1990–1999
„Das sühnende Blut Christi anwenden”
Oktober 1997


„Das sühnende Blut Christi anwenden”

Brüder und Schwestern, Christus hat für uns einen so gewaltigen Preis gezahlt, der uns so große Möglichkeiten eröffnet! Wollen wir dann nicht sein Sühnopfer anwenden, um den wesentlich kleineren Preis zu zahlen, der für unseren Fortschritt gefordert wird?

Brüder und Schwestern, ich bringe erneut den immerwährenden Dank zum Ausdruck, den ich in der Frühjahrskonferenz ausgesprochen habe, möchte ihn aber noch erweitern und vertiefen.

Mir ist barmherzigerweise Aufschub gewährt worden. Sei er kurz oder lang, er ist ein wunderbarer Segen vom Herrn! Ich habe dadurch jedoch gelernt, daß es noch eine weitere Seite der Frage „Warum gerade ich?” gibt, da nicht jedem dieser Aufschub gewährt wird. Von welcher Seite man die Frage auch betrachtet, wir müssen uns fügen, auch wenn es keine unmittelbare göttliche Erklärung gibt. Wir müssen also vorwärtsstreben, wie weit auch die Entfernung zum Horizont sein mag, und uns über das freuen, was uns jenseits des Horizonts erwartet.

Als Christus das wohltätige Sühnopfer zustande brachte, konnte bestimmte Dinge nur er tun. Wir können sie nicht nachmachen, wir, die Nutznießer des herrlichen Sühnopfers, das uns allen die Auferstehung schenkt und ewiges Leben ermöglicht (siehe Mose 6:57-62). Offensichtlich können wir - anders als unser großer Erretter - gewiß nicht für die Sünden der Menschheit sühnen! Außerdem können wir sicherlich nicht alle irdischen Krankheiten, Schwächen und Qualen auf uns nehmen (siehe Alma 7:11,12).

Wir können jedoch in einem kleineren Maß, so wie Jesus uns aufgefordert hat, in der Tat danach streben, so zu werden, wie er ist (siehe 3 Nephi 27:27). Dieser Vorgang der graduellen Umkehr findet statt, wenn wir sein Joch wahrhaftig auf uns nehmen und uns dadurch für die größte Gabe Gottes - ewiges Leben - bereit machen (siehe Matthäus 11:29; LuB 6:13; 14:7). Auf diese letzte Dimension des Sühnopfers - die ich jetzt mehr schätze will ich kurz eingehen.

Die Sterblichkeit bietet uns oft Gelegenheit, Christus ähnlicher zu werden, indem wir zuerst erfolgreich mit den Herausforderungen des Lebens zurechtkommen, die allen Menschen eigen sind. Darüber hinaus haben wir unsere maßgeschneiderten Prüfungen wie Krankheit, Einsamkeit, Verfolgung, Betrug, Ironie, Armut, falsche Zeugen und unerwiderte Liebe usw. Wenn wir darin gut ausharren, kann uns dies alles zum Guten dienen und die Seele sehr erweitern, was der Freude zusätzlichen Raum bietet (siehe LuB 122:7; 121:42). Durch sanftmütiges Leiden wird oft der Raum für die Erweiterung geschaffen. Ich bewundere die vielen, die mir in geistiger Hinsicht überlegen sind und es uns allen vorleben. In der zukünftigen Welt wird unser großzügiger Vater ihnen, den treuesten, alles geben, was er hat (siehe LuB 84:38). Brüder und Schwestern, mehr gibt es nicht!

Die nächsten Beispiele vom Sühnopfer gelten nicht nur für Jesus; sie finden sich in seinen lehrreichen persönlichen Worten über das Sühnopfer.

