1990–1999
Auserwählt zu dienen
Oktober 1997


Auserwählt zu dienen

Wir haben nicht die richtige Einstellung, wenn wir selbst entscheiden, wo wir dienen wollen und wo nicht. Wir dienen dort, wohin wir berufen werden.

Weder der Sonnenhimmel und die Wolken des Junis noch alle Blumen des Julis können es mit einer Stunde blauen Oktoberhimmels aufnehmen.”1

Vor einigen Jahren suchten wir einmal nach etwas Inspirierendem für eine Konferenz von Missionspräsidenten. Auf sehr interessante Weise fanden wir etwas in einem schon lange nicht mehr verwendeten Gesangbuch der PV. In dem Lied mit dem Titel „Auserwählt zu dienen” wird in wenigen, schlichten Zeilen dargelegt, worüber ich heute sprechen möchte.

Auserwählt, zu dienen unserm König,

ja, als Zeugen wählte er uns aus.

Weit und breit berichten wir vom Vater,

rufen seine Liebe aus.

Auserwählt für seinen reichen Segen,

Söhne, Töchter, Gottes Kinder hier.

Froh bekennend seinen heilgen Namen,

Lobeslieder singen wir.

Weiter, immer weiter, rühmt den Namen

unseres Herrn! …

Gott ist unsre Kraft, drum weiter vorwärts,

seid zum Dienst bereit!2

Die Bereitschaft der Heiligen der Letzten Tage, eine Berufung zum Dienen anzunehmen, ist ein Zeichen dafür, daß sie den Willen des Herrn tun wollen. Das rührt daher, daß sie ein Zeugnis davon haben, daß das Evangelium Jesu Christi, das durch den Propheten Joseph Smith wiederhergestellt wurde und im Buch Mormon enthalten ist, wahr ist.

Unsere Taufe ist eine Berufung zu lebenslangem Dienst für Christus. Wie die Menschen an den Wassern Mormon lassen wir uns „im Namen des Herrn taufen …, zum Zeugnis vor ihm, daß [wir] mit ihm den Bund eingegangen [sind], ihm zu dienen und seine Gebote zu halten, damit er seinen Geist reichlicher über [uns] ausgieße”.3

Aber das Annehmen einer Berufung, einer Aufgabe, ist nur ein kleiner Teil des Dienstes, den die Mitglieder der Kirche leisten.

Ich sehe da zwei Arten des Dienens: zum einen den Dienst, den man leistet, wenn man berufen wird, in der Kirche zu dienen, und zum ändern den Dienst, den man bereitwillig den Menschen in seiner Umgebung leistet, weil man gelernt hat, sich um andere zu kümmern.

Im Laufe der Jahre habe ich eine liebe Schwester beobachtet, die weit mehr leistet als das, wozu sie im Rahmen einer Berufung als Lehrerin oder Leiterin in der Kirche berufen worden ist. Sie sieht, wo etwas nötig ist, und sie dient, und zwar nicht nach dem Motto: „Ruf mich, wenn du Hilfe brauchst”, sondern: „Hier bin ich; was kann ich tun?” Das sind so viele Kleinigkeiten, wie beispielsweise daß sie in einer Versammlung das Kind von jemand anderem in den Arm nimmt oder daß sie ein Nachbarskind zur Schule fährt, wenn es den Bus verpaßt hat. In der Kirche hält sie ständig Ausschau nach neuen Gesichtern, und sie geht auf diese Menschen zu und heißt sie willkommen.

Wenn sie und ihr Mann eine Veranstaltung in der Gemeinde besuchen, dann kann er sich meist darauf verlassen, daß sie sagt: „Geh doch ruhig schon mal nach Hause. Wie ich sehe, brauchen sie hier ein bißchen Hilfe beim Aufräumen und Geschirrspülen.”

Eines Abends kam er nach Hause, und sie war gerade dabei, die Möbel wieder zurecht zu stellen. An jenem Morgen hatte sie das Gefühl gehabt, sie solle nach einer älteren, herzkranken Schwester sehen; ihr Enkelkind, das in einem anderen Bundesstaat wohnte, wollte hier im Tempel heiraten, und die Großmutter wollte das Frühstück für die Hochzeitsgesellschaft herrichten.

Die Schwester traf die Frau ganz allein im Gemeindehaus an - sie saß verzweifelt inmitten aller Sachen, die sie zur Vorbereitung mitgebracht hatte. Irgendwie war der Saal für zwei gleichzeitig stattfindende Veranstaltungen vergeben worden. In wenigen Stunden trafen die Gäste ein. Was sollte sie nur tun?

