1990–1999
Christus in Wort und Tat nachfolgen
Oktober 1991


Christus in Wort und Tat nachfolgen

Wir wollen „Jesus Christus in unseren Gedanken und auch in unserem Handeln an die erste Stelle … setzen ”.

Brüder, es ist eine große Freude, heute abend bei Ihnen zu sein. Vor ein paar Wochen hat Präsident Gordon B. Hinckley in einer Zeugnisversammlung mit Generalautoritäten folgendes bemerkt: „Es ist leicht, Mormone zu sein und die Theologie anzunehmen. Es ist schwer, Christ zu sein und Christus in Wort und Tat nachzufolgen.”

Präsident Hinckleys herausfordernde Worte kamen mir noch viel deutlicher zum Bewußtsein, als ich kurze Zeit darauf ein Buch von Michael H. Hart las. Er stellt darin eine Liste der hundert Personen auf, die den Lauf der Menschheitsgeschichte am meisten beeinflußt haben. Zu meiner Überraschung und Enttäuschung setzt Mr. Hart Jesus Christus nur an die dritte Stelle.

Er begründet es folgendermaßen:

„Jesus hat die Menschheitsgeschichte so nachhaltig beeinflußt, daß wohl kaum jemand Einwände dagegen hat, ihn ganz weit oben auf die Liste zu setzen. Wahrscheinlicher ist die Frage, warum er nicht an die erste Stelle gesetzt wurde.”

Der Autor räumt ein, daß die Lehren Jesu Christi „gewiß zu den herausragendsten und einmaligsten ethischen Anschauungen gehören, die je vorgebracht wurden. Würden sie weitgehend eingehalten, dann hätte ich Jesus ohne zu zögern an die erste Stelle gesetzt.” (The One Hundred: A Ranking of History’s Most Influential Persons, Seite 47,50.)

Wie schmerzlich und wohl wie wahr: Würden die Lehren Jesu weitgehend befolgt, hätte Mr. Hart Jesus ohne zu zögern an die erste Stelle gesetzt!

Das gibt Grund zu der Frage: „An welche Stelle haben wir Jesus Christus gesetzt? Kommt er in unserem Leben an erster Stelle, wie es sein sollte?” Und, was vielleicht von noch größerer Bedeutung ist: „Inwieweit halten wir uns an die Lehren Christi? Leben wir in Wort und Tat wie ein Christ?”

Gerade für uns ist das wichtig, denn als Priestertumsträger haben wir die Macht und Vollmacht übertragen bekommen, offiziell im Namen Jesu Christi zu handeln. Wir haben das Recht und die heilige Pflicht, seinen Namen mit Würde zu tragen. Von allen Männern auf der Welt sind wir es, die seinen Einfluß in unserem Leben an die erste Stelle setzen und unser Predigen mit unserem Verhalten in Einklang bringen müssen. Wenn wir das tun, bekehren wir uns und stärken einander. Dann gewinnen seine Lehren und all das, wofür sein Leben steht, bei den Menschen den Einfluß und die Anerkennung, die ihnen zustehen.

Vor einigen Jahren fuhr ich mit meiner Familie zur Disney World nach Florida. Unsere vier Töchter waren schon ganz aufgeregt, als wir uns der Abzweigung zur Disney World näherten. Ihr Gelächter und fröhliches Geplapper fand jedoch ein jähes Ende, als unser gemieteter Kombi plötzlich anfing zu spucken und zu stottern und schließlich am Straßenrand stehen blieb. Etliche Autos rasten an uns auf der vielbefahrenen Straße vorbei, während ich mich erfolglos bemühte, das Auto wieder in Gang zu bringen. Als uns schließlich bewußt wurde, daß wir nichts weiter tun konnten, stiegen wir aus und drängten uns am Straßenrand zusammen, um zu beten.

Als wir wieder aufsahen, bemerkten wir einen freundlich lächelnden Mann mit seinem Sohn, der seinen hellroten Sportwagen durch den Verkehr manövrierte, um schließlich neben uns anzuhalten. Den restlichen Morgen und bis in den Nachmittag standen uns diese Männer in vielerlei Weise hilfreich zur Seite. Zunächst einmal fuhren sie uns samt unserem Gepäck zum Eingangsbereich von Disney World. Da ihr Auto nicht so groß war, mußten sie mehrmals hin- und herfahren. Sie halfen mir, einen Abschleppwagen für das liegengebliebene Auto zu besorgen. Sie fuhren mich zur Niederlassung der Autovermietung, damit ich ein Ersatzauto bekam. Da dies eine Weile dauerte, fuhren sie zuerst einmal wieder zurück zu meiner Familie, um ihnen zu sagen, wo ich war. Sie brachten ihnen etwas zu essen und zu trinken und warteten dann einige Stunden bei meiner Familie, bis ich endlich kam.

