1990–1999
Das königliche Gesetz
April 1992


Das königliche Gesetz

„Helfen, Geben, Opferbereitschaft sind so natürlich wie Wachsen und Atmen, oder sie sollten es zumindest sein.”

Im vierten Kapitel des Buches Alma gibt es eine Zeile, die mir sehr lieb ist und derer ich würdig sein möchte: „Doch verließ ihn der Geist des Herrn nicht.” (Alma 4:15.)

Nur wenige Meter von diesem wunderschönen Tabernakel entfernt, wo sich die Heiligen seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zur Konferenz versammeln, befindet sich ein Informationszentrum. In diesem Informationszentrum steht eine Christusstatue von Thorvaldsen, eine Kopie des Originals, das in Kopenhagen steht und in aller Welt als klassische Darstellung des Herrn Jesus Christus bekannt ist. Sie steht vor einem riesigen Fenster und ist von außen zu sehen. Im Sockel dieser Statue sind die dänischen Worte eingemeißelt: Kommer TU Mig, „kommt zu mir”.

Diese Einladung ist die Mission der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Wir wollen die Einladung aus der Schrift annehmen und auch unsere Mitmenschen dazu bewegen, daß sie sie annehmen, nämlich zu Christus zu kommen, „der der Heilige Israels ist, und an der Errettung durch ihn und an der Macht der Erlösung durch ihn” teilzuhaben (siehe Omni 1:26). Wir wissen, daß er „der Weg und die Wahrheit und das Leben” ist. Er hat gesagt: „Niemand kommt zum Vater außer durch mich.” (Johannes 14:6.)

Ich bezeuge, daß Jesus Christus der Sohn Gottes ist, der Einziggezeugte im Fleisch, der Gute Hirt, unser Vorbild, und daß er unser Fürsprecher beim Vater ist, unser Erlöser und Erretter.

Mit Johannes aus alter Zeit bezeugen wir, „daß der Vater den Sohn gesandt hat als den Retter der Welt” (l Johannes 4:14). Es freut uns, wie in seinem Leben Prinzip und Handeln Hand in Hand gehen. Der Herr hat die Richtlinien für die geistige Vervollkommnung aufgestellt und in vollkommener Weise praktiziert. Er konnte mit Vollmacht sagen, er sei das Licht und Vorbild, dem die Menschen nachfolgen sollen: „Ich habe euch ein Beispiel gesetzt. … Ich bin das Licht, das ihr hochhalten sollt - das, was ihr mich habt tun sehen.” (3 Nephi 18:16,24.)

Was er getan hat, lesen wir in dem hervorragenden Evangelium nach Matthäus: „Er zog in ganz Galiläa umher, lehrte in den Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich und heilte im Volk alle Krankheiten.” (Matthäus 4:23.) Matthäus berichtet auch, daß Jesus, als die letzten Ereignisse seines irdischen Wirkens bevorstanden, seinen Anhängern das Gleichnis von den Schafen und den Böcken erzählte - als Beispiel für das künftige Gericht -, in dem er klarstellte, wer „das ewige Leben” erlangen und wer „weggehen und die ewige Strafe erhalten” wird (siehe Matthäus 25:31-46). Der wesentliche Unterschied besteht darin, daß diejenigen, die mit ihm das Reich ererben sollen, es sich zur Gewohnheit gemacht haben, zu helfen, und daß sie erfahren haben, welche Freude das Geben bereitet und welche Befriedigung das Dienen verschafft - sie haben sich der Hungrigen, Durstigen, Obdachlosen, Nackten, Kranken und Gefangenen angenommen. Seine Worte, die tröstlichen Worte an diese Menschen, sind allgemein bekannt: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.” (Matthäus 25:40.) Denen dagegen, die zur „ewigen Strafe” verurteilt sind, macht er die traurige Ankündigung: „Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.” (Matthäus 25:45; Hervorh. v. Verf.)

Nichts ist wohl deutlicher als der hohe Wert, den der Herr dem selbstlosen Dienst am Mitmenschen beimißt. Er ist vom Verhalten eines Christen und von der Errettung nicht wegzudenken. Helfen, Geben, Opferbereitschaft sind so natürlich wie Wachsen und Atmen, oder sie sollten es zumindest sein.

Erst kürzlich bin ich auf eine bedeutsame Aussage gestoßen, die Präsident Clark vor fünfundfünfzig Jahren hier von dieser Stelle aus in bezug auf dieses Thema gemacht hat:

„Als Jesus Christus auf die Erde kam, hatte er zwei große Missionen: die eine bestand darin, daß er der Messias war und für den Fall sühnen und das Gesetz erfüllen sollte; die andere bestand in dem Werk, das er im Fleisch unter seinen Brüdern und Schwestern vollbracht hat, nämlich daß er ihr Leiden gelindert hat. … Er hat denen, die ihm in seiner Kirche nachfolgen, dies als Erbe hinterlassen, nämlich das Bemühen, die Menschen von Ungemach und Leid zu befreien und die geistigen Wahrheiten zu lehren, die uns in die Gegenwart des himmlischen Vaters zurückbringen sollen.” (J. Reuben Clark jun., Generalkonferenz, April 1937.)