Die aufmerksame Schwester nahm die ältere Schwester mit nach Hause und ließ sie sich hinlegen. Dann machte sie sich an die Arbeit und stellte die Möbel um. Als die Gäste eintrafen, stand ein schönes Hochzeitsfrühstück für sie bereit. Diese Einstellung zum Dienen hatte sie von ihrer Mutter übernommen. Dienstbereitschaft wird am besten zu Hause gelehrt. Wir müssen unsere Kinder durch unser Beispiel unterweisen und ihnen sagen, daß es ganz wesentlich ist, daß man selbstlos ist, wenn man glücklich sein möchte.

Gott hat Jesus von Nazaret mit dem Heiligen Geist und mit Kraft gesalbt, und dieser zog umher und tat Gutes.4 Ein jeder, der als Mitglied der Kirche konfirmiert ist, hat dieselbe Gabe und dieselbe Verpflichtung.

Der Herr hat gesagt: „Denn siehe, es ist nicht recht, daß ich in allem gebieten muß; denn wer in allem genötigt werden muß, der ist ein träger, nicht aber ein weiser Knecht, und darum empfängt er keinen Lohn.”5

Der Herr hat zur Kirche gesagt: „Wahrlich, ich sage: Die Menschen sollen sich voll Eifer einer guten Sache widmen und vieles aus freien Stücken tun und viel Rechtschaffenheit bewirken; denn es ist in ihrer Macht, selbständig zu handeln. Und wenn die Menschen Gutes tun, werden sie ihres Lohnes keineswegs verlustig gehen.

Wer aber nichts tut, bis es ihm geboten wird, spricht der Herr, und dann das Gebot mit unschlüssigem Herzen empfängt und es nur auf träge Weise hält, der ist verdammt.”5

Manchmal werden wir wegen unseres Alters, der Gesundheit oder der Bedürfnisse unserer Familie nicht auserwählt, zu dienen.6 Der blinde Poet John Milton schreibt: „Es dient auch, wer nur dasteht und wartet.”7 Zur Kirche gehen, den Zehnten zahlen, lernen - auch das ist Dienen, und wir sprechen oft davon, daß wir als Vorbild dienen sollen.

Kein Dienen in der Kirche oder im Gemeinwesen ist wichtiger als das Dienen in der Familie. Die Führer müssen sehr darauf achten, daß eine Berufung zum Dienen in der Kirche nicht die Familie schwächt.

Schon in der Anfangszeit der Kirche wurde festgelegt, wie offizielle kirchliche Berufungen zu handhaben sind. Im fünften Glaubensartikel heißt es, „daß man durch Prophezeiung und das Händeauflegen derer, die Vollmacht haben, von Gott berufen werden muß, um das Evangelium zu predigen und seine heiligen Handlungen zu vollziehen.”

Wir haben nicht die richtige Einstellung, wenn wir selbst entscheiden, wo wir dienen wollen und wo nicht. Wir dienen dort, wohin wir berufen werden. Es spielt keine Rolle, um was für eine Berufung es sich handelt.

Ich war in der feierlichen Versammlung, in der David O. McKay als Präsident der Kirche bestätigt wurde. Präsident J. Reuben Clark jun., der zwei Präsidenten als Erster Ratgeber gedient hatte, wurde damals als Zweiter Ratgeber von Präsident McKay bestätigt. Er war sich bewußt, daß manche denken mochten, er sei degradiert worden. Präsident Clark sagte: „Im Dienst des Herrn zählt nicht, wo man dient, sondern wie. In der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage nimmt man den Platz ein, auf den man rechtmäßig berufen wird; diesen Platz strebt man nicht an, und man lehnt ihn auch nicht ab.”8

Wenn jemand für irgendeinen Dienst gebraucht wird, sprechen die Führer darüber, und sie beten darüber - und das oft mehr als einmal. Sie streben nach Bestätigung durch den Geist, denn eine Berufung soll gebeterfüllt ausgesprochen und im selben Geist angenommen werden.

Dann gibt es ein Interview, in dem die Würdigkeit festgestellt wird und die persönlichen Umstände erwogen werden. Keine Berufung ist wichtiger und kein Dienst langfristiger als die Elternschaft. Im allgemeinen hilft eine Berufung in der Kirche den Eltern, bessere Eltern zu sein. Allerdings muß der Führungsbeamte sich sowohl auf seinen gesunden Menschenverstand als auch auf Inspiration verlassen, um sicherzugehen, daß eine Berufung es Eltern nicht meßbar schwer macht, als Eltern zu dienen.

Wer ermächtigt ist, eine Berufung auszusprechen, muß sich auf Inspiration stützen, damit er diejenigen, die stets bereit sind, nicht überlastet. Man muß Zeit bekommen, wegen der Berufung zu beten, damit man trotz des Gefühls der Unzulänglichkeit Ruhe empfindet. Man kann auch gebeten werden, sich mit dem Ehepartner zu beraten.