Als Jesus das furchtbare Gewicht des nahenden Sühnopfers zu fühlen begann, sagte er: „Ich bin dazu … in die Welt gekommen.” (Johannes 18:37.) Auch wir, Brüder und Schwestern, sind „in die Welt gekommen”, um unser höchstpersönliches Maß der irdischen Erfahrung durchzumachen. Wenngleich unsere Erfahrung nicht im geringsten an die unseres Herrn herankommt, so sind auch wir hier, um diese Erfahrung der Sterblichkeit durchzumachen! Wenn wir die Sache zielstrebig verfolgen, verleihen wir unserem irdischen Leben Sinn. Es hilft uns außerordentlich, wenn wir voller Glauben den Erlösungsplan annehmen, der uns den Sinn des Lebens verstehen läßt. Dann hat die Suche nach dem Sinn ein Ende, auch wenn mehr und herrliche Entdeckungen uns erwarten. Leider verhalten wir uns als Mitglieder manchmal wie gehetzte Touristen, die kaum die Schwelle überschreiten.

Dann, wenn wir vor unseren geringeren Prüfungen und Leiden stehen, können auch wir so wie Jesus den Vater anflehen, daß wir nicht zurückschrecken, also zurückweichen oder zurückschaudern (siehe LuB 19:18). Nicht zurückschrecken ist viel wichtiger als überleben! Außerdem eifern wir Jesus nach, wenn wir den bitteren Kelch trinken, ohne verbittert zu werden.

Wenn wir durchhalten, können auch wir Augenblicke irdischer Einsamkeit erleben. Diese Augenblicke sind nichts im Verlgleich zu dem, was Jesus erlebte. Da auch unsere Gebete gelegentlich nach dem „warum?” fragen, können auch wir erleben, daß Gott nicht gleich antwortet (siehe Matthäus 27:46).

So manches „Warum” unserer Sterblichkeit ist eigentlich keine Frage, sondern Ausdruck des Unmuts. Manches „Warum” läßt anklingen, daß die Prüfung später einmal ganz in Ordnung wäre, aber nicht jetzt, als ob der Glaube an den Herrn den Glauben an seinen Zeitplan ausschlösse. So manches „Warum gerade ich?”, das im Streß ausgesprochen wird, sollte besser umformuliert werden: „Was wird jetzt von mir erwartet?” Oder, um die Worte Moronis umzuformulieren: „Welche Schwäche könnte zu einer Stärke werden, wenn ich ausreichend demütig bin?” (Siehe Ether 12:27.)

Präsident Brigham Young hat sich dazu geäußert, was zu dem „Warum” Jesu geführt hat, und gemeint, daß der Vater während des Todeskampfes in Getsemani und auf Golgota seine Gegenwart und

seinen Geist von Jesus zurückzog (siehe Journal of Discourses, 3:205f.). Dadurch war der Triumph Jesu vollständig, und sein Einfühlungsvermögen wurde vollkommen gemacht. Da er unter alles hinabgestiegen ist, erfaßt er vollkommen und persönlich das menschliche Leid in all seinem Ausmaß (siehe LuB 122:8; 88:6). Ein altes Spiritual enthält eine besonders bewegende Zeile, die tiefe Einsicht ausdrückt: „Niemand kennt den Kummer, den ich gesehen habe, niemand außer Jesus.” (Siehe Alma 7:11.) Jesus war wahrlich eingehend „mit Krankheit vertraut” wie kein anderer (siehe Jesaja 53:3).

Indem wir nach besten Kräften am Leid und an den Krankheiten anderer Anteil nehmen, können auch wir unser Einfühlungsvermögen entwickeln - die für immer relevante und lebenswichtige Tugend. Wir können auch unsere Ergebenheit gegenüber dem Willen Gottes weiter entwickeln, so daß auch wir in unseren geringeren, jedoch wirklich quälenden Augenblicken sagen können: „Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen!” (Lukas 22:42.) Wenn diese Worte aus dem Herzen kommen, ist dieser Ausdruck des Gehorsams ein echtes Flehen, gefolgt von echter Ergebenheit. Das ist mehr als höfliche Ehrerbietung. Es ist vielmehr ein Unterwerfen, bei dem die augenblickliche Unsicherheit der Gewißheit von der rettenden Liebe und Gnade des Vaters weicht, Merkmale, von denen sein Plan des Glücklichseins erfüllt ist.

