sorgen und von einigen Problemen, die ihm und der Familie zu schaffen machten. Wir sprachen einige Grundsätze des Evangeliums Jesu Christi an. Wir forderten das Ehepaar auf, konkret einiges in Angriff zu nehmen, was zwar anfangs schwierig erscheinen konnte, mit der Zeit jedoch große Freude und Glück bringen würde. Anschließend gab Präsident Whitworth Jeff einen Priestertumssegen, um ihm zu helfen, seine Schwierigkeiten zu überwinden. Jeff und Heather erklärten sich bereit, das umzusetzen, was wir ihnen ans Herz gelegt hatten.

Etwa ein Jahr später durfte ich miterleben, wie Jeff seine Frau Heather taufte und sie ein Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage wurde. Die beiden bereiten sich nun darauf vor, sich als Familie im Tempel für Zeit und alle Ewigkeit aneinander siegeln zu lassen. Unser Besuch hatte ihren Lebensweg sowohl in zeitlicher als auch in geistiger Hinsicht verändert.

Der Herr hat erklärt:

„Darum sei treu; steh in dem Amt, das ich dir bestimmt habe; steh den Schwachen bei, hebe die herabgesunkenen Hände empor, und stärke die müden Knie.“ (Lehre und Bündnisse 81:5.)

„Und indem du dies tust, wirst du deinen Mitmenschen das meiste Gute tun und wirst die Herrlichkeit dessen fördern, der dein Herr ist.“ (Lehre und Bündnisse 81:4.)

Brüder und Schwestern, der Apostel Paulus spricht über einen Kernbestandteil der Betreuung. Ihm zufolge sind wir alle „der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm“ (1 Korinther 12:27), und jedes Glied des Leibes wird gebraucht, wenn der gesamte Leib erbaut werden soll. Sodann verkündet er eine machtvolle Wahrheit, die mir beim Lesen tief ins Herz gedrungen ist: „Gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich. Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir umso mehr Ehre.“ (1 Korinther 12:22,23; Hervorhebung hinzugefügt.)

Wir brauchen daher in jeder Gemeinde und jedem Zweig einfach einen jeden – jene, die vielleicht stark sind, sowie jene, die vielleicht gerade zu kämpfen haben. Jeder ist für die wichtige Erbauung des gesamten Leibes Christi unentbehrlich. Ich frage mich oft, wer in unseren Gemeinden denn fehlt, der uns stärken und zum Gesamtbild beitragen würde.

Elder D. Todd Christofferson hat gesagt: „In der Kirche befassen wir uns nicht nur in der Theorie mit göttlichen Lehren, sondern auch in der Praxis. Als Leib Christi dienen die Mitglieder der Kirche einander im ganz normalen Alltag. Wir alle sind unvollkommen. … Im Leib Christi müssen wir über abstrakte Begriffe und große Worte hinausgehen. Wir müssen das Gelernte in der Praxis unter Beweis stellen und lernen, ‚liebevoll miteinander [zu] leben‘ [Lehre und Bündnisse 42:45].“ („Warum die Kirche?“, Liahona, November 2015, Seite 109.)

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Brigham Youngs Traum

1849 sah Brigham Young in einem Traum den Propheten Joseph Smith. Dieser trieb eine große Herde Schafe und Ziegen vor sich her. Einige dieser Tiere waren groß und stattlich, andere klein und schmutzig. Brigham Young schilderte, dass er dem Propheten Joseph Smith in die Augen geblickt und festgestellt hatte: „Joseph, du hast die seltsamste Herde …, die ich je gesehen habe. Was machst du denn mit den Tieren?“ Dem Propheten schien die unbändige Herde jedoch kein Kopfzerbrechen zu bereiten, denn er entgegnete bloß: „[Brigham], jedes ist auf seine Weise nützlich.“

Als Präsident Young erwachte, begriff er, dass die Kirche eine Vielzahl an „Schafen und Ziegen“ sammeln werde und es seine Aufgabe sei, sie alle in die Herde zu bringen und es jedem zu ermöglichen, an seinem Platz in der Kirche sein Potenzial voll und ganz auszuschöpfen (nach Ronald W. Walker, „Brigham Young: Student of the Prophet“, Ensign, Februar 1998, Seite 56f.).

Brüder und Schwestern, meine Ansprache ist dadurch zustande gekommen, dass ich eingehend über einen Einzelnen nachgedacht habe, der derzeit in der Kirche Jesu Christi nicht aktiv ist. Zu all diesen, zu jedem Einzelnen, möchte ich nun einen Augenblick sprechen. Elder Neal A. Maxwell hat über diese Menschen gesagt: „Sie stehen der Kirche oftmals nahe, nehmen aber dennoch nicht zur Gänze am Kirchenleben teil. Sie kommen nicht ins Gemeindehaus, entfernen sich aber auch nicht allzu weit von der Eingangstür. Diese Menschen brauchen die Kirche und werden von ihr gebraucht, doch sie leben zum Teil ‚ohne Gott in der Welt‘ [Mosia 27:31].“ („Why Not Now?“, Ensign, November 1974, Seite 12.)

Ich möchte mich gern der Aufforderung anschließen, die Präsident Russell M. Nelson, den wir so sehr schätzen, in seinen ersten Worten an uns Mitglieder der Kirche ausgesprochen hat: „Nun möchte ich zu jedem Mitglied der Kirche sagen: Bleiben Sie auf dem durch Bündnisse vorgezeichneten Weg. Wenn Sie sich verpflichten, dem Erretter nachzufolgen, indem Sie Bündnisse mit ihm eingehen und diese auch halten, öffnet sich Ihnen die Tür zu jeder geistigen Segnung und zu jedem Anrecht, die allen Männern, Frauen und Kindern überall offenstehen.“

Er bat uns dann inständig: „Falls Sie den Weg verlassen haben, möchte ich Sie mit aller Hoffnung, derer mein Herz fähig ist, bitten, zurückzukommen. Welche Sorgen oder Schwierigkeiten Sie auch haben, es gibt in dieser Kirche – der Kirche des Herrn – einen Platz für Sie. Sie und Generationen noch Ungeborener werden gesegnet, wenn Sie jetzt handeln und auf den durch Bündnisse vorgezeichneten Weg zurückkehren.“ („Gemeinsam voran“, Liahona, April 2018, Seite 7; Hervorhebung hinzugefügt.)

Ich gebe Zeugnis für den Herrn Jesus Christus. Er ist der größte aller Diener und unser aller Erretter. Ich bitte uns alle, die „pobrecitos“, „die Ärmsten“ unter uns zu suchen, die Hilfe benötigen. Das erbitte ich voller Hoffnung. Im Namen Jesu Christi. Amen.