2010
Wie Berge entstehen
Januar 2010


Wie Berge entstehen

Das Gleichnis vom Bergführer und das Gleichnis vom Berg

Als Dolmetscher und Fremdenführer im Yushan-Nationalpark in Taiwan erhält Chén Yù Chuàn (Richard) oft den Auftrag, wichtige Besucher durch den Park zu begleiten. Wenn er seine Gäste fragt, was sie gerne sehen möchten, wollen sie meist zur Spitze des Yushan (Jadeberg), den mit 3.952 Meter höchsten Gipfel Nordost-Asiens.

Richard ist leidenschaftlicher Naturfreund und liebt die Schönheit und Erhabenheit der Berge. Aber durch Erfahrung hat er etwas Wichtiges gelernt, und das möchte er auch den Besuchern bewusst machen: Die spektakuläre Aussicht von weit oben weiß man erst dann wirklich zu schätzen, wenn man erfahren hat, was unten liegt.

Der Besuch des Gipfels mit seinen von Menschen geschaffenen Pfaden und der herrlichen Aussicht ist eine großartige Erfahrung. Richard aber findet, dass es auch unten in den schwerer zugänglichen steilwandigen Flusstälern und Schluchten, die voll verborgener Schönheit sind, viel zu lernen und zu entdecken gibt.

„Um die Höhe zu schätzen, muss man erst erlebt haben, wie es ganz unten ist“, meint er. „Man weiß das Ende nur zu schätzen, wenn man das Ganze versteht.“

Manche Besucher lassen sich überzeugen. Die meisten wollen es jedoch einfach nur zum Gipfel schaffen – und das auf dem leichtesten Weg.

Richard erkennt eine geistige Symbolik in ihrer Einstellung. Für ihn ist der Gipfel aller Lebenserfahrungen, in Gottes Gegenwart zurückkehren zu können (siehe Alma 12:24). Doch während viele den Wert dieses Ziels klar erkennen, begreift so mancher nicht, dass wir, um bei Gott zu sein, wie er werden müssen (siehe 1 Johannes 3:2; 3 Nephi 27:27; Moroni 7:48). Und zu diesem Gipfel gibt es keinen schnellen und einfachen Pfad.

Der wahre Weg

Richard möchte Besucher nicht nur auf einen Spaziergang mitnehmen; er will, dass es ein Erlebnis für sie wird. Aber wie viel er ihnen weitergeben kann, ist von ihrer Lernbereitschaft abhängig.

„Diejenigen, die Natur erleben möchten, kann ich an Orte führen, die andere kaum zu Gesicht bekommen“, erklärt er. „Die Erfahrung, die sie machen, kostet mehr Mühe, geht aber viel tiefer.“

Richard findet, dass es im Leben genauso ist. Seine persönlichen Erfahrungen geben diesem Prinzip Recht. Während seines Studiums begab sich Richard auf die Suche nach dem wahren Sinn im Leben. Er besuchte eine ganze Reihe Kirchen, ohne zu finden, was er suchte – bis er den Missionaren begegnete.

Seine Eltern waren jedoch sehr dagegen, dass er sich der Kirche anschloss. Sie waren besorgt darüber, dass sich ihr einziger Sohn von ihrem Glauben abwandte. Sie machten sich auch Sorgen darüber, was aus ihnen werden würde. In ihrer Kultur glauben viele, dass ihr Stand im Jenseits stark von der Verehrung abhängt, die ihre lebenden Nachfahren ihnen erweisen.

Die Ablehnung seiner Eltern machte Richard zu schaffen, doch er hatte ein Zeugnis vom Erlöser erlangt und wusste, dass er ihm folgen musste.

„Jesus Christus ist der Weg“, meint Richard. „Er führt uns zurück zum Vater.“ (Vgl. Johannes 14:6.)

Er entschied sich dafür, dem Heiland zu folgen und sich taufen zu lassen – im Vertrauen darauf, dass der Herr ihn auf dem rechten Pfad führen würde, auch wenn dieser schwerer aussah.

Eine Woche nach seiner Taufe erhielt er eine gute Stelle als Nachrichtensprecher im Radio, und zwar bei der größten Rundfunkanstalt Taiwans. Seine Eltern waren darüber sehr erfreut, und nachdem sie auch positive Veränderungen an ihm wahrnahmen, beruhigten sich ihre Gemüter allmählich. Auch Richards Glaube wurde dadurch gestärkt, und er lernte etwas Wichtiges.

„Wenn wir Jesus Christus nicht nachfolgen“, erklärt er, „entgehen uns sehr viele wichtige Erfahrungen, die wir aber brauchen.“ Diese Erfahrungen verlangen uns vielleicht mehr ab, sind aber zu unserem Wohl notwendig (siehe 2 Nephi 2:2; LuB 122:7).