Daß er der gottgesandte Messias war, ist für uns von allergrößter Bedeutung. Darum dreht sich das, was hier auf dieser Konferenz gesagt wird, darum drehen sich unsere Religion und unser Leben. Das Buch Mormon verkündet deutlich: „Denkt daran, daß ihr euren Grund auf dem Fels eures Erlösers - und das ist Christus, der Sohn Gottes legen müßt.” (Helaman 5:12.)

Jesus hat deutlich gelehrt, daß wir unbedingt das Unsere dazutun müssen, um die Möglichkeiten, die uns in Ewigkeit offenstehen, zu verwirklichen. Das Sühnopfer ist zwar eine freie Gabe, aber es erfordert, daß wir sie auf die Weise annehmen, die er vorgeschrieben hat. Johannes schreibt: „In jenen Tagen kam Jesus aus Nazaret in Galiläa und ließ sich von Johannes im Jordan taufen.” (Markus 1:9.) Die heilige Handlung wurde vom Geist bestätigt, und der Vater sprach aus dem Himmel: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe.” (Matthäus 3:17.) Zu Beginn seines irdischen Wirkens „begann Jesus zu verkünden: Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.” (Matthäus 4:17.) Zu dem Pharisäer Nikodemus sagte er:

„Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen.” (Johannes 3:5; siehe auch Vers 1-9.) Die heilige Schrift lehrt deutlich, daß zum Evangeliumsplan Christi mehr gehört, als meistens verkündet wird. Petrus und die anderen wußten sehr wohl darum. Den Menschen, die beim Pfingstfest zugegen waren, waren der Geist und das eindrucksvolle Zeugnis des Petrus ins Herz gedrungen, und sie fragten: „Was sollen wir tun, Brüder?” (Apostelgeschichte 2:37.)

Die Antwort des Petrus war deutlich und verständlich: „Kehrt um, und jeder von euch lasse sich auf den Namen Jesu Christi taufen zur Vergebung seiner Sünden; dann werdet ihr die Gabe des Heiligen Geistes empfangen.” (Apostelgeschichte 2:38.)

Präsident Clark hat im oben angeführten Zitat von der wesentlichen zweiten Mission Christi gesprochen, nämlich dem selbstlosen „Bemühen, die Menschen von Ungemach und Leid zu befreien”, von dem der Herr geagt hat, daß es für unser Bemühen um ewiges Leben genauso wichtig ist wie alle übrigen Aspekte seiner Botschaft. In der Bergpredigt und in allem, was er gesagt hat, hat er deutlich davon gesprochen, daß es ihm und dem Vater sehr wichtig ist, was für Menschen wir sind! Zum Abschluß der Bergpredigt hat er, wie Sie wissen, das Gleichnis von dem Haus, das auf Fels gebaut war, und von dem Haus, das auf Sand gebaut war, gesprochen (siehe Matthäus 7:24-27).

Jesus sprach häufig von dem alten Gesetz, dem sie unterstellt gewesen waren, und paßte dann dessen Lehren dem höheren und heiligeren Gesetz der Liebe an, das er unter den Kindern Gottes einführen sollte. Er war nicht mit den alten Verhaltensmaßregeln zufrieden, sondern er wollte, daß sich diejenigen, die ja das Salz der Erde, das Licht der Welt waren, zu höheren Ebenen aufschwangen als zu denen, die das alte Gesetz gefordert hatte: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: … Ich aber sage euch.” (Matthäus 5:21,22.) Er erklärte ihnen: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.” (Matthäus 5:20.)

Dann kam die direkte Frage: „Was tut ihr … Besonderes?” (Matthäus 5:47.) Seine Lehren legen dar, was für Menschen wir sein sollen, und zwar nicht nur in der Beziehung zum Allmächtigen, sondern auch in der Beziehung zu unserer Familie und zu unseren Mitmenschen und zu uns selbst.

Christus hat den Maßstab für unsere Verantwortung festgelegt, indem er dem Fragesteller antwortete, der nur auf Streit aus war und ihn fragte: „Welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?” (Matthäus 22:36.) Jesus erwiderte, Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen Gedanken zu lieben, sei „das wichtigste und erste Gebot” (Matthäus 22:38). Die Liebe zum Nächsten sei das zweite, aber genauso wichtige Gebot. Dann sagte er noch: „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.” (Matthäus 22:40.)

Der Apostel Jakobus hat das zweite große Gebot das „königliche Gesetz” genannt (Jakobus 2:8), und Paulus hat den Galatern erklärt: „Das ganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.” (Galater 5:14.) Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter beanwortet die nächste Frage des Gesetzesgelehrten, nämlich: „Und wer ist mein Nächster?” (Lukas 10:29.) Von dreien, die des Weges kamen, half nur der Samariter, und zwar weil er so war, wie er war. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, hilfsbereit zu sein, indem er beständig half, und darauf achtete, was jemand brauchte, und indem er darauf einging.