Wir waren ganz sicher, daß diese Männer die Antwort auf unser Gebet waren, und sagten es ihnen auch, als wir uns verabschiedeten und ihnen unseren Dank zum Ausdruck brachten. Der Vater antwortete: „Jeden Morgen bitte ich den Herrn: Falls es jemanden gibt, der heute meine Hilfe braucht, dann führe mich doch bitte zu ihm.”

Für uns waren diese Männer wahre Nachfolger Christi. Ihren Einfluß spüren wir heute noch. Seither sind schon viele Tage vergangen, und vermutlich sind ebenso viele Menschen durch die christliche Hilfsbereitschaft dieses Vaters und seines Sohnes erbaut und beeinflußt worden.

Christlicher Dienst muß Teil unseres täglichen Zeitplans sein. Im 10. Kapitel der Apostelgeschichte, Vers 38, wird von Jesus gesagt, daß er „umherzog” und „Gutes tat”. Jesus hat uns gelehrt, wie wir Gutes tun können: unseren Nächsten lieben, anderen vergeben, uns um die Armen, die Bedürftigen, die Bedrängten, die Einsamen kümmern. Auch seine Kirche hat der Herr zu eben diesem Zweck organisiert: damit wir uns durch verschiedene Aufgaben um unsere Mitmenschen kümmern können.

Der durch die Programme der Kirche festgelegte christliche Dienst ist wichtig und lobenswert. Dadurch zeichnet sich ein christliches Volk aus. Die Kirche bietet Dienste und Unterstützung, die durch Einzelpersonen nicht möglich wären. Doch das, was die Kirche als Institution bietet, entbindet Sie und mich nicht von der Verantwortung, selbst christliche Hilfsbereitschaft zu zeigen. Diese guten Taten erheben unsere Seele und erneuern unsere Beziehung zum himmlischen Vater und zu seinem Sohn Jesus Christus.

Präsident Spencer W. Kimball hat einmal gesagt: „Die größeren Schritte, die die Kirche machen muß, werden den größeren Schritten folgen, die die einzelnen Mitglieder machen müssen.” (Generalkonferenz, April 1979.)

Die größten christlichen Taten sind wohl die, von denen wir nie etwas erfahren. Es sind Taten, die still, spontan und anonym verrichtet werden, ohne daß Anerkennung oder Lohn erwartet wird. Christliche Taten beginnen mit christlichen Gedanken im Herzen, denn der Herr „sieht das Herz” (l Samuel 16:7). Dann spiegeln sich die Lehren und Eigenschaften Christi auf ganz natürliche Weise in unseren Taten wider. Wir lächeln öfter, wir reden freundlicher, wir antworten höflicher - scheinbar Kleinigkeiten, doch mit großer Wirkung auf unser ganzes Leben. Präsident Rex Lee von der BYU hat gesagt: „Freundlichsein ist … der Eckstein der Lehre Christi.” (Brigham Young University Devotional, 10. September 1991.)

Ein Junge lief einmal mit beschwingten Schritten von der Schule nach Hause und rief: „Wißt ihr was? Heute hat jemand,Hallo’ zu mir gesagt!”

Wenn ein Lächeln, ein „Hallo” oder ein freundliches Wort jemand anders glücklich machen kann, was haben wir dann doch für Möglichkeiten, diese Welt zu einem freundlicheren Ort zu machen!

Ich kenne einen jungen Priester, Jason, der treu und still seine alte Großmutter versorgt. Er geht regelmäßig bei ihr vorbei, um ihren Garten zu pflegen, die Fenster zu putzen oder etwas für sie zu erledigen. Manchmal macht er ihr etwas zu essen, wenn er sieht, daß sie an dem Tag noch nicht genug gegessen hat. Als sie sich einmal an einem Samstag nicht wohl fühlte, spielte er mit einem Freund in ihrem Haus Monopoly, damit sie nicht so allein war.