Wie ein Berg entsteht

Niemandem, der Richard durch seine geliebten Schluchten und Täler folgt, wird verborgen bleiben, dass die Berge und die schroffe Ostküste Taiwans durch den Zusammenprall zweier Platten in der Erdkruste entstanden sind. Die Hitze und der Druck, aufgebaut durch gewaltige Kräfte, waren so hoch, dass Sedimentschichten zuerst in Kalkstein und dann in den Marmor verwandelt wurden, für den die Ostküste so berühmt ist. Dieselbe unsichtbare Macht erschüttert die Erde, schmirgelt sie glatt, staucht sie zusammen und lässt schließlich Gebirgsketten gen Himmel aufsteigen.

Sei es nun im Yushan- oder im Taroko-Nationalpark, wo Richard zuvor gearbeitet hat: Richard macht mit Vorliebe auf Beweise aufmerksam, die belegen, wie die Naturkräfte Taiwan von Grund auf geformt haben.

„Es gibt Wellenmuster auf dem höchsten Felsen, und es gibt Meeresfossilien und andere Beweise dafür, dass das, was heute ganz oben liegt, früher ganz unten war“, erklärt er. „Wenn man den Gipfel verstehen möchte, muss man die Tiefe verstehen, denn dort hat der Gipfel seinen Ursprung.“

Richard hält dies für sehr wichtig, weil es dem Sinn des Lebens gleicht. In schweren Zeiten hat man leicht das Gefühl, als sei man nicht auf dem Berg, sondern sei der Berg selbst – Kräften und Belastungen ausgeliefert, die einen formen und gen Himmel schieben, wenn man sie mit Geduld und Glauben erträgt (vgl. Mosia 23:21,22; LuB 121:7,8).

Wie man zu einem Berg wird

Aus eigener Erfahrung hat Richard gelernt, dass man sich nicht aus der Welt erheben und sein volles Potenzial ausschöpfen kann, ohne unangenehme, manchmal schmerzliche Erfahrungen zu machen.

Als Radioreporter stand er bei der Arbeit unter enormem Druck, weil er innerhalb knapper Fristen breit gefächerte Themen behandeln musste. Er merkte schnell, dass ein geselliger Umtrunk für viele Reporter ein wichtiges Mittel zur Informationsbeschaffung war. Die Arbeit wurde immer schwieriger, weil er es ablehnte, mitzutrinken.

Der Gedanke, eine neue Arbeit zu suchen, befreite ihn ein wenig von seinem Gewissenskonflikt, nicht aber von seinen Problemen. Seine Arbeit beim Radio hatte dazu beigetragen, seine Eltern friedlich zu stimmen, nachdem er sich der Kirche angeschlossen hatte. Und als er nun die gut bezahlte, prestigeträchtige Vollzeitstelle für einen Teilzeitvertrag als Fremdenführer aufgab, waren seine Eltern eine Zeit lang enttäuscht.

Er hatte sich einen weiteren schwierigen Pfad ausgesucht, aber er bereute es nicht, weil er wusste: Um in der Höhe erhöht zu werden (siehe LuB 121:7,8), müssen wir zuerst die Tiefen erleben (vgl. LuB 122:5-7).

„Manchmal schränken wir selbst ein, was Gott aus uns machen kann, weil wir neben dem Guten nichts Schlechtes erleben wollen“, bemerkt er.

Richard folgte dem Herrn, und das führte ihn zu einer Arbeit, die ihm Freude macht. Es führte ihn auf eine Mission. Es brachte ihn mit seiner zukünftigen Frau zusammen, mit der er vier wunderbare Kinder hat. Trotz der Prüfungen blieben die Segnungen nie aus.

Wenn die Nachfolge Jesu auf dem Weg zu ihm, „der in der Höhe wohnt“ (LuB 1:1) durch den „Pfad der Niederung“ (2 Nephi 4:32) und gar die „[finstere] Schlucht“ (Psalm 23:4) führt, findet Richard Trost in der Verheißung, dass „die Worte von Christus, wenn wir ihrem Weg folgen, uns über dieses Tal der Trauer hinaus in ein weit besseres Land der Verheißung führen“ (Alma 37:45). Dies bestätigt ihm einmal mehr, dass man nur bereit ist, den Gipfel wirklich zu genießen, wenn man die Herausforderungen des Lebens bewältigt hat.

„Um den Gipfel schätzen zu wissen, muss man die Täler erlebt haben“, meint Richard Chén (links, am Baiyang-Wasserfall im Taroko-Nationalpark). Bruder Chén ist Fremdenführer im Yushan-Nationalpark, wo auch der Jadeberg liegt (oben).

Wer Bruder Chén durch die Täler folgt, erfährt mehr über die gewaltigen geologischen Kräfte, die Berge entstehen lassen – ein Vorgang, der der Läuterung gleicht, die man für die Rückkehr in Gottes Gegenwart durchlaufen muss. Oben: Richard betrachtet den Zufluss zum Fluss Liwu. Rechts: Die gewundenen Marmorwände im „Geheimnisvollen Tal“ sind ein Beweis für die gewaltigen geologischen Kräfte.

Taiwan

Taipeh

Yushan-Nationalpark

Fotos von Adam C. Olson, falls nicht anders angegeben; rechts: Foto des Jadebergs © Fotosearch