Auch in unserer schwierigen Zeit ist noch viel Menschlichkeit zu sehen. Wir sehen sie in der Hilfe, die in jeder Gemeinde und jedem Pfahl in der Kirche durch die Schwestern in der FHV, die JD und die Kinder, die Priestertumskollegien, die Heimlehrer und Besuchslehrerinnen und die Scouts geleistet wird, aber auch darin, daß jeder Missionar auf der ganzen Erde im Rahmen seiner Berufung dazu verpflichtet ist, regelmäßig im Gemeinwesen christlichen Dienst zu leisten. Wie sehen sie in der Arbeit unserer jungen Repräsentanten in den Flüchtlingslagern. Die Kirche selbst hilft örtlich und landesweit und international in großem Maßstab, und wir als Christen und christliche Familien bemühen uns, der Aufforderung des Himmels nachzukommen, nämlich untadelig vor Gott zu wandeln und einer dem anderen zu geben, zeitlich ebenso wie geistig, gemäß den Bedürfnissen und dem Bedarf (siehe Mosia 18:29).

Kurz vor seinem Tod hat Joseph Smith folgendes geschrieben: „Wir sollen die Hungrigen speisen, die Nackten kleiden, für die Witwe sorgen, die Tränen des Waisenkindes trocknen, die Bedrängten trösten, ob in dieser Kirche oder in irgendeiner anderen oder in gar keiner Kirche, wo immer wir sie finden.” (Times and Seasons, 16. März 1842, Seite 732.)

Wir hatten vor kurzem die Ehre, einen edlen, stillen Mann aus Mali in Westafrika, einen Ältesten der Kirche, als Gast in unserem Haus zu begrüßen. Er hat seinem Volk beigebracht, selbst Wasserbrunnen zu graben und mit dem Wasser Gärten zu bewässern, die gutes frisches Gemüse und Getreide produzieren, und das auf einem Boden, der bisher höchstens dürftige Hirseernten hervorbrachte. Auch Alphabetisierungs- und Gesundsheitsprogramme werden ins Leben gerufen.

Mir fallen noch viele weitere besondere Beispiele für die Kraft der Mission Christi ein. Ich will aber nur ein, zwei davon anführen. Vor ein paar Jahren durfte ich ein Gemeindehaus weihen, das die Kirche in der Leprakolonie Kalaupapa auf der Insel Molokai gebaut hat, die zu Hawaii gehört. Es war ein unvergeßliches Erlebnis, das mir sehr zu Herzen ging.

Der Chor, dem die meisten Mitglieder des Zweigs angehörten, sang ein Lied, das ein bewegender Höhepunkt war. Sie kamen etwas unbeholfen nach vorn, viele mußten sich dabei von anderen helfen lassen. Dort in dem hübschen Gemeindehaus stellten sie sich als Chor auf, wobei manche sich buchstäblich auf ihren Nachbarn stützen mußten. Den Anblick werde ich nicht so leicht vergessen. Viele waren blind, viele lahm. Sie stützten einander und sangen Gott Lob und Dankeslieder.

An dem Tag flössen in Kalaupapa viele Tränen.

Das Osterfest steht kurz bevor, und ich möchte Ihnen die rührende Geschichte von einem elfjährigen Jungen namens Philip erzählen, einem Kind mit Down-Syndrom, das zusammen mit acht weiteren Kindern in seiner Sonntagsschulklasse saß.

Am Ostersonntag brachte die Lehrerin für jedes Kind ein leeres Plastikei in die Kirche mit. Sie sollten nach draußen auf das Grundstück gehen und etwas in das Ei legen, das sie an die Bedeutung des Osterfestes erinnerte.

Alle kehrten freudig zurück. Die Eier wurden aufgemacht, und es gab Entzückensschreie, als der Reihe nach ein Schmetterling, ein Zweig, eine Blume, ein Grashalm zum Vorschein kamen. Dann wurde das letzte Ei geöffnet. Es gehörte Philip, und es war leer!

Ein paar der Kinder lachten Philip aus. „Aber, Schwester”, sagte er, „das Grab war doch leer.”

In dem Zeitungsartikel, in dem ein paar Monate darauf berichtet wurde, daß Philip gestorben war, stand, daß zum Schluß der Beerdigung acht Kinder nach vorn gekommen seien und auf den kleinen Sarg ein großes leeres Ei gelegt hätten. Daran sei ein Banner befestigt gewesen, auf dem gestanden habe: „Das Grab war leer.”

Gemeinsam mit Johannes aus alter Zeit bezeugen wir feierlich, „daß der Vater den Sohn gesandt hat als den Retter der Welt” (l Johannes 4:14) und daß seine heilige Mission unter anderem dem wichtigen Zweck diente, uns zu lehren, wie wir einander lieben und einander dienen sollen.

Ich danke Gott für den heiligen Erretter, für Christus, der voller Anteilnahme war. Im Namen Jesu Christi. Amen.