Zu einer Berufung gehört noch etwas, was durch Offenbarung verlangt wird: „Keinem soll es gegeben sein, hinzugehen und mein Evangelium zu predigen oder meine Kirche aufzurichten, außer er sei von jemandem dazu ordiniert worden, der Vollmacht hat und von dem es in der Kirche bekannt ist, daß er Vollmacht hat und von den Führern der Kirche ordnungsgemäß ordiniert worden ist.”9 Damit in der Kirche bekannt wird, wer berufen ist zu dienen, wird der Name des Betreffenden in einer geeigneten Versammlung zur Bestätigung vorgelegt. Diese Abstimmung ist nicht nur zur Bestätigung da; sie enthält die Verpflichtung, den Berufenen zu unterstützen.

Nach der Bestätigung kommt die Ordinierung bzw. Einsetzung. Wie das geschieht, wurde in der Kirche schon früh festgelegt; der Herr verheißt da nämlich: „Ich werde dir meine Hand auflegen durch die Hand meines Knechtes.” Weiter verheißt er: „Du sollst meinen Geist empfangen, den Heiligen Geist, ja, den Tröster, der dich das Friedfertige des Reiches lehren wird.”10

Wenn die Führer jemanden einsetzen, erteilen sie ihm nicht nur die Vollmacht, seinen Dienst zu verrichten. Sie geben einen Segen. Es ist etwas Wunderbares, vom Herrn Jesus Christus durch die Hand seiner Diener einen Segen zu empfangen. Dieser Segen kann im Leben des Berufenen und seiner Familie Veränderungen bewirken.

Die Führer müssen lernen, wie man eine Berufung ausspricht. Als junger Mann hörte ich Eider Spencer W. Kimball auf einer Pfahlkonferenz sprechen. Er erzählte, wie er als neuer Pfahlpräsident in Arizona einmal sein Büro in der Bank verlassen hatte, um jemanden als Pfahl-JM-Leiter zu berufen. Er sagte: „Jack, wärst du gern Pfahl-JM-Leiter?”

Jack entgegnete: „Ach, Spencer, das meinst du doch nicht ernst. Sowas könnte ich gar nicht!”

Er versuchte ihn zu überreden, aber Jack lehnte die Berufung ab.

Bruder Kimball kehrte in sein Büro zurück und dachte über seinen Fehlschlag nach. Er wußte, daß die Pfahlpräsidentschaft zu dieser Berufung inspiriert worden war. Schließlich ging ihm ein Licht auf: er hatte einen schrecklichen Fehler gemacht! Natürlich sagte Jack nicht zu.

Vielleicht war ihm etwas eingefallen, was der Prophet Jakob gesagt hat, nämlich: „Ich [lehrte] sie im Tempel, nachdem ich zuvor vom Herrn meinen Auftrag erhalten hatte.”11

Jetzt tat Präsident Kimball das, was vor alters auch Jakob getan hat. Er ließ sich seinen Auftrag vom Herrn geben.

Er ging zurück und entschuldigte sich bei Jack dafür, daß er es zuvor falsch angefangen hatte. Dann begann er noch einmal: „Letzten Sonntag hat die Pfahlpräsidentschaft gebeterfüllt darüber nachgedacht, wer die jungen Männer im Pfahl leiten soll. Es gab mehrere Namen, darunter auch deinen. Wir alle hatten das Gefühl, daß du der Richtige bist. Wir knieten zum Gebet nieder. Der Herr hat uns dreien durch Offenbarung bestätigt, daß du zu diesem Amt berufen werden sollst.”

Dann sagte er: „Als Diener des Herrn bin ich hier, um dir diese Berufung auszurichten.” Da sagte Jack: „Tja, Spencer, wenn du das so sagst. …” Präsident Kimball gab zurück: „Ich sage es so.” Natürlich hatte Jack die lockere Einladung von Spencer nicht angenommen, aber eine Berufung vom Herrn, die der Pfahlpräsident aussprach, konnte er nicht ab-

lehnen. Er diente treu und mit Inspiration.

Wir bitten zwar nicht darum, aus einer Berufung entlassen zu werden, aber wenn sich die Umstände ändern, ist es ganz in Ordnung, die Sache mit denjenigen zu besprechen, die uns berufen haben, und ihnen die Entscheidung zu überlassen. Wir sollten uns auch nicht abgelehnt fühlen, wenn wir von derselben Autorität und mit derselben Inspiration, durch die wir berufen worden sind, aus der Berufung wieder entlassen werden.

Einen prägenden Einfluß auf mein Leben hatten die Jahre, in denen ich mit Belle S. Spafford zusammenarbeitete; sie war damals FHV-Präsidentin, und sie war mit Sicherheit eine der größten Frauen dieser Evangeliumszeit.

