1990–1999
Die Stimme ist noch immer leise
Oktober 1991


Die Stimme ist noch immer leise

„Der Herr spricht zu Ihnen! Aber bei dem ohrenbetäubenden Lärm von heute hören wir ihn oft gar nicht.”

Brüder und Schwestern, diese neue Aufgabe stimmt mich sehr demütig. Allerdings macht mir die warmherzige, starke Bruderschaft, die ich unter den Brüdern spüre, die hier sitzen, Mut.

Wie Nephi kann ich sagen: „Ich … stamme von guten Eltern.” (l Nephi 1:1.) Als nächstes wurde ich damit gesegnet, daß ich eine großartige Frau, eine wahre Heilige, geheiratet habe; dadurch habe ich meine Ausbildung vertieft. Noch mehr haben wir dazugelernt, als wir mit Kindern gesegnet wurden, und dank unserer wunderbaren Enkelkinder hört das Lernen für uns nicht auf. In dieser Hinsicht hoffe und vertraue ich darauf, daß das Gelernte auch bei uns verbleibt, denn „jeglicher Grundzug der Intelligenz, den wir uns in diesem Leben zu eigen machen, wird mit uns in der Auferstehung hervorkommen” (LuB 130:18).

Präsident Kimball, ein Mann mit großer Erfahrung auf allen Ebenen der Führung in der Kirche, hat sich auch zu dem Thema geäußert, das ich im Sinn habe, seit ich den Auftrag erhalten habe, heute hier zu sprechen. Ich entschuldige mich bei Eider Packer. Mir ist klar, daß er vom Geist inspiriert worden ist, ganz gewiß, und ich habe festgestellt, daß meine Gedanken so ziemlich in die gleiche Richtung gehen wie die seinen. Präsident Kimball hat also gesagt:

„Derbrennende Dornbusch, der rauchende Berg, … Cumorah und Kirtland waren Wirklichkeit, aber sie waren die Ausnahme. Die meisten Offenbarungen ergingen auf weniger spektakuläre Weise an Mose und an Joseph Smith, genauso wie an den heutigen Propheten - nämlich in Form von nachhaltigen Eindrücken, ohne Spektakel oder großes Aufsehen oder dramatische Ereignisse.

Viele, die immer nur das Spektakuläre erwarten, verpassen den beständigen Fluß offenbarter Mitteilungen völlig.” (Gebietskonferenz in München, 1973.)

Es kann dramatische und wundersame Antworten auf unser Beten geben, aber das ist die Ausnahme. Auch auf den höchsten Ebenen der Verantwortung in diesem Gottesreich, das auf der Erde errichtet wird, ist die Stimme noch immer leise.

In der Bibel lesen wir von einem früheren Propheten, der abgelehnt wurde und deshalb entmutigt war. Das Wort des Herrn erging an Elija, als die Israeliten sich von ihrem Bund abgewandt hatten und die Altäre umstießen und die Propheten töteten. Der Herr sagte zu ihm: „Komm heraus, und stell dich auf den Berg vor den Herrn! Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriß und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben.

Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln.” (l Könige 19:11,12.)

Es ist mein Zeugnis, daß der Herr zu Ihnen spricht! Aber bei dem ohrenbetäubenden Lärm von heute hören wir ihn oft gar nicht. Ich weiß noch, wie ich als Junge mit einem älteren Mann zusammen war, der kaum noch hören konnte. Er hatte keine Hörhilfe und bat uns ständig, lauter zu sprechen, damit er sich auch am Gespräch beteiligen konnte, und sagte immer: „Sprich lauter, ich kann dich nicht hören.”

Das war vor den Tagen des Fernsehens und der CDs und der dröhnenden Lautsprecher. Ich finde die folgende Bemerkung interessant: „Heute gibt es Fernsehen und Radio und Kassetten - welcher junge Mensch hat denn da noch Zeit, auf die Vernunft zu hören?” Das Zuhören ist für uns alle zur Herausforderung geworden.

Zeit zum Zuhören. Die Fähigkeit zuzuhören. Der Wunsch zuzuhören. Wenn es um religiöse Angelegenheiten geht, fragen allzu viele: „Was hast du gesagt? Sprich doch lauter; ich kann dich nicht hören.” Und wenn der andere dann nicht zurückschreit und den Busch nicht brennen läßt und seine Botschaft nicht mit dem Finger auf Stein schreibt, dann denken wir gleich, er höre nicht zu und sei nicht an uns interessiert. Manch einer zieht sogar den Schluß, es gebe keinen Gott.

Elizabeth Barrett Browning hat geschrieben: „Jeder einfache Busch brennt, weil Gott in ihm ist, aber nur wer sieht, legt die Schuhe ab.” (Aurora Leigh, Buch 7.)

Es geht nicht um die Fragen: „Lebt Gott? Liebt Gott mich? Spricht Gott mit mir?” Die entscheidende Frage lautet vielmehr: „Hören Sie ihm zu?” Haben Sie die Schuhe ausgezogen? Es ist bei Ihnen genauso wie bei Elija, wie bei den heutigen Propheten: Die sanfte, leise Stimme ist immer noch leise.