Junge Männer und Brüder, Achtung vor der Frau ist ebenfalls Teil der Nachfolge Christi. Sein Verständnis für Maria und Marta, die Achtung und Ehre, die er seiner Mutter bezeigte, und seine Sorge um sie zeigen, daß ein Christ eine Frau rücksichtsvoll, ehrlich und höflich behandeln muß. Jeder Mann, der das Priestertum trägt, ob alt oder jung, muß sich darum bemühen, ein „christlicher Gentleman” zu sein.

Freundlichkeit ist eine Form des christlichen Dienstes, doch es gibt auch noch andere Bereiche. Manchmal sind wir aufgefordert, mehr zu geben, als wir meinen, geben zu können, oder mehr, als wir eigentlich geben wollen. Die Erwartungen und Aufgaben, die an uns herangetragen werden, erscheinen uns vielleicht als Last. Doch gerade dann lernen wir, daß die Nachfolge Christi auch Opfer, Selbstverpflichtung und Mut erfordert.

Ein Vater, der noch kleine Kinder hatte, wurde als Missionspräsident berufen. Er scharte seine Kinder um sich und erklärte ihnen, daß der Prophet betont hatte, daß es eine Berufung für die ganze Familie sei. Er fragte jedes einzelne Kind, ob es bereit sei, das neue Haus, die Freunde und die Schule zurückzulassen und drei Jahre lang an einen unbekannten Ort zu gehen. Es war ein besonderer Moment, als jedes Kind sich bereiterklärte, diese Berufung zu unterstützen.

Ein paar Tage später fiel dem Vater auf, daß sein vierzehnjähriger Sohn ungewöhnlich ernst und still war. Er fragte ihn, was ihn beschäftige. Der Junge vertraute ihm an, daß er sich Sorgen machte, schon so früh von der Schule gehen zu müssen, um als Vollzeitmissionar zu dienen. Er war sich nicht sicher, ob er bereit war, jeden Tag Anzug und Krawatte zu tragen. Er sagte: „Ich wäre eigentlich gern noch ein Weilchen ein Junge geblieben.” Natürlich hatte der Sohn die Sache nicht richtig verstanden. Diese Pflichten wurden von einem Jungen seines Alters nicht erwartet. Dennoch war er bereit, es zu tun, wenn der Herr es forderte.

Zu wissen, was der Herr von uns verlangt, und auch den Wunsch zu haben, ihm zu folgen, heißt noch lange nicht, daß es leicht sein wird. Es ist sicher hilfreich, sich die Fragen zu stellen, die mein bester Freund sich immer stellt, wenn er vor einem schwierigen Problem, einer schweren Entscheidung steht: „Was möchte der Herr, daß ich tue? Bin ich bereit, es für den Herrn zu tun?”

Ein junges Mädchen, das ich kenne, war traurig und enttäuscht, weil eine Freundin etwas Unfreundliches und Unwahres über sie gesagt hatte. Sie hatte Angst, andere könnten diese Behauptungen glauben. Sie wollte, daß alle die Wahrheit erfuhren. Und sie wollte ihrer Freundin zeigen, wie sehr sie ihr wehgetan hatte. Sie überlegte lange, wie sie ihrer Freundin gegenübertreten konnte, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Es bedrückte sie sehr. Schließlich überlegte sie: „Was würde Jesus tun?” Sie war sicher, daß Jesus ihre Freundin liebevoll behandelt hätte. Das tat sie dann auch.

In dem Moment, als sie zuließ, daß die Lehren Jesu ihre Entscheidung beeinflußten und ihr Handeln lenkten, schien das, was sie bedrückt hatte, plötzlich nicht mehr so wichtig. Sie machte sich keine Sorgen mehr. Sie hatte das Gefühl, daß eine große Last von ihr genommen worden war. Was ihr solchen Kummer bereitet hatte, war nun ganz leicht zu lösen, weil sie bereit war zu vergeben.