Auch wir können größere Sanftmut lernen, indem wir dem Vater mehr Ehre geben, statt mit unserem Verhalten Aufmerksamkeit zu heischen und eine arrogante Meinung von unserer Leistung zu pflegen, wie „Ich habe mir diesen Reichtum aus eigener Kraft und mit eigener Hand erworben” (Deuteronomium 8:17). Jesus, der bei weitem das meiste erreicht hat, war auch am ehesten froh, alle Ehre dem Vater zu geben. Leider lungern wir, auch wenn wir manchmal etwas auf den Altar legen, alle manchmal noch herum, als ob wir auf eine Empfangsbestätigung warteten.

Inmitten all dessen, was wir in diesem Leben lernen, müssen auch wir danach streben, das bis zum Ende auszuführen, was wir für den dritten und immerwährenden Stand vorhatten, der vor uns liegt - dank sei dem herrlichen Sühnopfer Jesu (siehe LuB 19:19). Dadurch können auch wir vollendet werden, nachdem wir schließlich unser vielfältiges persönliches Potential verwirklicht haben.

Es kann sein, daß auch wir, wenngleich in viel kleinerem Maß, den verstärkten interaktiven Schmerz von „Leib und Geist” - körperliche und geistige Qual - erleiden (siehe LuB 19:18). Wie grausam der physische Todeskampf Jesu am Kreuz auch gewesen sein mag, so war sein einzigartiges Leiden im Geist unermeßlich, als er unsere Sünden trug, um für sie zu sühnen, und unsere Krankheiten, um sie gemäß dem Fleische zu erfassen (siehe Alma 7:11,12.) Das Verstärken des Leidens kann zum Lernerfolg beitragen. Manchmal sind wir wie oberflächliche Studenten, die sich abseits halten und in eine Vorlesung gerade hineinhören. Dann kommt der Augenblick der Ernüchterung: Wir müssen plötzlich zur Prüfung antreten, und dann geht es um Bestehen oder Nichtbestehen!

Immer wieder erleben auch wir ein Maß an Ironie, diese harte Kruste auf dem Brot des Unglücks. Jesus stieß auf Ironie, als die Umstände ihn schmähten. So ist beispielsweise diese Erde sein Fußschemel, aber in Betlehem gab es keinen Platz in der Herberge und kein Bett im Raum, während „die Füchse ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester [haben]; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann” (Lukas 2:7; siehe auch Apostelgeschichte 7:49,50). Der Unschuldigste litt am meisten, als einige seiner Untertanen mit ihm taten, was sie wollten (siehe LuB 49:6.) Obwohl die Errettung nur durch ihn zustande kommt, lebte der Herr des Universums bescheiden als Mensch ohne Ansehen (siehe Philipper 2:7; Apostelgeschichte 4:12; 2 Nephi 25:20; Abraham 3:27). Christus war Mitschöpfer des Universums, aber im kleinen Galiläa galt er nur als „Sohn des Zimmermanns” (siehe Matthäus 13:55).

Wenn wir von geringerer Ironie getroffen werden, sind wir so zerbrechlich und vergessen dabei oft, daß einige Prüfungen an sich unfair sind, vor allem, wenn es sich um harte Ironie handelt.

Brüder und Schwestern, mit der großartigen und kostenlosen Gabe der umfassenden Auferstehung wird es auch uns ermöglicht, uns das ewige Leben zu erarbeiten. Auch wenn wir durch unsere Herausforderungen wachsen, indem wir rechtschaffen leben und ausharren, können wir in unseren Charakterzügen und Merkmalen letzten Endes Jesus ähnlicher werden, so daß wir eines Tages für immer und immer in der Gegenwart des Vaters leben können. Wenn wir jetzt so leben, wird dann unser „Vertrauen stark werden in der Gegenwart Gottes” (siehe LuB 121:45). Dementsprechend erklärte der Prophet Joseph Smith: „Wenn ihr dorthin gelangen wollt, wo Gott ist, müßt ihr so sein wie Gott oder die Prinzipien innehaben, die Gott innehat.” (Lehren des Propheten Joseph Smith, 221.)