Es gibt „Hörhilfen”. Wie können wir die schweren Dezibels der Finsternis, die uns umgeben, herausfiltern? Ich möchte drei ganz offensichtliche Möglichkeiten nennen:

Nummer 1: Beleben Sie die wöchentliche Gottesverehrung neu. Wenn Sie beispielsweise die Kirchenlieder singen, dann sinnen Sie über die Bedeutung der Worte nach, erfreuen Sie sich an der Musik. Singen Sie begeistert mit, auch wenn Sie nicht die schönste Stimme haben. Dann bekommen Sie ein gutes Gefühl, und Ihr Geist wird neu belebt; und dafür, daß Sie gemeinsam mit den Heiligen die Lieder des Herzens singen, verheißt ihnen der Herr Segnungen auf das Haupt (siehe LuB 25:12).

Und: nehmen Sie am Abendmahl teil, nehmen Sie es nicht bloß. Denken Sie an die Bündnisse, die Sie erneuern. Bezeugen Sie dem Vater wahrhaftig, daß Sie den Namen seines Sohnes, Jesus Christus, auf sich nehmen. Verpflichten Sie sich erneut, immer an ihn zu denken und die Gebote, die er Ihnen gegeben hat, zu halten. Ihr Gehorsam berechtigt Sie, seinen Geist mit sich zu haben. Wenn diese heilige Handlung in Ihrer Gottesverehrung zu einer Routine geworden ist, wenn Sie während dieser wöchentlichen Gelegenheit zu geistiger Erneuerung die Gedanken abschweifen lassen, wenn Sie das Brot und Wasser bloß nehmen, während es herumgereicht wird, ohne darüber nachzudenken und sich von neuem zu verpflichten, dann haben Sie eine wichtige Hörhilfe abgeschaltet.

Nummer 2: Beten Sie, um den Willen Gottes zu erfahren und nicht, um „etwas zu bekommen” . All zu oft sagen wir nur beiläufig: „Danke, Herr”, und wenden uns dann unseren egoistischen Wünschen zu. So verschwenden wir unsere Gebetszeit, indem wir Dinge anführen, die wir uns wünschen, ja, auch Dinge, die wir brauchen. Wir müssen aber bereit sein, den tödlichen Griff zu lösen, mit dem wir an den Dingen festhalten, die uns eine Art Sicherheit geben. Halten Sie sich die vielen hundert dringend benötigten Missionarsehepaare vor Augen, die auf Mission sein könnten, wenn sich nur der feste Griff auf das Vertraute wie Haus und Familie und Enkel lockern würde. Der Herr ist bereit, das Wunder zu vollbringen, das folgen würde, nämlich das Wunder, daß sie - und auch Sie selbst - diese achtzehnmonatige Trennung überleben, ja, sich sogar weiterentwickeln würden. Wir müssen lernen zu beten: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe”, und das auch wirklich meinen. Wenn Sie das schaffen, werden seine leisen Eingebungen an Sie laut und deutlich . Der Prophet Joseph Smith machte diese Erfahrung nach fünf Monaten extremen Leidens im Gefängnis in Liberty; er sagte: „Wenn das Herz zerknirscht genug ist, dann kommt leise die Stimme der Inspiration und flüstert: Mein Sohn, Frieden deiner Seele.” (History ofthe Church, 3:293; Hervorhebung hinzugefügt.)

Hörhilfe Nummer 3 hat mit den heiligen Schriften zu tun. In, Lehre und Bündnisse’ sagt uns der Herr, daß er durch die Schriften zu uns spricht. Natürlich ist das bloße Lesen der Worte, ohne daß wir uns auch in Gedanken mit dem Inhalt auseinandersetzen, noch kein Zuhören. In Abschnitt 18 lesen wir:

„Und ich, Jesus Christus, euer Herr und euer Gott, habe es gesagt.

Diese Worte sind nicht von den Menschen, auch nicht von einem Menschen, sondern von mir; darum sollt ihr bezeugen, daß sie von mir sind und nicht von Menschen.

Denn es ist meine Stimme, die sie zu euch redet; denn sie werden euch von meinem Geist gegeben. …

darum könnt ihr bezeugen, daß ihr meine Stimme vernommen habt und meine Worte kennt. ”(Vers 33-36.)

Und so wird das, was für viele nur der Monolog des Betens ist, tatsächlich zum Dialog mit Gott, wenn wir uns in die Schriften vertiefen.

Es ist heute noch so wie bei Elija. Gott ist nicht im Erdbeben, auch nicht im Sturm und im Feuer des Krieges, sondern er spricht mit leiser Stimme zu uns. Wie Präsident Kimball bezeuge auch ich, daß dieser beständige Fluß offenbarter Mitteilungen die Kirche leitet, und zwar durch unseren Propheten, Ezra Taft Benson, und durch seine Ratgeber und die Zwölf Apostel. Er erfolgt auch über die Siebziger und die Präsidierende Bischofschaft. Er geht an die Pfahlpräsidenten und die Bischöfe und an die Beamten der Kollegien und die übrigen Beamten der Kirche in aller Welt. Er spricht zu den Missionaren und zu den Familienoberhäuptern. Ich bezeuge, daß diese sanfte, leise Stimme auch zu Ihnen spricht. Seien Sie ruhig, und hören Sie zu! In der Schrift heißt es: „Seid ruhig und wißt, daß ich Gott bin.” (LuB 101:16.)

Ich weiß, daß er lebt. Er liebt Sie. Er möchte, daß Sie ihm nachfolgen, und zwar nicht, weil er Sie auf spektakuläre Weise in seinen Bann gezogen hätte, sondern einfach deshalb, weil Sie ihn lieben! Ich bezeuge feierlich, daß er lebt und daß er Ihnen nahe ist und daß wir in diesen Letzten Tagen von seinem Propheten geführt werden. Das sage ich im heiligen Namen unseres Erretters, Jesus Christus. Amen.