2015
Annas Reise
Juli 2015


Annas Reise

Die Verfasserin lebt in Arizona.

Diese Begebenheit trug sich im Mai 1889 zu.

Anna Matilda Anderson, ihre Mutter und ihre Schwester Ida drängten sich unter dem schwarzen Regenschirm zusammen. Aus dem Augenwinkel sah Anna den Zug herankommen. Sie erschauerte. Mit diesem Zug sollte sie Schweden verlassen. Hier begann ihre Reise nach Amerika.

„Seid brav und hört auf Elder Carlson“, flüsterte Annas Mutter auf Schwedisch. Sie drückte die Mädchen an sich. Elder Carlson war drei Jahre zuvor – damals war Anna acht Jahre alt gewesen – als Missionar nach Schweden gekommen. Er kam aus Idaho in den Vereinigten Staaten und kehrte nun zu seiner Familie zurück.

Als Mama beschlossen hatte, Anna und Ida nach Amerika zu schicken, weil sie in Schweden wegen ihres Glaubens verfolgt wurden, hatte Elder Carlson angeboten, auf sie aufzupassen. Nun stand er neben dem Zug. Er winkte die Mädchen zu sich. Ida umarmte ihre Mutter ganz fest und ging dann weiter, aber Anna blieb zurück.

„Ich hab dich lieb“, sagte Anna. „Du wirst mir fehlen.“

„Du wirst mir auch fehlen. Hör jetzt gut zu, Anna: Wenn du irgendwo hinkommst, wo du niemanden verstehen kannst, vergiss nicht, zum Vater im Himmel zu beten. Er versteht dich.“

Anna dachte noch über die Worte ihrer Mutter nach, als sie in den Zug stieg und sich zu Ida und Elder Carlson setzte. Eigentlich hatte sie sich ja auf ihre allererste Zugfahrt gefreut, aber jetzt war es ihr nur noch wichtig, einen letzten Blick auf ihre Mutter zu werfen. Der Zug war so hoch, dass sie die Gesichter der Leute draußen nicht sehen konnte, doch dann entdeckte sie den schwarzen Regenschirm, den ihre Mutter hoch über die Menge hielt. Anna musste lächeln. Es erinnerte sie daran, dass ihre Mutter auf sie achtgab.

Mit einer großen Rauchwolke setzte sich der Zug in Bewegung. Zuerst fuhr er so langsam, dass Mama nebenher laufen konnte. Der schwarze Regenschirm winkte Anna zu. Aber bald verschwand der schwarze Schirm aus ihrem Blickfeld. Anna lehnte sich gegen die Fensterscheibe und fragte sich, was wohl auf sie zukommen würde.

Einige Wochen später lehnte sich Anna gegen die Fensterscheibe eines anderen Zuges. Dieser Zug fuhr nach Salt Lake City. „Amerika sieht anders aus als Schweden, nicht wahr?“, sagte sie zu Ida.

„Ja“, erwiderte Ida leise auf Schwedisch. „Aber Amerika ist jetzt unser Zuhause, und wenn wir fleißig arbeiten, kann Mama auch hierherkommen.“

Sie hatten nicht genug Geld gehabt. Für eine Fahrkarte für Mama hatte es nicht gereicht. Eine Familie aus Ogden in Utah hatte Idas Überfahrt nach Amerika bezahlt. Dafür wollte Ida nun bei ihnen auf der Farm wohnen und arbeiten. Aber Anna sollte bei ihrer Tante in Salt Lake City wohnen. Annas Tante war schon ein paar Jahre zuvor nach Utah ausgewandert, und Mama hatte ihr geschrieben, dass Anna kommen werde.

Nach der ersten Zugfahrt waren sie mit dem Schiff über die Nordsee nach Dänemark gefahren. Von dort waren sie nach England und Irland gefahren, hatten dann den Atlantik überquert und waren schließlich in New York gelandet. Auf der 15-tägigen Reise war Anna fast die ganze Zeit seekrank gewesen. Deshalb war sie erleichtert, als sie in New York den Zug bestiegen, der sie nach Utah bringen sollte.

„Ogden, Utah!“, rief der Schaffner. Anna konnte kein Englisch, aber sie kannte den Namen der Stadt. Das Herz wurde ihr schwer. Noch schlimmer wurde es, als Elder Carlson aufstand und seine und Idas Tasche holte.

„Musst du wirklich gehen?“, fragte Anna ihre Schwester.