Wieder einmal reichen unsere Erfahrungen nicht an die Erfahrungen Jesu heran, aber es gelten die gleichen Grundsätze und Vorgänge. Seine vollkommenen Eigenschaften sind ein Beispiel für das, was wir weiterentwickeln können. Es fehlt sicher nicht an relevanten Lebenserfahrungen, seien sie nun groß oder klein, oder? So eigenartig es scheinen mag, wir gehen j mit größeren Herausforderungen manchmal besser um als mit den immer wiederkehrenden kleinen. Beispielsweise sind wir manchmal mit unserem Ehepartner ungeduldig, während wir mit einer öffentlicheren Herausforderung ziemlich gut zurecht kommen. Man kann hierarchisch bedingte Demut üben: demütig nach oben, aber nicht nach unten. Es reicht nicht, daß wir uns in großen Prüfungen bewähren, aber in den kleinen versagen. Solche Mängel müssen wir in Ordnung bringen, wenn wir wirklich ernsthaft Christus ähnlicher werden wollen.

Solange wir täglich streben, werden wir Fehler machen. Darum ist es wichtig, daß wir uns nicht entmutigen lassen. Wo können wir also die oft und viel gebrauchte Kraft zum Durchhalten finden? Wieder einmal im herrlichen Sühnopfer. Dadurch können wir den Auftrieb erfahren, der sich aus der Vergebung ergibt.

Wenn wir das Sühnopfer anwenden, können wir noch weitere Gaben des Heiligen Geistes erlangen, und jede gibt uns Kraft zum Durchhalten. Der Heilige Geist hält seine Predigten von der Kanzel der Erinnerung aus. Er tröstet uns und gibt uns Gewißheit. Die Last, die er uns nicht abnimmt, hilft er uns tragen und versetzt uns damit in die Lage, als Jünger voller Freude Fortschritt zu machen, auch wenn wir Fehler begehen. Schließlich wünschen der Vater und der Sohn konsequent unser immerwährendes Glück, auch wenn der Widersacher ganz eindeutig unser anhaltendes Elend wünscht (siehe 2 Nephi 2:27).

Brüder und Schwestern, Christus hat für uns einen so gewaltigen Preis gezahlt, der uns so große Möglichkeiten eröffnet. Wollen wir dann nicht sein Sühnopfer anwenden, um den wesentlich kleineren Preis zu zahlen, der für unseren Fortschritt gefordert wird? (Siehe Mosia 4:2.) Im Zeugnis von Jesus tapfer zu sein bedeutet darum, daß wir auch in unseren Bemühungen, mehr wie er zu leben, tapfer sein müssen (siehe LuB 76:69). Wir können gewiß sein Reich nicht betreten, ohne seine errettenden heiligen Handlungen zu empfangen und die damit verbundenen Bündnisse zu halten, wir können aber auch nicht in sein Reich kommen, wenn wir nicht in ausreichendem Maße Nächstenliebe und andere wesentliche Eigenschaften entwickelt haben (siehe Ether 12:34). Ja, wir brauchen die wesentlichen heiligen Handlungen, aber wir brauchen auch die wesentlichen Eigenschaften. Schließlich singen wir: „Mehr Heiligkeit gib mir”, und bitten dabei: „Mehr, Heiland, wie du.” (Gesangbuch, Nr. 79.)

Wie können wir alle dabei besser sicherstellen, daß wir die kostbaren Segnungen Gottes empfangen können? Was mich betrifft, so habe ich den Wunsch, daß meine Segnungen, einschließlich des Aufschubs, neben meiner Dankbarkeit meine größere geistige Entwicklung bewirken. Ja, wir alle müssen den großen Segen sehen, aber wir müssen auch etwas daraus machen! Und da wir vor allem in Extremsituationen den Blick auf die Ewigkeit richten, sollten wir das eigentlich tun, wo immer wir uns in diesem kurzen sterblichen Leben befinden. Darum bete ich aufrichtig für mich und für Sie, im heiligen Namen Jesu Christi, amen.