Eines Tages erzählte sie mir, wie sie als junge Frau ihrem Bischof erklärt hatte, sie sei zum Dienen bereit, würde aber eine Berufung als Lehrerin vorziehen. Eine Woche später wurde sie als Ratgeberin der FHV-Leiterin ihrer Gemeinde berufen. „Ich war darüber nicht sonderlich glücklich”, sagte sie. „Der Bischof hatte mich falsch verstanden.” Sie erklärte ihm geradeheraus, die FHV sei etwas für alte Frauen. Sie hätte die Berufung abgelehnt, hätte ihr Mann ihr nicht davon abgeraten.

Mehrmals bat sie darum, entlassen zu werden. Jedes Mal sagte der Bischof, er werde darüber beten.

Eines Abends wurde sie bei einem Autounfall schwer verletzt. Nach einiger Zeit im Krankenhaus erholte sie sich zu Hause weiter. Eine schreckliche Fleischwunde im Gesicht entzündete sich. Der besorgte Arzt erklärte ihr: „Chirurgisch können wir da nichts machen. Es ist zu nahe am Hauptnerv des Gesichts.”

An jenem Sonntag, als der Arzt das Haus der Spaffords verlassen hatte, kam der Bischof auf dem Weg von einer späten Sitzung vorbei und sah, daß noch Licht brannte. Er kam herein. Später erzählte mir Schwester Spafford: „In diesem kläglichen Zustand sagte ich unter Tränen:, Bischof, werden Sie mich jetzt entlassen?’”

Und wieder entgegnete er: „Ich werde darüber beten.”

Als er eine Antwort erhalten hatte, sagte er: „Schwester Spafford, ich habe immer noch nicht das Gefühl, daß Sie aus der FHV entlassen werden sollen.”

Belle S. Spafford diente 46 Jahre lang in der FHV, davon 30 Jahre als deren Präsidentin. Sie übte einen guten Einfluß in der Kirche aus und wurde in aller Welt von den führenden Frauen geschätzt.

In einer Versammlung des Welt-Frauenrats in Surinam bat sie schriftlich aus Alters- und Gesundheitsgründen um Entbindung von ihrem Amt in diesem Rat. Sie zeigte mir das Ablehnungsschreiben des Rates - man brauchte ihre Weisheit, ihre charakterliche Stärke.

Oft sprach sie davon, daß sie in ihrer Berufung geprüft worden war. Die größte Prüfung erlebte sie vielleicht, als sie als junge Frau lernte, die dem Priestertum innewohnende Kraft und Vollmacht zu respektieren, und daß ein einfacher Mann, der als Bischof dient, vom Herrn Weisung dabei empfangen kann, wenn er ein Mitglied zum Dienst beruft.

Der Geist des Dienens kommt nicht mit dem Auftrag. Es ist ein Gefühl, das mit dem Zeugnis vom wiederhergestellten Evangelium Jesu Christi einhergeht.

Der Herr hat gesagt: „Wenn einer mir dienen will, folge er mir nach; und wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein. Wenn einer mir dient, wird der Vater ihn ehren.”12

„Denn so spricht der Herr: Ich, der Herr, bin barmherzig und gnädig zu denen, die mich fürchten, und es freut mich, die zu ehren, die mir in Rechtschaffenheit und Wahrheit bis ans Ende dienen.

Groß wird ihr Lohn sein und ewig ihre Herrlichkeit.”13

Gott segne Sie, die Sie dienen, für das, was Sie tun, und er segne Sie, die Sie dienen, indem Sie so sind, wie Sie sind.

Ich bezeuge Ihnen, daß die Macht und Inspiration, die mit Berufungen einhergehen sollen, in der Kirche vorhanden sind. Ich bezeuge Ihnen, daß das Evangelium wahr ist, und sage: Gott segne Sie alle, die Sie dienen, er segne Sie um deswillen, was Sie tun, und er segne Sie um deswillen, was Sie sind! Im Namen Jesu Christi, amen.

  1. Heien Hunt Jackson, ”October’s Bright Blue Weather”, in The Best Loved Poems ofthe American People, sei. Hazel Felleman (1936), Seite 566.

  2. Gesangbuch, Nr. 163.

  3. Mosia 18:10,11.

  4. Siehe Apostelgeschichte 10:38.

  5. LuB 58:26.

  6. LuB 58:27-29.

  7. John Milton, ”On His Blindness”, The Complete Poems ofjohn Milton, Band 4, 84.

  8. J. Reuben Clark jun., Conference Report, April 1951,154.

  9. LuB 42:11.

  10. LuB 36:2.

  11. Jakob 1:17.

  12. Johannes 12:26.

  13. LuB 76:5,6.