„Ja“, sagte Ida sanft. „Hab keine Angst, unsere Tante wird in Salt Lake City auf dich warten.“

Anna schaute zu, wie Ida und Elder Carlson seine Familie am Bahnhof begrüßten. Sie wollten Ida im Planwagen zu ihrem neuen Zuhause bringen und dann nach Idaho weiterfahren. Nun fühlte sich Anna wirklich einsam.

Der Zug ratterte durch die Nacht, bis er am Bahnhof von Salt Lake City stampfend zum Stillstand kam. Es war beinahe Mitternacht. Anna schnappte ihre Tasche und sprang auf den Bahnsteig. Mit müden Augen hielt sie nach ihrer Tante Ausschau.

Aber niemand wartete auf sie.

Anna bekam Angst. Noch einmal suchte sie mit den Augen den Bahnsteig ab, vielleicht hatte sie ihre Tante ja nur übersehen. Sie versuchte, das Dunkel zu durchdringen und im flackernden Schein der Gaslampen Gesichtszüge zu erkennen. Aber ihre Tante war nicht da.

Fremde kamen auf sie zu und stellten ihr Fragen. Bestimmt wollten sie ihr helfen, aber Anna konnte nicht verstehen, was sie sagten.

Noch nie hatte sie so große Angst gehabt, nicht einmal, als ihre Klassenkameraden in Schweden ihren neuen Glauben verspottet hatten. Auch nicht, als sie auf dem Schiff nach New York seekrank gewesen war. Nicht einmal, als sie sich von Mama verabschieden musste.

Anna schloss die Augen. Was hatte ihre Mutter gesagt? „Vergiss nicht, zum Vater im Himmel zu beten. Er versteht dich.“

Also kniete Anna neben ihrem Koffer auf dem Bahnsteig nieder und betete inniger als je zuvor. Sie bat den Vater im Himmel, ihr jemanden zu schicken, der Schwedisch sprach und sie verstand.

Als sie zu Ende gebetet hatte, sah sie auf. Es wartete noch immer niemand auf sie. Doch dann entdeckte sie eine deutsche Familie, die sie schon im Zug gesehen hatte. Die Mutter winkte Anna zu, sie solle ihnen folgen. Immer noch ein wenig schluchzend, nahm Anna ihre Tasche und trottete hinter ihnen her.

Sie folgte ihnen zum Südeingang des Tempelplatzes. Anna schaute in die Richtung, wo der wunderschöne neue Tempel stand. Dann hörte sie plötzlich Schritte rasch näher kommen. Eine Frau eilte auf sie zu. Sie schaute sich die Gruppe der Einwanderer genau an. Ihr Blick ruhte auf der deutschen Familie. Als sie Anna sah, hielt sie inne. Als Anna nach oben schaute, blieb die Frau stehen und starrte sie an. Anna starrte zurück. Sie schöpfte Hoffnung.

Anna kannte die Frau! Es war ihre Sonntagsschullehrerin, die vor einem Jahr nach Utah ausgewandert war! Sie kannte sie!

Die Lehrerin zog Anna in ihre Arme. Sie wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht und flüsterte auf Schwedisch: „Ich bin einfach immer wieder aufgewacht. In Gedanken habe ich immer wieder die ankommenden Einwanderer vor mir gesehen. Ich konnte nicht mehr einschlafen. Ich hatte die Eingebung, ich solle zum Tempel gehen und nachschauen, ob dort jemand ist, den ich kenne.“ Sie nahm Anna an der Hand und führte sie die Straße hinunter. „Komm mit mir.“

Später erfuhr Anna, dass ihre Tante und ihr Onkel aus Salt Lake City weggezogen waren und den Brief ihrer Mutter nicht erhalten hatten. Ihre Lehrerin sandte ihnen eine Nachricht, und vier Tage später waren sie da, um Anna abzuholen. Nach einiger Zeit konnten Ida und Anna auch ihre Mutter nach Amerika holen.

Aber im Moment war das nicht von Bedeutung. Auf dem Weg zum Haus ihrer Lehrerin dachte Anna: „Der Vater im Himmel hat mein Gebet nicht nur erhört, er hat noch mehr gemacht. Ich habe ihn nur darum gebeten, mir jemanden zu schicken, der mich versteht, und er hat mir jemanden geschickt, den ich kenne.“

Illustrationen von Shawna J. C. Tenney