Wenn wir Jesus in unserem Leben an die erste Stelle setzen, lenkt er unsere Entscheidungen und gibt uns die Kraft, Versuchungen zu meiden. Einmal erhielt ich einen Anruf von meinem Enkel Joel, der bald Diakon werden wird. Er mußte eine sehr schwere Entscheidung treffen. Er war, zusammen mit anderen Schülern, zu einem Camp in San Diego in Kalifornien eingeladen worden. Es bedeutete, daß er in dem großen Freizeitpark „Sea World” hinter die Kulissen schauen durfte - den Trainern bei der Arbeit zusehen und bei der Fütterung der Tiere mithelfen konnte. Ein Traum für einen Jungen! Das Dilemma war, daß das Camp an einem Wochenende stattfand. Am Sonntag standen Tauchen und Schwimmen auf dem Programm.

Seine Eltern hatten ihm abgeraten, ihm aber die Entscheidung überlassen. Sie glaubten daran, daß er sich richtig entscheiden würde. Er hatte ihnen versichert, daß er am Sonntag zwar nicht in die Kirche gehen konnte, aber auch nicht schwimmen würde. Er sagte: „Ich kann am Strand sitzen und von Gottes Schöpfung umgeben sein. Dagegen kann der himmlische Vater doch nichts haben, oder?”

Joel wollte wissen, wie Opa Rex dazu stand. Ich antwortete mit der Frage: „Joel, was meinst du, was Jesus möchte?” Mit etwas belegter Stimme antwortete er: „Opa, ich glaube nicht, daß es ihn glücklich machen würde, wenn ich das am Sonntag tue. Was meinst du?”

Es war keine leichte Entscheidung, aber es war die richtige. Wir alle müssen jeden Tag schwierige Entscheidungen treffen. Es gibt viele Verlockungen, die uns, wenn wir ihnen nachgeben, von Christus wegführen. Was für Filme und Videos wir uns ansehen, was wir in unserer Freizeit tun, was für Musik wir hören, wie wir uns kleiden und wie wir sprechen, das alles wird davon beeinflußt, wie stark unser Wunsch ist, Christus nachzufolgen. Wenn wir all diese Entscheidungen treffen müssen, meinen wir vielleicht, es sei zu schwer, von dem ausgeschlossen zu sein oder das zu versäumen, was für die Welt in Ordnung ist. Ja, „es ist schwer, Christ zu sein und Christus in Wort und Tat nachzufolgen”. Wenn wir ihm aber nachfolgen, spüren wir den Frieden und die Gewißheit, die die richtigen Entscheidungen mit sich bringen. Und Christus schenkt uns dann den nötigen Mut für die Momente, wo wir ganz allein dastehen.

Im Buch Mormon berichtet Alma von Moroni, dem Hauptmann aller nephitischen Streitkräfte. Hier wird von einem Mann berichtet, der ganz allein dastand und machtvoll für das Gute eintrat. „Er legte seine Kopfplatte, seine Brustplatte und seine Schilde an und umgürtete sich die Lenden mit seiner Rüstung; und er nahm die Stange [mit dem] Recht auf Freiheit, und er beugte sich zur Erde nieder und betete machtvoll zu seinem Gott, daß die Segnungen der Freiheit auf seinen Brüdern ruhen mögen, solange noch eine Gruppe von Christen vorhanden sei, das Land zu besitzen

denn so wurden alle, die an Christus glaubten und zur Kirche Gottes gehörten, von denen genannt, die nicht zur Kirche gehörten.”

Alma fährt fort: „Und die zur Kirche gehörten, waren treu; ja, alle, die wahrhaft an Christus glaubten, nahmen freudig den Namen Christi auf sich, ja, sie wurden Christen genannt wegen ihres Glaubens an Christus, der kommen werde.

Und darum betete Moroni zu der Zeit, die Sache der Christen … möge begünstigt werden.” (Alma 46:13-16.)

Ich bete darum, daß wir, die wir seinen Namen auf uns genommen und die wunderbare Macht und Vollmacht des Priestertums übertragen bekommen haben, uns ebenso freudig dazu verpflichten, Jesus Christus in unseren Gedanken und auch in unserem Handeln an die erste Stelle zu setzen. Damit wir feststellen, daß der Geist des Herrn „in uns, nämlich in unserem Herzen, eine mächtige Wandlung bewirkt hat, so daß wir keine Neigung mehr haben, Böses zu tun, sondern, ständig Gutes zu tun” (Mosia 5:2). Auf diese Weise werden wir wahre Nachfolger Christi - wahre Christen. Mögen wir dies tun und Christus nachfolgen. Das erbitte ich im Namen Jesu Christi. Amen.